Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas

- -
- 100%
- +
Recht abenteuerlich erscheint das, was wir von Aristoteles aus islamischen Quellen (sie weichen nicht selten von christlichen Quellen ab) wissen.182 Es gibt zu ihm eine arabische Quelle, nämlich Abd al-Latif al Bagdadi (11621231), der im Zusammenhang mit der sog. Pompejussäule in Alexandria über den Philosophen Aristoteles berichtet. Ich zitiere diese wichtige Stelle aus Strohmaier:
„Ich bin der Meinung, daß dies die Säulenhalle ist, in der Aristoteles und nach ihm seine Schüler lehrten, und daß es das Haus der Wissenschaft war, das Alexander errichtete, als er seine Stadt erbaute, und in ihm war die Bibliothek, die Amr Ibn al-As mit Erlaubnis Umars verbrennen ließ.“183
Für Bagdadi ist also Aristoteles, der Lehrer von König Alexander dem Großen, ein Bewohner der Weltstadt Alexandria. Darüber dass Aristoteles ein Grieche sein soll, weiß er aber nichts zu berichten. Das im wesentlichen im 19. Jahrhundert entstandene Bild der Antike, welches das jüdischchristliche Modell ablöste, weist nicht wenige „logische und faktische Widersprüchlichkeiten“ wie auch offensichtliche Unstimmigkeiten auf, auf welche nicht zuletzt Gunnar Heinsohn, Professor an der Universität Bremen, mehrfach hingewiesen hat.184 Diese Unstimmigkeiten wirken sich auch auf die antike und mittelalterliche Chronologie aus. So gibt es z.B. eine christliche Kölner Handschrift, „die eine Zeitrechnung verwendet, die sich nicht an der Geburt Christi ausrichtet, sondern an dem Wiederaufbau des jüdischen Tempels orientiert.“185
Auch in der Überlieferung der römischen Geschichte und Sprache vermutet Davidson Lücken.186 Latein (das sog. klassische Latein) war wohl genauso wie Hebräisch und (klassisches) Griechisch eine reine Kunstsprache. Hebräisch war „schon in frühesten Zeiten in Palästina keine lebende Sprache, sondern nur noch eine heilige Gelehrtensprache.“187 Es war auch in Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Sprache einer sehr begrenzten geistlichen und wissenschaftlichen jüdischen Elite. Die große Masse der Aschkenasim sprach Jiddisch, der sephardischen Juden Ladino und Judezmo (romanische Sprachen). Die Aschkenasim bezeichneten ihre Sprache nicht als jiddisch, sondern als „taitsch“ (deutsch).
Im Gegensatz zum Jiddischen und Ladino waren das angeblich unter Alfons X., dem Weisen (1252-1282), – unter Mitwirkung der spanischen Juden – geschaffene Kastilisch188 und das in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Prager Kanzlei geschaffene Deutsch reine Kunstsprachen. Kastilisch soll sich nach Aussage des im 15. Jahrhundert lebenden Grammatikers Antonio de Nebrija wohl schon im Hohen Mittelalter „nach Aragon, Navarra und Italien“ ausgebreitet haben. Im Gegensatz zu Hebräisch, Latein und Griechisch war in großen Teilen des südlichen Iberiens bis ins späte Mittelalter das Arabische noch eine lebende Sprache.189
In Dantes Sprachkonzeption ist im Unterschied zum Arabischen und zu den historisch gewachsenen romanischen Volkssprachen, welche linguae naturales, also Natursprachen, sind, das klassische Latein eine lingua artificialis, also eine Kunstsprache, quam Romani grammaticam vocaverunt (welche die Römer als Grammatik bezeichneten). Auch für Dante ist das klassische Latein eine Sprache, in welcher die Grammatik eine wesentlich größere Rolle spielt und welche auch wesentlich anspruchsvoller zu erlernen ist als die Volkssprachen.190
Es ist somit undenkbar, dass ein einfacher Römer z. B. das Werk von Sallust oder Reden des Cicero hätte lesen und verstehen können.191 Mir ist ja immer seltsam vorgekommen, dass auch noch das heutige moderne Spanisch in der Grammatik dem Lateinischen viel näher verwandt ist als das moderne Italienisch. Vielleicht besteht des Rätsels Lösung darin, wie Ralph Davidson davon auszugehen, dass die romanischen Sprachen nicht Tochtersprachen des Lateinischen sind, sondern evtl. einer älteren „romanischen“ Sprachschicht Europas angehören, welche einst von Portugal bis Rumänien reichte. Neben anderen hat sich auch Horst Friedrich dieser erstmals von Davidson im Jahre 1995 geäußerten Auffassung angeschlossen.192
Verglichen mit dem Lateinischen weist die Entwicklung des Hebräischen vom Bibelhebräischen bis zum modernen Israelhebräisch eine einmalige Kontinuität auf. Interessant ist für mich, dass das jüdische Volk das einzige der westlich-abendländischen Kultur ist, das wirklich aus der Sicht von Sprache und Kultur noch in einer wirklich antiken Tradition steht. Die hebräische Sprache hat sich, von modernen Wortbildungen wie tazgig (Email), mechonit (Auto), monit (Taxi) etc. abgesehen, bis zum heutigen Tag in ihren Grundfesten erhalten. Es ist auch heute noch viel schwieriger, einen unpunktierten hebräischen als einen deutschen Text flüssig zu lesen.
Nicht so einfach liegen die Probleme bei allem, was mit „deutsch“ zu tun hat. Was die deutsche Geschichte und damit auch die Begriffe deutsch und Deutschland betrifft, darf man getrost von einer germanischen Ideologie sprechen. Höchst verdächtig ist, dass die meisten antiken Texte – auch solche, welche mit den Anfängen Deutschlands zu tun haben – ausgerechnet „erst von den frühen Humanisten durch systematische Suche vor allem in den Klosterbibliotheken193 des deutschen Kulturraumes und Sprachgebietes ans Licht befördert worden“194 sind. Dazu gehört auch die Germania von Tacitus, an deren Echtheit Brasi195 mit Berufung auf Herbert Hunger196 zu Recht zweifelt. Die Tacitushandschrift ist unter seltsamen Umständen erstmals 1425 im deutschen Kloster Hersfeld entdeckt und noch später publiziert worden.197
Über die hier angeschnittene Frage hinaus ist zu beachten, dass auch literarische Quellen, welche Ereignisse und Vorgänge der Antike betreffen, nicht nur aus dem Mittelalter stammen, sondern – zu einem sehr geringen Teil – auch antiker Provenienz sind. Es hat sich noch nicht einmal bei allen Historikern herumgesprochen, dass „viele Dutzende von längeren und kürzeren Fragmenten der antiken Literatur“, vor allem der altgriechischen, auf antiken Papyri überliefert worden sind und sich bis heute erhalten haben. Die Fragmente griechischer Papyri sind für die Wirkungsgeschichte des Hellenismus ohne Bedeutung und bringen auch sonst, wenn man von medizinischen Spezialfragen absieht, keinen allgemeinen historischen Erkenntnisgewinn.
Noch geringfügiger sind die Funde lateinischer literarischer Papyri. „Sie beschränken sich auf bescheidene Fragmente aus bereits bekannten Klassikern, die in der Schule gelesen wurden (Cicero, Livius, Sallust. Vergil).“198 Festzuhalten ist, dass auch die Merowinger, Araber, das Frankenreich und seine Nachfolgestaaten Papyri für ihre Urkunden verwandten. Neben dem Papyrus und dem Papier diente im Mittelalter das Pergament als Hauptbeschreibstoff für alle möglichen Quellen. Texte der antiken Literatur liegen uns bereits vereinzelt seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert vor. „Mehr oder weniger vollständige Pergamentkodizes begegnen uns zum erstenmal im 4. Jh. mit den beiden berühmten griechischen Bibelhandschriften, dem Sinaiticus und Vaticanus“. Vom 5. und 6. Jahrhundert an „besitzen wir bereits eine größere Zahl christlicher und profaner Pergamenthandschriften in Ost und West, d.h. in griechischer und lateinischer Sprache“199, so z.B. unter anderem auch Codices über Terenz, Vergil und Livius. An die Stelle der Rolle trat schon in der römischen Kaiserzeit zunehmend der Codex, der ja im Grunde der Vorläufer des modernen Buches war. Seit dem 2. Jahrhundert u. Z. wurden heidnische Schriftsteller in der Regel auf Pergamentrollen, christliche Autoren auf Papyruscodices festgehalten.
Bei den Handschriften sollten wir uns aber stets vor Augen halten, dass wir wirklich tragbare Ergebnisse über die Echtheit von Papyrus- und Pergamenthandschriften erst dann bekommen, wenn man deren Alter genauer, als bisher möglich, ermitteln kann. Die Radiokarbonmethode und Dendrochronologie sind für solche erdgeschichtlich relativ kurze Perioden, wie Oleinikov und andere dargelegt haben, nur in begrenztem Maße geeignet.200 Man hat sie darum auch nie dafür herangezogen.
Ein auffallend großer Anteil von Abschriften lateinischer Autoren, welche aus dem Mittelalter erhalten bzw. im Mittelalter entstanden sind, wurde, wie oben bereits angedeutet, durch von der römischen Kurie beauftragte Humanisten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in deutschen Klöstern entdeckt. Erstaunlicherweise erstreckte sich diese bibliophile Schatzsuche vor allem auf deutschsprachiges Gebiet, „weil auf deutschem Boden noch Schätze zu finden waren, die keine italienische Bibliothek besaß.“201 Italienische Gelehrte wühlten also im Auftrag der Kurie und anderer kirchlicher Kulturträger bevorzugt in deutschen bzw. deutschsprachigen Klosterbibliotheken herum, um antike Autoren zu entdecken, welche überwiegend ihre Werke im antiken Italien verfasst hatten:
„Im Gefolge des Pisaner Papstes Johannes XXIII. zogen zahlreiche Humanisten als Sekretäre oder Schreiber der Kurie nach dem Norden, unter ihnen Bruni und Poggio.“202
Letzterer, seit 1423 apostolischer Sekretär der römischen Kurie, führte allein vier intensive Bibliotheksreisen nach Frankreich und vor allem nach Deutschland durch und wurde „im Gefängnis der Barbaren“, z.T. durch widerrechtliche Aneignung, auch fündig.203 Im deutschen Sprachraum besuchte er vor allem die Klöster St. Gallen mit Nachbarklöstern, die Klöster in Fulda, Hersfeld und Köln. Rossi meint, der Humanist “erweiterte mit seinen wunderbaren Entdeckungen außerordentlich den Horizont der klassischen Studien“.204 Die gefundenen Codices wurden regelmäßig sofort kopiert, vielleicht auch deswegen, weil sich viele gefundene Handschriften (angeblich) in einem „erbärmlichen äußeren Zustand“205 befunden haben sollen. Nicht auszuschließen ist aber, dass diese Schnellkopien auch deswegen durchgeführt worden, weil man daran interessiert war, die mehr oder weniger gut erhaltenen Handschriften so schnell als möglich zu vernichten, wohl um eine Nachprüfbarkeit der Inhalte der gefundenen Handschriften zu verhindern.206 Auf den leichtfertigen Umgang mit Druckvorlagen in den Kulturzentren der Renaissance, vor allem in Rom, weisen Davidson und Luhmann207 bereits im Jahre 1998 hin. Antonio Rossi beschönigt diese seltsame Kopiermethode von Poggio mit folgenden Worten:
“Somit vollbrachte er bisweilen wahre Rettungstaten, da von einigen jener Werke (Handschriften) jedes Manuskript vor seiner Kopie verloren ging.”208 Das Verlieren eines uralten Manuskriptes wäre heute keine Rettungstat.
Wie zweifelhaft diese Entdeckungen in deutschen Klöstern waren, zeigt ein Bericht aus dem Werk des Byzantinisten Herbert Hunger über die Entdeckung der kleinen Schriften von Tacitus:
„Auch nach seiner Rückkehr leitete Poggio209 von Rom aus die Suche nach neuen Kodizes. In seinen Diensten stand ein ungenannter Mönch aus Hersfeld, der 1425 mit einer Liste von Desiderata aus Rom heimkehrte. Durch ihn erfuhr Poggio u.a. von der Existenz dreier unbekannter Schriften des Tacitus im Kloster Hersfeld, der Germania, dem Agricola und dem Dialogus über den Verfall der Rhetorik. Erst kurz vor seinem Tode glückte es, der mit allen Mitteln verfolgten Kodizes habhaft zu werden. Einer der Bücheragenten Nikolaus V., Alberto Enoch d’ Ascoli (gest. 1457), scheint das Manuskript 1455 von einer Bibliotheksreise, die ihn bis nach Skandinavien führte, nach Italien gebracht zu haben. Als erster verwertete Enea Silvio Piccolomini Nachrichten aus der Germania und verglich das moderne mit dem alten Deutschland zugunsten der (damaligen) Gegenwart und der humanistischen Bildung. Dadurch wurden die deutschen Humanisten auf den Schatz aufmerksam, der ihnen entgangen war, und nachdem Leo X. (Papst von 1475-1521) Tacitus hatte drucken lassen, wurde die Germania zur bevorzugten Quelle über die deutsche Vergangenheit.“210
Neben Poggio und seinen Helfern spielte auch der rombegeisterte Dichter Petrarca, der von 1304 bis 1374 gelebt haben soll, eine bis heute wenig durchschaute Rolle. Chlodowski bezeichnet ihn emphatisch als den Mann, welcher der erste gewesen sein soll, der „could understand and bring into light the ancient elegance of the style that had been forlorn and forgotten before“211. Bei seiner Ankunft in Rom findet der Dichter nicht die großen Gebäude und Monumente der römischen Antike, die er sich in seinen Träumen erhofft hatte. Die folgenden Zeilen von Petrarca, aus denen seine ganze Enttäuschung spricht, lassen den Zustand von Rom in der Spätantike und Frührenaissance in einem äußerst realistischen Licht erscheinen. Dieser Bericht von Petrarca über die ‘Größe Roms’ ist so bezeichnend, dass ich ihn in voller Länge in deutscher Übersetzung wiedergeben will:
„Wo sind die Thermen von Diokletian und Caracalla? Wo ist das Timbrium von Marius, das Septizonium und die Thermen von Severus? Wo ist das Forum von Augustus und der Tempel des Rachegottes Mars? Wo sind die heiligen Plätze von Jupiter, dem Donnerträger, auf dem Capitol und von Apollo auf dem Palatin? Wo ist der Porticus von Apollo und die Basilica von Caius und Lucius, wo ist der Porticus von Libya und das Theater des Marcellus? Wo ist der Tempel von Hercules und den Musen, erbaut von Marius Philippus, und der Tempel der Diana, erbaut von Lucius Cornifacius? Wo ist der Tempel der artes liberales von Avinius Pollio, wo ist das Theater von Balbus, das Amphitheater von Statilius Taurus? Wo sind die zahlreichen Bauten, die Agrippa errichtete, von welchen nur das Pantheon übrig bleibt? Wo sind die prächtigen Paläste der Kaiser? Man findet alles in den Büchern; aber wenn man versucht sie in der Stadt zu finden, so zeigt sich, dass sie entweder verschwunden sind oder dass nur magere Spuren übrig geblieben sind.“212
Bei diesem ausführlichen Petrarca-Bericht über die vermeintlichen bzw. realen Kulturstätten des antiken Rom fällt auf, dass das heute wohl bekannteste und neben dem antiken Forum am meisten besuchte Gebäude, das Colloseum, nicht erwähnt wird. Doch störte das Petrarca keineswegs bei seinen weiteren Aktivitäten bei der Suche nach den Relikten des alten Rom.213
Nachdem Petrarca einige Tränen vergossen hatte, machte er sich gleich an die Arbeit, suchte nach Statuen, sammelte römische Münzen und versuchte die Topographie von Rom zu rekonstruieren. Sein größter Eifer galt aber der Suche nach Werken der ‘antiken’ Autoren. Dabei war er nicht besonders kritisch, was das Alter derselben betraf. Schließlich konnte er es sich leisten, eine Werkstatt mit Schreibern und Sekretärin zu gründen. Immer wieder bekniete er Freunde und Bekannte, dass sie für ihn alte Bücher und Handschriften beschaffen sollten. Wertvolle Funde bezahlte er fürstlich. Und diese landeten aus allen Himmelsrichtungen in seinem Büro, darunter auch Reden und Briefe von Cicero, von welchen fast eineinhalb Jahrtausende niemand etwas gewusst hatte. Ciceros Briefe entdeckte Petrarca angeblich in der Kapitelbibliothek von Verona, wo seltsamerweise zuvor niemand von deren Vorhandensein wusste.
Wie bei vielen anderen spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Bücherfunden durch Humanisten „the original was soon lost by Petrarch, and he demonstrated a copy instead.“214 Es gibt noch andere Merkwürdigkeiten bei Petrarca wie z.B. den Brief an den römischen Geschichtsschreiber Titus Livius215, der nach konventioneller Geschichtsauffassung als Ausgeburt seiner dichterischen Phantasie betrachtet wird.
Ein unbefangener Betrachter, der nicht mit althistorischer Fachblindheit geschlagen ist, kann bei der Lektüre dieser abenteuerlichen Entdeckungsgeschichten, welche vor allem die römische Antike betreffen, leicht den Eindruck gewinnen, dass es bei dieser Entdeckung der antiken Schriften zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Es ist wohl nicht auszuschließen, dass man das, was man nicht finden konnte, erfunden haben könnte.
Dieser Verdacht gilt nicht nur für die Germania des Tacitus, ist jedoch hier besonders angebracht. Viele Aussagen dieser Schrift von Tacitus passen überhaupt nicht zu Methode und Stil von Tacitus und seinem historiographischen Konzept sine ira et studio („ohne Zorn und Leidenschaft“). Denn die Germanen sind hier im Positiven wie im Negativen arg drastisch dargestellt. Diese Schilderung der Germanen passt viel eher in das Konzept der römischen Kurie und des italienischen Humanismus, die Vorfahren der Deutschen – im Gegensatz zu denen der Italiener – recht barbarisch erscheinen zu lassen. Es ist darum der in Deutschland vorherrschenden Ideologie, welche sich primär von der Germania des Tacitus ableitet, von einem 2000 Jahre alten Deutschland zu sprechen, mit äußerster Skepsis zu begegnen. Von einem einheitlichen Volk der Germanen und auch von einem deutschen Freiheitskampf unter Hermann dem Cherusker gegen die römische Besatzungsmacht kann keine Rede sein. In dem feucht moorigen „Waldland mit barbarisch wilden Bewohnern“ gab es „nur Häuptlinge, Clanchefs und deren Gefolgschaften“.216 Erschwerend kommt in der Frage der Überlieferung der Germania noch hinzu, dass die mit Hilfe des ungenannten und unbekannten Hersfelder Mönches entdeckte mittelalterliche Ab- bzw. Urschrift dieses Werkes nicht mehr auffindbar ist und dass auch andere sich auf die Antike beziehenden mittelalterlichen Handschriften im Zeitalter des Humanismus vernichtet worden sind, angeblich wegen des schlechten Erhaltungszustandes.
Wenn man bedenkt, wie groß der Prozentsatz der gefälschten und manipulierten mittelalterlichen Urkunden und sonstigen Quellen ist, was übrigens auch von den konventionellen Mediävisten anerkannt ist, dann ist wohl nicht auszuschließen, dass manche antike Handschriften gar nicht aus der Antike stammen, sondern Spezialanfertigungen des Mittelalters sind. Zhabinsky bringt eine Menge von Argumenten vor, welche bezeugen, „that all ‘ancient’ manuscripts are literary works of the 15th and 16th centuries and that there never was in reality an ‘ancient’ Rome and Greece as modern historical science teaches us.”217 Selbst wenn man diese Auffassung von Zhabinsky, die im Grunde Davidson schon vorher geäußert hat, nicht teilt, führen die Forschungen zur römischen Antike zunehmend zu der Erkenntnis, dass das uns überlieferte Bild vom klassischen Rom verzerrt ist und in vielen Punkten nicht mehr der Wirklichkeit entspricht.
Fälschungen und Erfindungen von antiken Handschriften bzw. deren Abschriften in der Zeit der Renaissance konnten lange nicht mit hundertprozentiger Sicherheit im Sinne eines juristisch tragfähigen Beweises nachgewiesen werden. Solche Fälschungen im literarischen Bereich sind allerdings sehr naheliegend. Denn es ist inzwischen immer wahrscheinlicher, dass selbst renommierte Künstler der Renaissance sich als Erfinder und Fälscher von antiken Kunstwerken betätigten.
„Even the great Michelangelo sinned with counterfeits in his youth. He created a figurine of Cupid and at the suggestion of a friend sold it as an antique original. The forgery presently was uncovered, but the sculptor was already well known: they thought that he was able to ‘ascend to the mastery of the ancient sculptors.’“
Der berühmte italienische Architekt Benvenuto Cellini (1500-1571) berichtet in seiner Autobiographie, “how he created vases which were declared as antique”.218 Natürlich gab es auch im 19. und 20. Jahrhundert erfolgreiche Fälscher, wie z.B. Israel Rouchomovsky und Aleco Dessena. Ihnen gelang es, antike Kunstwerke herzustellen, welche selbst von Experten als echt akzeptiert und sogar an Museen verkauft worden waren.219
Fälschungen bleiben aber nicht auf die griechische und römische Antike beschränkt. Selbst die ägyptische Geschichte ist dagegen nicht gefeit. Vogl und Benzin, die sich intensiv mit der Medizin der alten Ägypter auseinandersetzen, stellten bei der Auswertung zahlreicher Pharao-Mumien fest, dass „das ungefähre Sterbealter eines Leichnams … recht oft nicht mit den aus geschichtlichen Quellen erschlossenen Regierungsjahren übereinstimmt.“ Beide Autoren ziehen aus dieser Inkongruenz den Schluss, dass „alle Herrscherlisten [im alten Ägypten] große Mängel aufzeigen“.220 Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Herrscherlisten der Antike (nicht nur des alten Ägypten, worauf Heinsohn immer wieder hinweist) bewusst gefälscht oder nur das Produkt einer fehlerhaften antiken Chronologie sind.
Ein Musterfall einer lange nicht erkannten neuzeitlichen Fälschung ist die Büste der Nofretete. Der Schweizer Kunst- und Architekturhistoriker Henri Stierlin stellt deren Echtheit in Frage:
„Die Nofretete sei während der Ausgrabungen 1912 als Experiment der deutschen Grabungsmannschaft entstanden und somit erst knapp 100 Jahre alt“, meint Stierlin. Dieser begründet seine These folgendermaßen: „Bei einem Grabungsbesuch sei die von dem Bildhauer Gerhardt Marks geschaffene Skulptur Vertretern des regierenden sächsischen Königshauses aufgefallen und fotografisch festgehalten worden. Anschließend habe man sich nicht mehr getraut, ihre Echtheit zu dementieren, um die Hoheiten nicht lächerlich zu machen.“221
Der Innsbrucker Althistoriker Raoul Schrott bringt sogar gute Argumente dafür, dass Troia mehr als ein Jahrhundert lang am falschen Platz erforscht und ausgegraben wurde. Schrott verlegt Troja in den Südosten der heutigen Türkei und vermutet in Homer keinen Griechen, sondern einen mit dem Griechischen vertrauten Schreiber des assyrischen Herrschaftssytems. Es scheint die griechische Sprache sehr alt zu sein, wohl älter als Hebräisch, Arabisch und wohl älter auch als Assyrisch. Diese Erkenntnis ist das Ergebnis der jahrelangen Forschungen von Joseph Yahuda, welche weiter unten näher erörtert werden.
Die israelischen Althistoriker Arye Edrei und Doron Mendels vertreten die Auffassung, dass das Griechische erstaunlicher Weise nicht nur in Alexandria, sondern sogar im Westen des Römischen Reiches in der Spätantike und im frühen Mittelalter die am meisten gebrauchte Verkehrssprache der Juden war.
Die oben erwähnten Beispiele aus der ägyptischen, griechischen und römischen Geschichte zeigen, dass nicht nur literarische, sondern auch Sachquellen Fälschungen sein können. Auf welchen dubiosen und fragwürdigen Quellen – vielfach aus zweiter und dritter Hand – unser Wissen über die antike Geschichte gebaut ist, zeigt Roman Landau in seinem Kapitel „Ungelöste Rätsel der Antike“ in seinem Buch von 2006.222
Die Möglichkeit, dass also auch sachliche Quellen der Antike gefälscht oder falsch datiert sein können, sollte aber die Historiker der Antike und des Mittelalters nicht dazu verleiten, die literarische Überlieferung allzu einseitig in den Vordergrund zu stellen und auf den Primat der schriftlichen Quellen zu pochen. Die ausschließliche Auswertung literarischer Quellen zur Beschreibung und Beurteilung der Antike würde also, als Quintessenz meiner obigen Betrachtungen, nicht nur zu einem verzerrten, sondern sogar zu einem einseitigen Bild der Antike und nicht zuletzt der ägyptischen Geschichte führen. Es gibt nämlich einige technische Funde, welche auf die technologische Dominanz von Ägypten, vor allem seiner Hauptstadt Alexandria, gegenüber Italien bzw. Rom sowie anderen Regionen des Römischen Reiches hindeuten. Es hat sich ja inzwischen nicht nur bei Technikhistorikern herumgesprochen, dass die Ingenieure Ktesibios und Hieron in Alexandria im 3./2. Jahrhundert funktionsfähige Automaten entwickelten und die Weltstadt Alexandria, wo zahlreiche Juden lebten, nicht nur ein hohes technologisches, sondern auch ein hohes kulturelles Niveau (z.B. Bibliothekswesen) erreichte. Durch einen ausgeklügelten Automatismus öffneten sich in Alexandria die Türen des Tempels, nach Abkühlung der Luft schlossen sich diese wieder. Die Gläubigen mussten annehmen, dass ihr Gott „eine hydropneumatische Maschine war“. Nur ein kleiner „eingeweihter Kreis der schlauen Priester“ wusste, wie diese Technik wirklich funktionierte.223 Es gibt aber noch weitere Techniken, welche nicht in das von uns gelernte Schulwissen passen, z.B. der „Mechanismus von Antikythera“. Dieses Gerät, welches man heute als „Mechanismus von Antikythera“ bezeichnet, entdeckten Schwammtaucher Ende des 19. Jahrhunderts in rd. 60 Meter Tiefe vor der kleinen Südägäisinsel Antikythera. Ob das hier gefundene Gerät etwas mit Alexandria, welches auf den östlichen Mittelmeerraum ausstrahlte, zu tun hat, ist nicht erwiesen, aber doch wahrscheinlich. Dieser bisher noch nicht geklärte Apparat, aufbewahrt im Archäologischen Museum von Athen, ähnelt „nach Beschreibungen von Archäologen einer Art Computer der Antike“ und könnte nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen „ein Zeitrechner und Orientierungsgerät für Seefahrer“ gewesen sein. Das Gerät „stammt nach Angaben der Forscher aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert und ist vermutlich auf der Insel Rhodos vom Astronomen Poseidonios konstruiert worden.“224 Das Gerät soll nach dem neuesten Stand der Forschung (Mike Edmunds von der Universität Cardiff in Wales) etwa 150 bis 100 Jahre vor Christus gebaut worden sein. Hier der neueste Stand der Erkenntnisse aus dem Internet: