Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas

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Nicht nur den orthodoxen Christen, sondern auch den Moslems gegenüber verhielten sich die Kreuzritter nicht so, wie man es von Christen hätte erwarten können, welche auszogen, um durch die Kreuzzugsidee (angeblich) Gott zu dienen. Es gab allerdings auf ‘westlicher’ Seite wahrhaft fromme Christen, welche der Idee der Kreuzzüge sehr skeptisch gegenüberstanden. Dazu gehörte Gerhoh von Reichersberg, der Propst des Augustinerchorherrenstifts von Reichersberg am Inn. Er machte aus seiner Auffassung, dass der 2. Kreuzzug (1147-1149) – wie auch alle anderen Kreuzzüge – „von der Habsucht eingegeben“ war153, kein Hehl. Die Pervertierung der Kreuzzugsidee hatte beim 2. Kreuzzug noch lange nicht ihren ‘Höhepunkt’ erreicht.
Mit der aggressiven Politik der europäischen Staaten gegenüber den islamischen Staaten des Vorderen Orients im Rahmen der Kreuzzüge korrespondierte die Politik der spanischen Könige (Kastilien, Aragon etc.) auf der iberischen Halbinsel. Die tieferen Ursachen, die in Spanien zum Rückfall in religiöse Intoleranz gegenüber dem Islam führten, bleiben uns weitestgehend verborgen. Die Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen im Rahmen der Reconquista auf der iberischen Halbinsel war keine Auseinandersetzung zwischen den spanischen Königen und den Arabern, sondern zwischen den spanischen Königen und den nordafrikanischen Stämmen, vor allem den Berbern, wie Peter Altmann in seiner Frankfurter Magisterarbeit nachwies.154
Die Berber155, welche bei der islamischen Eroberung, Erschließung und Beherrschung von Iberien eine große Rolle spielten156, waren in Nordwestafrika, bevor der Islam kam, bis ins 8. Jahrhundert hinein Christen. Noch gibt es in Marokko nicht nur eine jüdische, sondern auch eine christliche Minderheit. Noch heute treten Muslime in Marokko geheim zum Christentum über. Im Gegensatz zum sephardischen Judentum in Marokko wird aber die „unsichtbare Kirche“ nicht offiziell vom Staat anerkannt, sondern nur toleriert.157 Das spricht nicht gerade dafür, dass der Islam wirklich so attraktiv war, wie er selbst von europäischen Universitätswissenschaftlern, nicht zuletzt für den osmanischen Balkan, gerne dargestellt wird.
Angesichts der großen Attraktivität des Islams für viele Christen auf dem Balkan, auf welche der französische Historiker Fernand Braudel158 verweist, wundert man sich über die negative Bewertung des Islam in dem Dialog, den der byzantinische Kaiser Manuel II. Paläologos im Jahre 1391 mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam geführt haben soll. Papst Benedikt XVI. hat diesen christlich-islamischen Dialog in seiner berühmten Regensburger Vorlesung im September 2006 erörtert, dabei aber auch die Einseitigkeit des Standpunktes des orthodoxen byzantinischen Kaisers ziemlich unreflektiert im Raum stehen lassen. Diese Vorlesung des Papstes ist von so zentraler Bedeutung für die künftige Perspektive einer europäischen Kultur, dass die den christlich-islamischen Dialog betreffenden Aussagen hier wörtlich wiedergegeben werden:
„In der von Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde159 kommt der Kaiser auf den Dschihad, den Heiligen Krieg160, zu sprechen. Dieser wusste sicher, dass in Sure 2,256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen – es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den heiligen Krieg bei den Moslems. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von ‘Schriftbesitzern’ und ‘Ungläubigen’ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: ‘Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.’161 Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. ‘Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann’.“162
Mit den Aussagen seiner oben zitierten Regensburger Vorlesung ging es Papst Benedikt XVI. vor allem darum, zu zeigen, dass die christliche Lehre im Einklang stehe mit den Idealen der griechischen Philosophie und dem daraus abgeleiteten Logos, den er – mit deutlicher Anspielung auf die europäische Aufklärung – mit dem Wort „Vernunft“ wiedergibt. Die Aussagen von Kaiser Manuel II. (und die Argumentation von Papst Benedikt XVI.) erweisen sich jedoch als einseitig, wenn man die militante Praxis vor allem der westlichen Christen (Kreuzzüge) verkennt und die nachfolgende Stellungnahme des Moslems Mudarris, des Gesprächspartners von Kaiser Manuel, unbeachtet lässt. Mudarris ist kein Feind des Christentums, er gibt sogar zu, dass „das Gesetz Christi schön und gut und viel besser ist als das alte Gesetz“ [des Alten Testamentes]. Er lässt aber keinen Zweifel daran, „dass mein Gesetz [des Islam] den beiden anderen überlegen ist.“ Das Gesetz des Mahomet (Mohammed) stellt für ihn einen Mittelweg dar, der „realisierbare Vorschriften“ garantiere. Das islamische Gesetz sei „in allen Punkten gemäßigt und schaltet die anderen Gesetze aus“163, mache sie also überflüssig, da es den Gegebenheiten der menschlichen Natur mehr Rechnung trage als die Gesetze des Alten und Neuen Testamentes. Mudarris erläutert diesen islamischen Mittelweg an konkreten Beispielen, z.B. in einer Stellungnahme zur christlichen Feindesliebe.
Im Gegensatz zum Islam verwundert die starke Fundierung des von Kaiser Manuel II. vertretenen Christentums auf den Säulen der antiken griechischhellenistischen Philosophie. Weitgehend unerwähnt bleibt sowohl bei ihm als auch bei Benedikt XVI. die alttestamentarisch-jüdische Basis, ein Sachverhalt, der noch zu hinterfragen wäre, hier jedoch sekundär ist. Besonders hervorhebenswert an der Rede von Papst Benedikt XVI. sind für mich die Einseitigkeit der Betrachtungsweise und die Nichtberücksichtigung byzantinischer (und selbst westlicher) Quellen, welche sich positiv zum Islam äußern. In diesem Zusammenhang hätte nicht unterschlagen werden dürfen, dass es in der byzantinischen Kultur des späten Mittelalters eine „byzantinische Polemik gegen den Islam“164 gegeben hat. Es gibt immerhin 26 islamisch-christliche Kontroversen, wobei es problematisch ist, sich auf die Aussagen einer Kontroverse, nämlich der Kontroverse Nr. 7, isoliert von den anderen 25 Kontroversen zu berufen. Die letzte Kontroverse (Nr. 26) gilt übrigens dem Sakrament der Eucharistie.165
In der 7. Kontroverse stellt also Kaiser Manuel II. der Gewaltbereitschaft des Islam166 stillschweigend die auf der griechisch-hellenistischen Logos-Philosophie beruhende christliche Toleranz gegenüber. Auf der einen Seite also die islamische Gewaltanwendung, auf der anderen Seite die auf der göttlichen Vernunft (Gott als die Inkarnation der Vernunft) aufbauende christliche Lehre. Diese überwiegend philosophische Sicht verkennt aber geradezu paradox die historische Entwicklung von Islam und Christentum und die Dimension der praktischen Toleranz im historischen Ablauf. Unerwähnt bleibt, dass auf der einen Seite die islamischen Eroberer in Iberien und auf dem Balkan die Religionsausübung der Christen im praktischen Leben weitestgehend tolerierten167, doch diese steuerlich stärker belasteten als die Moslems, auf der anderen Seite Papst, Bischöfe und führende Christen in unheiliger Kooperation mit den weltlichen Mächten nicht zuletzt seit dem Hohen Mittelalter massive Gewalt anwandten gegen christliche Abweichler wie Waldenser, Albigenser (mit den Katharern identisch), Templer, Hexen etc. und auch vor Zwangsmissionierung (z.B. in Südamerika), Raub, Folter und Verbrennung nicht zurückschreckten. Christliche Intoleranz nahm vor allem seit dem späten Mittelalter immer skurrilere Formen an, nicht zuletzt gegen die Juden. Der historischen Wahrheit zuliebe muss festgehalten werden, dass auch innerhalb des Christentums die Aggressionen der christlichen Staaten massiv zunahmen und die Kriege, welche christliche Staaten, nicht zuletzt seit der Reformation, gegeneinander führten, immer grausamer wurden. Vom griechischen Logos war in der politischen und militärischen Praxis der christlichen europäischen Staaten keine Rede, wohl nicht einmal in den theologischen Vorlesungen der immer zahlreicher werdenden europäischen Universitäten. Toleranz galt den Gläubigen der christlichen Konfessionen sogar als absolut negativ und verwerflich. „Alle Formen von Toleranz und Kompromissbereitschaft galten als Gefährdung des eigenen Seelenheils und als Verrat an der für allein richtig eingestuften Wahrheit. Diese Überzeugung erklärt den oft unbarmherzigen Umgang mit Andersglaubenden ebenso wie die erstaunliche Leidensbereitschaft einzelner oder auch ganzer Gruppen. Dass Pastoren mit ihren Familien oft mehrere Male vertrieben wurden, war keine Seltenheit.“ 168 Christliche Intoleranz gab es nicht nur gegen die Mitglieder anderer christlicher Konfessionen, sondern auch gegenüber Juden und Moslems. Auch die Politik christlicher Staaten gegen orthodoxe und muslimische Staaten war in der Regel nicht von christlichen Grundsätzen getragen.
In der Balkanpolitik der Habsburger Monarchie basieren die politischen Ziele nicht unbedingt auf christlichem Gedankengut. Aus der Sicht der religiösen Toleranz darf man dabei nicht verkennen, dass die christliche Gegenoffensive auf dem Balkan unter Habsburgs Führung nach der Niederlage der Osmanen vor Wien (1683) nicht Ausdruck einer wahren christlichen Gesinnung, sondern in erster Linie eine Gelegenheit zu einer Expansion der habsburgischen Macht nach dem Osten und Südosten bis in das 19. Jahrhundert hinein war. In diesem Sinne war die habsburgische Balkanpolitik den nichtchristlichen Religionen gegenüber in devotem Opportunismus auf keinen Fall toleranter als die osmanische, wie auch aus dem Roman „Die Brücke über die Drina“ von Ivo Andric hervorgeht.
Wenn man die Zeichen der Zeit richtig zu deuten weiß, stellt man fest, dass in den letzten Jahrzehnten im Islam und weltweit eine Radikalisierung und Fundamentalisierung – welche an die Konfessionspolitik der christlichen Staaten in der Frühen Neuzeit erinnert – stattgefunden haben. Diese muslimische Radikalisierung und Fundamentalisierung richten sich nicht nur gegen ‘christliche’ Staaten und Christen in den islamischen Staaten, z.B. im Irak und Ägypten, sondern auch gegen andere muslimische Gemeinschaften. Es sei nur an die massiven Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten im Irak erinnert.
Die religiöse Toleranz der Moslems den Christen gegenüber ist in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen. Selbst in der Türkei werden trotz gegenteiliger Behauptungen immer noch Christen wegen ihres Glaubens ausgegrenzt und schikaniert. Vor allem die nicht als Minderheit anerkannten aramäischen Christen haben in der Türkei einen schweren Stand. Das Kloster Mor Gabriel, „geistliches Zentrum der [aramäischen] Christengemeinschaft“, wird seit Jahren mit einer Prozessflut überzogen. Mit dieser „Einschüchterungskampagne“ soll erreicht werden, dass die „letzten Aramäer“ das laut Verfassung in Religionsfragen angeblich tolerante Land verlassen. Während in den 60er Jahren noch 200.000 aramäische Christen in der Türkei lebten, sind es heute „vielleicht 2000“. Die europäischen Bürokraten belieben solche Menschenrechtsverletzungen in befreundeten Staaten gerne zu übersehen, auch die europäische Presse zeigt wenig Interesse am Schicksal der aramäischen Christen in islamischen Staaten. Auch die deutsche Politik setzt sich nicht für mehr Toleranz gegenüber den aramäischen Christen in den islamischen Staaten ein, sondern fördert deren Auswanderung in die EU-Staaten. Man bevorzugt also in falsch verstandener Toleranz den Weg des geringeren Widerstands. Von einer wirklichen Religionsfreiheit ist die Türkei im Vergleich zu den sog. westlichen Staaten noch weit entfernt.169 Es geht also beim Papstbesuch und überhaupt bei der Kooperation von Christen und Moslems um weit mehr als nur darum, „die Missverständnisse zwischen Muslimen und Christen auszuräumen“, um einen Ausspruch des türkischen Außenministers Abdullah Gül vom November 2006 zitieren.
Im Mai 2008 beklagte Ishak Alaton, Chef der Alarko-Holding, einer der bekanntesten Geschäftsleute in der Türkei, in einem offenen Brief an die türkische Wirtschaftszeitung ‘Refrans’ „eine wachsende ‘Paranoia’ in der Türkei gegenüber den Minderheiten.“ Dabei übte er auch Kritik an einem Verfassungsgerichtsurteil, „mit dem der Immobilienverkauf an Ausländer gestoppt worden war.“ Diese „ultranationalistischen Entwicklungen“ führen nach Auffassung von Alaton „zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“. Dieser Nationalismus richte sich gegen alle, „die nicht sunnitische Muslime sind“. Von einem speziellen Antisemitismus in der Türkei nahm Alaton die Regierung Erdogan und die Regierungspartei AKP jedoch „ausdrücklich“ aus. Träger dieser nationalistischen Fremdenfeindlichkeit seien „vielmehr die Bürokratie und die Medien“, welche mit dem Appell an niedere Instinkte Geschäfte machen.170
Erschwerend für die christlich-islamischen Beziehungen, auch in der Türkei, kommt in der Gegenwart noch hinzu, dass die von Christen und Moslems praktizierten Wertvorstellungen, auch für die Türkei zutreffend, zunehmend auseinanderdriften. In den christlichen Staaten von Europa und USA geht der Stellenwert der Familie immer mehr zurück. Im Islam ist die Frau das Symbol für den Zusammenhalt der Familie und zuständig für die Aufzucht, Erziehung und Sozialisation der Kinder. Für orthodoxe Moslems ist die von Gott geschaffene Familie nicht vereinbar mit der an westlichen Vorstellungen orientierten Emanzipation. Gläubige Moslems vermissen im westlichen System den Gemeinschafts- und Familienbezug, der für den Islam unverzichtbar ist. Moslems können mit dem westlichen Geist des Individualismus, einem Produkt der europäischen Aufklärung, nichts anfangen. Es fehlen ihnen zum Verständnis der Emanzipation auch die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Denn die geistes- und religionsgeschichtliche Entwicklung im Islam ist völlig anders verlaufen.
Wie für die orthodoxen Juden sind auch die im Westen immer mehr um sich greifenden Formen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, Rumpffamilien allein erziehender Mütter oder Väter und andere vergleichbare reduzierte Lebensformen für den Moslem nicht tragbar. Anders als in den westlichen Staaten, wo die „Würde des Menschen“ zwar noch in den Verfassungen steht, aber nicht wirklich die Gesellschaft prägt, wird im Islam die menschliche Würde, z.B. auch in Gestalt der Gastfreundschaft, respektiert, vorausgesetzt dass man kein Jude ist! Die Gastfreundschaft ist in den islamischen Staaten noch immer sehr ausgeprägt. Das wird auch durch das Islam-Handbuch von Dumont bestätigt: „Einen reisenden Fremdling als Gast aufzunehmen, galt als vornehme Pflicht. Für ihn auch die letzten Nahrungsreserven zu mobilisieren und eventuell das letzte Kamel zu schlachten galt als selbstverständliche Norm.“171 Der Koran verlangt nicht nur wie das Alte Testament eine Respektierung von Witwen und Waisen, sondern auch ein großzügiges Verhalten den Reisenden und Fremden gegenüber. Das hat dann dazu geführt, „dass sich in den islamischen Gesellschaften zahlreiche Einrichtungen entwickelt haben, die zur Unterstützung und Versorgung von Reisenden dienen“. Es wurden sogar „Fromme Stiftungen“ ausschließlich für diesen Zweck gegründet. In diese Stiftungen flossen nicht primär Geld, sondern u.a. „die Erträge aus Landgütern und Gärten, aus der Verpachtung von Ladengeschäften und Mühlen“.172 Allerdings wollen auch die islamischen Gastgeber vom Gast respektiert werden. Muslime achten weitaus mehr als die Christen auf ihre Ehre. Sie steht im islamischen Wertekatalog ganz weit vorne.
Die eigene Ehre, welche einst auch in der vorindustriellen feudalistischen Gesellschaft, z.B. im Zunftwesen, der westeuropäischen Staaten eine leitende gesellschaftliche Idee war, hat in den meisten islamischen Staaten oft einen höheren Stellenwert als das fremde Leben. Für viele Moslems wäre ein Leben in Schande schlimmer als der Tod. Dieser ungeschriebene Ehrenkodex wirkt natürlich auch massiv in das Privatleben der Menschen, nicht zuletzt der Mädchen und Frauen, hinein. In diesem Sinne verletzt eine Frau, die sexuelle Kontakte vor der Ehe pflegt, nicht nur ihre eigene, sondern auch die Ehre ihrer Familie und sogar der sozialen Gruppe, der sie angehört. Liebe und Ehe sind bei vielen Muslimen noch immer keine Privatsache. Junge Leute wohnen vor der Eheschließung nicht zusammen und haben auch keine sexuellen Kontakte. Diesen strengen Ehrenkodex behalten viele Moslems auch in ihren europäischen Gastländern bei, dabei kommt es auch zu sog. Ehrenmorden: Der Vater tötet seine Tochter bzw. der Bruder seine Schwester, die sich vor der Ehe sexuell mit einem Nichtmoslem eingelassen hat und mit diesem unter einem Dach lebt, oder eine orthodox-türkische Familie schließt einen Sohn aus dem Familienverband aus, weil er eine christliche Frau geheiratet hat und zum Christentum übergetreten ist. Die Zerstörung des religiösen Bandes ist für gläubige islamische Familien auch ein Zerreißen der sozialen Zusammengehörigkeit. Ernstzunehmende Islamforscher vertreten allerdings die Auffassung, dass Zwangsheiraten, welche mit den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes (wie auch anderer europäischer Verfassungen) unvereinbar sind, und Selbstmordattentate dem Geist und Buchstaben des Korans widersprechen.
Man kann den Vergleich zwischen dem orientalischen Islam und dem westlichen ‘Christentum’ auf einen knappen Nenner bringen: Hier eine extreme, vielfach überbordende Strapazierung des Individualismus mit der wachsenden Verherrlichung des sog. Single-Daseins und zunehmende Vereinsamung und Entfamilialisierung nicht zuletzt alter Menschen mit steigender Selbstmordrate, dort im Islam weitaus mehr ein Leben in der Gemeinschaft und in Sippschaften und Großfamilien. Der einzelne zählt hier wenig, die Sippe als Großfamilie ist (fast) alles. Die starke gegenseitige soziale Kontrolle wird aber, abweichend von unserer Mentalität, nicht als Verlust, sondern von den meisten Mitgliedern eher als ein Gewinn an persönlicher Freiheit empfunden. Der Islam hat zudem einen anderen Begriff von Freiheit. Diese kommt allerdings den meisten Frauen in den meisten muslimischen Staaten immer noch viel zu wenig zugute.
Die Glaubwürdigkeit der Quellen der Antike
Römische Quellen
Die Forscher waren im Mittelalter und noch weit bis in die Neuzeit hinein völlig auf die Geschichte des oströmischen Byzanz fixiert, aber auch hier nicht real, sondern mehr mythisch wie in der Alexandersage, welche mit den uns überlieferten Quellen nicht übereinstimmt. Dazu passt auch sehr gut die Tatsache, dass das mittelalterliche Europa kaum Kenntnis von der griechischen Sprache und Geschichte hatte. Doch auch in den uns überlieferten Texten des Neuen Testamentes, die ja immerhin in der Zeit der hellenistischen Kultur geschrieben sein sollen, hört man überhaupt nichts über die alten Griechen173 und kaum etwas über die Römer.174 Zahlreiche mittelalterliche Geschichtsschreiber und Chronisten, welche die ihrer Gegenwart vorausgehende Zeit behandeln, berichten nichts von der griechisch-römischen Antike, von der Geschichte Ägyptens und Mesopotamiens ganz zu schweigen. Ein österreichischer Chronist des ausgehenden 14. Jahrhunderts aus dem Kreis um Herzog Albrecht III. – es handelt sich wohl um Gregor Hagen – „bringt die Entstehung Österreichs mit der jüdischen Geschichte des Alten Testamentes“175 in unmittelbare Verbindung. Bei der Beurteilung dieser erstaunlichen Nähe der frühen österreichischen Historiographie und des österreichischen Herrschaftssystems, das ja in Hagens Geschichtswerk seinen Niederschlag findet, zum Alten Testament kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt dieser Verbundenheit an, sondern darauf, dass mittelalterliche Chronisten wie Gregor Hagen ihre Frühgeschichte mit dem Alten Testament beginnen, nicht jedoch mit der uns heute bekannten antiken Geschichte der Ägypter, Mesopotamier, Griechen und Römer. Die auf Hagen folgende „Österreichische Chronik“ des Thomas Ebendorfer (deren Originalhandschrift um 1450 herum nicht mehr erhalten ist) „enthält die Darstellung der heidnischen Vorzeit“ in einer recht nebulosen Form. Die „Zeit von den christlichen Anfängen bis zu den Habsburgern“176 ist dagegen schon plastischer und greifbarer. Die klassische Antike war für ihn jedoch noch ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln und ihm erstaunlicherweise völlig unbekannt! Daraus kann man folgern, dass die klassische Antike selbst in Österreichs Spätmittelalter noch weit davon entfernt war, ein prägender Faktor von Herrschaft und Kultur zu sein.
Die klassische Antike wird in Europa angeblich schon im 16. Jahrhundert wiederentdeckt, aber erst seit dem 18. Jahrhundert wandten sich dann auch nördlich der Alpen breitere Kreise der Intelligenz und des Bürgertums der Antike zu. Man fragt sich aber, warum es immerhin zwei Jahrhunderte gedauert hat, bis man sich in Europa wirklich gezielt der Erforschung der Antike zuwandte. Von einer ernst zu nehmenden Entdeckung der Antike im 16. Jahrhundert kann also nicht die Rede sein. Denn beim europäischen Hochadel bestand noch in der frühen Neuzeit die Tendenz, die Ahnen möglichst auf Adam und Eva zurückzuführen. Die bürgerlichen Wappengraveure passten sich nach wie vor dieser Neigung an. Noch im „Wappenbüchlein“ des Nürnberger Graveurs Johann Siebmacher177 von 1596 finden sich bei den ersten Wappen nicht Ägypter, Griechen oder Römer, sondern neun jüdisch-alttestamentarische. Sie sind betitelt als „Der ersten Welt; Deß Adams; Deß Noha178“, dann folgen „Die drey guten Juden Fürst Josua, König David, Judas Maccabeus“ und „Die Drey guten Jüdin[nen] Hester179, Judith, Jael.“ Noch vor den drei guten Christen (Carolus Magnus, König Artus, Herzog Gottfried von Bulion [Bouillon]) und Christinnen (Kaiserin Helena, Brigitta von Schweden, Elsbeta [Elisabeth von Thüringen]) kommen die jeweils drei Wappen der „Drey guten Heyden“ (Hector von Troja, Alexander der Große, Julius Caesar) und der „Drey guten Heydin[nen] (Lucretia, Veturia, Virginia). Nach den Wappen der guten Christen und Christinnen kommen weitere drei Wappen, welche im weiteren Sinne nicht der klassischen Antike, sondern dem Neuen Testament angehören, nämlich „Die Heiligen Drey König“ Caspar, Balthasar, Melchior“. Von den 24 Wappen des „Wappenbüchleins“ kann man also insgesamt 18 der jüdisch-christlichen Welt zuordnen. Die 6 ‘heidnischen’ Wappen geben zudem nicht die reale, sondern – vor allem bei den Frauen – die mythische Sicht der Antike wieder. Man könnte somit glauben, dass selbst in einer so weltoffenen Stadt wie Nürnberg die Renaissance mit der Wiederentdeckung der Antike völlig unbekannt war.
Wenn man jedoch über den europäisch-christlichen Gartenzaun hinauszublicken wagt, dann stellt man mit Erstaunen fest, dass die islamischen Autoren, auch diejenigen in Al Andalus, der römischen und vor allem der griechischen Antike näher stehen als die christlichen von West- und Mitteleuropa. Nicht nur die jüdisch-islamischen Ärzte wie z.B. Avicenna180 und Maimonides181 bauen nach herrschender Lehre auf Hippocrates, Galen, Plato und vor allem auf dem griechischen Philosophen Aristoteles auf. Die iberischen Juden und Muslime betrachten sich, worauf der Arabist aus Sevilla, Emilio Gonzales Ferrín, immer wieder hinweist, als die wahren Erben der Antike und des Römischen Reiches. Der geistig-kulturelle Mittelpunkt dieses Reiches, der nicht zuletzt durch die Präsenz der Juden geprägt war, lag bis weit in die römische Kaiserzeit hinein nicht in Rom, sondern in der ägyptischen Weltstadt Alexandria, welche vor allem von der Kultur der Griechen und Juden geprägt war. Hier wirkten nicht nur die großen Theologen, Philosophen und Ärzte, sondern auch bedeutende Naturwissenschaftler und Techniker. Nicht nur in Alexandria, sondern auch im südspanischen Andalusien wurden die Errungenschaften der materiellen Kultur der Römer, z.B. die Wasserleitungen und das Kanalisationssystem, übernommen und vielfach sogar weiter ausgebaut.