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Um dieses Mehr geht es in diesem Buch, das sich dabei überwiegend an Vorbilder aus der amerikanischen Sportpublizistik orientiert, die über die erwähnten Autoren hinaus bemerkenswerte Maßstäbe gesetzt hat. Etwa mit der Sachbuch-Serie The Best American Sports Writing20, einer breitgefächerten und gleichzeitig aufschlussreichen Archäologie des Sports. Angelehnt an etwas, das Paul Gallico in Farewell to Sport bereits skizziert hatte: „Heldenverehrung ist menschlich. Vorausgesetzt der Held ist ebenfalls menschlich.“
Ein hilfreiches Zitat, um an dieser Stelle näher auf den Begriff einzugehen, der sowohl in Gallicos Muttersprache als auch im Deutschen ähnlich stark schillert. Klassischerweise werden nicht nur außergewöhnlich mutige Menschen mit dieser Vokabel belegt. Sie wird auch auf die Hauptgestalten von Romanen angewendet und auf ein ganzes Rollenfach beim Theater (wo es noch andere klischeehafte Figuren gibt wie den jugendlichen Liebhaber oder die Salondame). Die Ausdehnung des Begriffs auf den kommerziellen Sport ist also nachvollziehbar. Denn er liefert dem Geschehen mit seinen heldenhaften, theatralischen Taten im Zentrum einen zusätzlichen Fixpunkt und schwebt als sinnstiftende Vokabel über der Inszenierung von Sport und der Idol-Kultur, die sie fördert.
Oft genug allerdings steht die Vita von prominenten Athleten dem Bedürfnis nach versimpelnder Idolisierung und Heroisierung entgegen. Der damalige Spiegel-Redakteur Nils Minkmar etwa nahm nach dem Unfalltod des Basketballers Kobe Bryant eine Tendenz ins Visier, mit einer aufgeschminkten, selektiven Würdigung die unangenehmen Details seiner Biographie zu vertuschen. Bryant hatte einst wegen Vergewaltigung vor Gericht gestanden und war trotz starker Indizien nur deshalb freigesprochen worden, weil die betreffende Frau vor einer Aussage in einem öffentlichen Prozess zurückgeschreckt war und so das Verfahren zum Platzen gebracht hatte. Und der das Schweigen dieser Frau mit einem hohen Betrag entlohnt hatte.21
Was Minkmar zu der Anmerkung veranlasste: Es möge „besonders schwer auszuhalten“ sein, dass „Helden eine Schwäche haben, dunkle Charakterzüge, seltsame Ansichten oder gar schuldig wurden“. Man könne allerdings deshalb nicht einfach dafür plädieren, dass „auf den glatten Bildschirmen der digitalen Moderne“ immer „alles makellos erscheinen“ soll. Auf diese Weise „verrennt sich die Moral in den Bereich der Ästhetik: Die Schönen sollen gut sein und vice versa.“22
Was Gesellschaftswissenschaftler nicht überrascht. So hat der Freiburger Soziologe Prof. Dr. Ulrich Bröckling 2020 im Deutschlandfunk in einem Interview auf Folgendes hingewiesen23: „Der Sport verbindet etwas, was auch für Heldenfiguren ganz grundsätzlich ist: dieses Moment des Kämpferischen, des Sich-auszeichnen-Wollens, der außerordentlichen Leistung. Das alles bietet der Sport. Er bietet spannende Inszenierungen von Kämpfen, von Wettkämpfen. Und gleichzeitig ist es etwas, was politisch nicht so brisant oder moralisch so verwerflich ist wie militärisches Heldentum.“
Und das funktioniert so, wie Karl-Heinrich Bette in Sporthelden: Spitzensport in postheroischen Zeiten schreibt: „Der Spitzensport ist ein Sozialbereich, der real existierende Figuren der Außeralltäglichkeit“ in einer unterhaltsamen und sozial harmlosen Weise und im Kontrast zu anderen Teilen des Lebens hervorbringt. Dort, in diesen anderen Teilen des Lebens, habe die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren „eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse und seinen Stellvertretungsofferten mit Erfolg hineinstoßen konnte.“24
Die Wechselwirkung kommt folgendermaßen zustande: Einerseits existiert, so Bette, eine weltweit gestiegene Nachfrage „nach spannenden, heroischen, affektiv aufgeladenen, gemeinschaftsstiftenden, personen- und körperorientierten Sportleistungen durch ein interessiertes Massenpublikum“. Andererseits gebe es „Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels“. Zu denen gehören seiner Auffassung nach unter anderem solche Entwicklungen wie Körperdistanzierung, Gemeinschaftsverlust, Beschleunigung und „biografische Diskontinuität“. Der Spitzensport bediene damit und mit seinen Heldeninszenierungen „in einer klamm-heimlich-kritischen Weise die ausgeprägte Ambivalenz der Moderne“.
Eine Ambivalenz, die die COVID-Pandemie noch deutlicher herauskristallisiert hat. Mit einem „weniger heroischen, professionellen Typ von Athleten“ wie der amerikanische Sportjournalist und Buchautor Howard Bryant unlängst schrieb. Er meinte prominente Vakzin-Verweigerer wie Novak Djokovic, Aaron Rodgers und Kyrie Irving. Die seien „ganz sich selbst verpflichtet, unbelastet von der Gemeinschaft oder der Verantwortung für andere“ und benutzen die sozialen Medien „um Pseudowissenschaft zu verbreiten und sich selbst zu profilieren und abzusetzen.“ Deren Botschaft an den Rest der Welt: „Sie schulden uns gar nichts, weil sie soviel erschaffen: Einnahmen und Vermächtnis für die Männer in Anzügen. Spaßkultur für die Zuschauer und wirtschaftliche Sicherheit für ihre Familien.“25
Mit Stoff ist in diesem Zusammenhang übrigens keine einzelne Materie gemeint. Und keine fixe Größe. Der Begriff ist nicht minder ambivalent. Er dient vor allem als Inspiration und Gedankenstütze beim Brückenschlag zwischen Hauptkapiteln und innerhalb dieser Kapitel.
Es geht schließlich um unterschiedliche stoffliche Dimensionen: um Rohstoff und Wirkstoff, Farbstoff, Klebstoff und Schadstoff, natürlich auch um Lesestoff und Gesprächsstoff und sicher auch Lehrstoff und Zündstoff. Um unterschiedliche Idiome und Substanzen, in denen viele Fasern, Farben und Facetten aufgehen. Dinge wie Geld und Kommerz, wie Doping, Religion und Politik, wie Vermarktung und Narzissmus, wie Hautfarbe, Missbrauch und Nostalgie. Eigenschaften wie Mut und mentale Stärke, Arbeitsethos und Risikobereitschaft, genetische Vorprägung und Hybris. Empfindungen wie Agonie oder Teamgeist, aber auch so etwas Fundamentales wie pure Begeisterung für die Sache. Etwas, was ich im Laufe der Zeit aus Begegnungen und ausführlichen Gesprächen mit knapp 200 Aktiven, Trainern, Betreuern, aber auch mit Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Juristen herausdestillieren konnte.
Ein solches Kompendium kann am Ende nicht mehr sein als eine Auswahl, subjektiv und voller Besonderheiten und Eigenheiten. Sie deckt immerhin eine Zeitspanne von knapp dreißig Jahren ab und ist aus nachvollziehbaren Gründen vom geographischen Standort des Autors geprägt. Was im Kontext des internationalen Sports aber keineswegs ein schiefes Bild erzeugt. Denn nach der kreativen Phase im viktorianischen Großbritannien, als die Feudalgesellschaft einer Weltmacht die Kodifizierung und Popularisierung von einer ganzen Reihe von Sportarten vorantrieb, übernahmen die USA im 20. Jahrhundert eine treibende Rolle. Ihre Beimischung, die konsequente Ausrichtung auf Kommerz, Profitmaximierung und eine intensive Mythologisierung, markiert so etwas wie die zweite wichtige Phase eines globalen Ideentransfers im organisierten Sport in alle Teile der Welt.
Man denke nur an die Ruhmeshallen und Sportmuseen. Sie wurden zunächst in den Vereinigten Staaten entwickelt, aber haben mittlerweile auch in anderen Ländern Schule gemacht26. Oder an die wachsende Bedeutung amerikanischer Sportausrüster bei der Inszenierung und Vermarktung von Sport27. An den neuen Statistikwahn.28 An Computerspiele. Oder auch den Kampf gegen Doping, Korruption und sexuellen Missbrauch. Fast überall zeigen amerikanische Akteure seit mehreren Jahren modellhaft auf, wohin die Reise geht. Der Rest der Welt folgt je nach Ressourcen und eigenen Ambitionen irgendwann nach.
Was den Charakter der Texte anbetrifft: Sie nutzen den Formenreichtum, den wir in der alltäglichen journalistischen Arbeit kennen. Es handelt sich hierbei um Reportagen und Stimmungsbilder, um essayistische Betrachtungen sowie um Protokolle von ausführlichen Interviews mit profilierten Gesprächspartnern, die pointiert und substanziell zum jeweiligen Thema Auskunft geben.
Niemanden sollte überraschen, dass man als Journalist im Laufe der Zeit einiges aus dieser Stoff-Sammlung bereits publiziert hat: in meinem Fall in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den drei Programmen von Deutschlandradio, den nicht mehr existierenden Zeitschriften Sports und No Sports (nicht verwandt und nicht verschwägert miteinander), dem Sportmagazin der Schweizer Illustrierten sowie mehreren Büchern.
Um der zeitlichen Einordnung Rechnung zu tragen, erschien es angebracht, die Texte mit Angaben zu dem Jahr zu versehen, in dem sie entstanden sind oder in wesentlichen Passagen entwickelt wurden. Was aus den zentralen Figuren in der Zeit danach geworden ist, wird dort, wo es angebracht schien, in einem kurzen Anhang hinzugefügt.
Das Buch enthält daneben aber auch Texte, die bislang nicht erschienen sind. Und solche, die eigens für dieses Buch geschrieben wurden.
Natürlich reist stets eine Hoffnung mit: dass eine solche Anthologie auf mehr neugierig machen könnte. Deshalb an dieser Stelle noch ein Hinweis auf drei Bücher. Aus zweien habe ich für dieses Projekt jeweils eine längere Passage übernommen: Sowohl Tiger Woods. Charisma für Millionen29 als auch Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports30 und Dirk Nowitzki. So weit, so gut – von Würzburg zum Weltstar. Eine etwas andere Biographie“31 möchte ich an dieser Stelle gerne als weiterführende Lektüre empfehlen.
In jedem Fall wünsche ich viel Vergnügen auf dieser Tour d’Horizon, und bedanke mich bei allen Weggefährten, die durch ihre Ermunterung, ihre Aufträge, ihr Wohlwollen und ihre Kritik im Laufe der Jahre mein Schaffen ermöglicht haben.
Jürgen Kalwa West Cornwall, Februar 2022
1 Gerhard Roth: Erkenntnis und Realität – das reale Gehirn und seine Wirklichkeit in: Siegfried J. Schmidt (Herausgeber): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, 1987
2 Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit, Interview, Bild der Wissenschaft, Oktober 1998
3 Paul Gallico: Farewell to Sport, New York. Die Anthologie veröffentlichte Gallico, als er aus dem Sportjournalismus ausstieg und sich dem Schreiben anderer Stoffe widmete. So erfand er die Figur des Journalisten Hiram Holliday, der kuriose Abenteuer erlebt, die in den fünfziger-Jahren fürs Fernsehen verfilmt wurden. Viele seiner Romane und Drehbücher wurden zu kommerziellen Erfolgen. Eine seiner Hinterlassenschaften ist der Amateurbox-Wettbewerb Golden Gloves, Durchgangsstation für viele namhafte amerikanische Profis.
4 Turn of the Century Fights, Inc.: Jack Dempsey vs. Luis Firpo for Heavyweight Championship, New York, September 14, 1923, veröffentlicht 1964
5 Der Kampf, der am 14. September 1923 im New Yorker Madison Square Garden stattfand, galt unabhängig von der Vorgeschichte aus dem Trainingslager jahrzehntelang als einer der denkwürdigsten in der Geschichte des Profiboxens. Eine Anspielung auf ihn („I’m telling ya if this guy sat ringside at the Dempsey-Firpo fight, he‘d be tryin‘ to tell us Firpo won!”) in der 1957 veröffentlichten Hollywoodfassung des Fernsehdramas und Theaterstücks Die zwölf Geschworenen demonstrierte seinen besonderen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis der USA.
6 Paul Gallico: Farewell to Sport, Seiten 289-290
7 George Plimpton: Paper Lion – Confessions of a Last String Quarterback, New York, 1966. Sein Bericht über seine Zeit im Kader eines NFL-Teams gilt als „das beste Buch, das je über Profi-Football geschrieben wurde” (Saturday Review), weil es den Blickwinkel eines durchschnittlichen Football-Fans repräsentiert. Plimpton führte das gleiche Experiment mehrfach durch und schilderte seine Erfahrungen – darunter im Profi-Eishockey, in der NBA, in Major League Baseball, auf der PGA-Tour der Golfer und im Box-Ring – in insgesamt sieben Büchern. Seine Vorgehensweise nannte er konsequenterweise „participatory journalism“. Aus Teilnahme wird Teilhabe.
8 Steven Fatsis: A Few Seconds of Panic: A Sportswriter Plays in the NFL, New York, 2008
9 Rick Reilly: Who’s Your Caddy? Looping for the Great, Near Great, and Reprobates of Golf, New York, 2004
10 Rick Reilly: Der Mann, der nicht verlieren kann: Warum man Trump erst dann versteht, wenn man mit ihm Golfen geht, Hamburg, 2020
11 Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung machte im Januar 2020 bekannt, weshalb die Zeitung ein Interview mit dem ehemaligen Fußball-Profi Bastian Schweinsteiger und dem Schriftsteller Martin Suter abgelehnt hatte: Die Gegenseite hatte verlangt – „über die übliche Autorisierung des Wortlauts hinaus“ – sowohl Titel, Vorspann und Bildunterschriften vorab gegenzulesen. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Januar 2022, Seite 39). Eine Anmerkung zum Stichwort: „Autorisierung”. Keines der Interviews in diesem Buch (und nur ein einziges im Laufe meiner journalistischen Karriere) wurde einem solchen Prozess unterzogen. Dieses Entgegenkommen der Medien ist zwar in Deutschland „üblich”, aber nicht im Rest der Welt. Selbst ein so stark beachteter Rechtsstreit wie der zwischen Janet Malcolm vom New Yorker und einem namhaften Psychoanalytiker (David Margolick: Psychoanalyst Loses Libel Suit Against a New Yorker Reporter, New York Times, 3. November 1994) hat an der Praxis nichts geändert. Ebenso wenig mehrere prominente Fälle junger Journalisten, die frei erfundene Artikel veröffentlichen konnten wie Stephen Glass, dessen Aufdeckung im Hollywood-Film Shattered Glass nachgezeichnet wurde. Währenddessen kommt es in Deutschland schon lange auch und gerade im Sportjournalismus zu Konflikten (siehe auch: David Bernreuther: Zwischen Maulkorb und Meinungsfreiheit: Kritische Interviews von Fußballprofis und ihr Medienecho. Eine Inhaltsanalyse Berlin 2012, Seite 45
12 Norman Mailer: The Fight, New York, 1975
13 Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Die Verlagswerbung für die Box-Anthologie von Wolf Wondratschek (Im Dickicht der Fäuste, Berlin 2021) wirft ein Licht darauf, wie weit die Identifikation gehen kann. Die Texte handeln demnach unter anderem „vom Schriftsteller als ‚einzigem Bruder des Boxers, dem Verbündeten seiner Einsamkeit‘”. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung empfand bei der Bewertung der Erstausgabe des Buchs, das 2005 erschien, solchen Pathos als „dick aufgetragen” und kanzelte die Pose als „Vitalismus” ab.
14 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Bielefeld 2019, Seite 34
15 Susanne Marschall/Bodo Witzke: „Wir sind alle Menschenfresser“: Georg Stefan Troller und die Liebe zum Dokumentarischen, Norderstedt, 2012)
16 Bertram Job: Schwer gezeichnet. Geschichten vom Boxen. Göttingen, 2006
17 Bertram Job: Der Held rettet die Welt nicht, Taz, 22. November 1996
18 In seinem Artikel Sportjournalismus in der Krise: Lieber irgendwas über Ronaldo (Taz, 10. Dezember 2021) beschreibt der Journalist Martin Krauß die Entwicklung in einem erheblichen Teil der deutschen Medien als dramatisch. Ein Zitat von Tobias Schächter, Sportredakteur der Badischen Neuesten Nachrichten, vermittelt dabei, wie bestimmte Mechanismen wirken: „Immer mehr Redaktionen setzen auf Instrumente wie Readerscan, schauen also ganz genau, was am meisten gelesen, am meisten geklickt wird. Heraus kommt, dass Geschichten über Cristiano Ronaldo im Blatt stehen müssen.“
19 Oliver Franklin-Wallis: Inside the Athletic – the start-up that changed journalism forever, GQ British, Ausgabe März 2020
20 Die jährlich herausgegebenen Anthologien erscheinen seit 1991. Jedes Jahr betreut von einem anderen Gastlektor. Am häufigsten in diese Serie aufgenommen wurden Gary Smith, Wright Thompson, Steve Friedman, S.L. Price, Charles P. Pierce, William Nack, Rick Reilly, Roger Angell, Pat Jordan und Rick Telander. Das Glanzstück dieser Edition ist der 776 Seiten starke Sammelband The Best American Sports Writing of the Century.
21 Steve Henson: Bryant and His Accuser Settle Civil Assault Case. Los Angeles Times, 3. März 2005
22 Nils Minkmar: Idealisierung von Stars – Perfektion ist keine menschliche Kategorie, Spiegel Online, 2. Februar 2020
23 Ulrich Bröckling: Postheroische Helden – Ein Zeitbild, Berlin, 2020. Interviewzitate aus Deutschlandfunk, Büchermarkt, Ulrich Bröckling im Gespräch mit Miriam Zeh, 5. März 2020
24 Karl-Heinrich Bette: Sporthelden. Spitzensport in postheroischen Zeiten, Seite 22ff.
25 Howard Bryant: Novak Djokovic is a profile in selfishness, and sports leaders are failing us all, ESPN.com, 12. Januar 2022
26 Siehe Denkmalpflege auf Seite 40ff.
27 Siehe Das Trendbrett auf Seite 250ff.
28 Siehe Wo nur noch Zahlen zählen auf Seite 263ff.
29 Tiger Woods. Charisma für Millionen, Berlin, 1998
30 Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports, Norderstedt, 2019
31 Dirk Nowitzki – So weit, so gut: Von Würzburg zum Weltstar – eine etwas andere Biographie, Hildesheim, 2019
THE SPIRIT
Das Koordinatensystem einer Sportwelt, die Helden produziert, weil sie Helden braucht
Es gibt Menschen, die jede Zurückhaltung ablegen, wenn sie ihn entdecken. Sie betasten seine Arme und Beine. Reden auf ihn ein. Und versuchen auf eine hypnotische Art, mit ihm zu kommunizieren.
Den Annäherungsversuchen ist er wehrlos ausgeliefert. Denn der Sockel, auf den ihn der Bildhauer gestellt hat, damit er mit ausgestrecktem Arm und einem Ball in der Hand für immer und ewig zu einem imaginären Korb fliegt, ist nur etwas mehr als 1,50 Meter hoch. Michael Jordan in Bronze – ein Denkmal des amerikanischen Sports mit dem Titel The Spirit – hat auf diese Weise sehr menschliche Dimensionen behalten.
Er ist zum Greifen nah.
Der Platz, an dem er aufgestellt wurde, ist gut gewählt. Es ist der Bereich vor Tor 4 des United Center in Chicago, einer der Kathedralen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Jordan, der in dieser Sporthalle mit den Chicago Bulls manchen Meisterschaftserfolg errungen und einen Klub zurückgelassen hat, der seitdem nie wieder auch nur in die Nähe der alten Erfolge kam, wird auch in Zukunft ihre bedeutendste Ikone bleiben. Die Stimmung des Jahres 1995, als er nach einem Baseball-Intermezzo in Alabama32 nach Chicago zurückkehrte, hat diesen Status gleichsam zementiert. Die Szenen von damals blieben unvergessen. „Es war verrückt“, sagte Bulls-Center Will Perdue. „Es gab Leute, die vor seiner Statue gebetet haben. Sie haben gebetet, dass er zurückkommt.“
Der beste Basketballer der Welt hat in jenen Tagen nicht nur seine Fans in eine ungewöhnliche Begeisterung versetzt. An der New Yorker Börse stiegen die Aktien der Firma Nike, des Herstellers der Air-Jordan-Schuhe.
Gerade weil seine Popularität so enorm war, ist sein Stellenwert nur schwer zu messen. Keine Statistik vermag zu erfassen, was der Mann aus North Carolina auslöste, als er zum Aushängeschild einer Stadt wurde, deren bekanntester Einwohner einst ein Gangster namens Al Capone war. Aber sein Einfluss auf die Umwälzungen in der Beziehung zwischen kommerziellem Sport und der modernen westlichen Gesellschaft lässt sich durchaus beschreiben. Michael Jordan, ein leichtfüßiger Spieler mit fast balletthaften Bewegungen und einem unbändigen Willen zum Sieg, war Symbol und Wegbereiter für eine Entwicklung, in deren Rahmen Athleten immer stärker Einfluss auf das Denken und Handeln von Millionen von Menschen nehmen. Von Menschen, die Sport wie eine Droge inhalieren.
Der Entwicklung haftet etwas Zwangsläufiges an – nicht nur in den USA. Dort zeigen sich manche Phänomene allenfalls deutlicher und ausgeprägter als in anderen Ländern – etwa beim Nachruhm eines Baseballspielers wie Babe Ruth, dessen Leben mehrfach verfilmt wurde. Oder wie im Fall von Joe DiMaggio, dessen Name in dem Pop-Song Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel verewigt wurde (Zitat: „Where have you gone, Joe DiMaggio?“). Ihr Symbolcharakter wirkt stärker – bis an den Rand zur Groteske, wie im Fall des Boxers Muhammad Ali, dem einstigen Großmaul, der später krankheitsbedingt nur noch schweigend die Sympathien der Welt genießen konnte. Sie wirken gelegentlich wie morality plays33, etwa dann, wenn jemand wie Mike Tyson, im Ring ein gnadenloser Faustkämpfer, als verurteilter Gewalttäter im Gefängnis landet. Wenn ein Ausnahmegolfer mit einem Vermögen von mehreren hundert Millionen Dollar wie Tiger Woods aufgrund eines Sexskandals beinahe aus der Bahn geworfen wird. Oder wenn Steuerbehörden mit der Macht des Gesetzbuchs etwa in Deutschland Tennisprofis wie Boris Becker und Steffi Graf oder Fußballmanager wie Uli Hoeneß in heikle Situationen bringen.
Sie alle und ihre verschlungenen Biographien gehören zu der Stoffsammlung, die eine neue Art von Identifikationsfiguren geschaffen hat. Spitzensportler von Weltrang, die einerseits zwar durch ihr Können das Unterhaltungsbedürfnis der Massen über kulturelle und Sprachgrenzen hinweg bedienen, die zu unkritisch verehrten Ikonen stilisiert werden, aber nur selten den Anspruch der Gesellschaft erfüllen, die sie gerne allzu naiv zu Vorbildern machen würde.
Mit diesem Spannungsverhältnis hat Michael Jordan schon früh umzugehen versucht. Deshalb präsentierte er sich zwischendurch als angelernter Sportphilosoph und ließ seine Gedankenkrümel über die neurotische Wechselbeziehung zwischen Ehrgeiz, Sport und Öffentlichkeit zwischen die Buchdeckel der Motivationsfibel I Can‘t Accept Not Trying pressen. Das Werk offenbarte, dass Jordans Antriebskräfte offensichtlich einem manischen inneren Monolog entspringen: aus der ständigen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Scheiterns. „Es ist hart“, beschrieb er das Gefühl, „wenn man jedes Mal auf dem Spielfeld alles bringt, was man hat, und trotzdem verliert.“
Der real existierende Jordan ist das Produkt einer faszinierenden Sportkultur. Einer vielschrötigen Maschinerie ohne Vereinsmeierei und staatliche Lenkung, die mit den Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft lebt und durch sie gedeiht. So ist sie auf der einen Seite bis zum letzten T-Shirt mit aufgedrucktem Club-Emblem konsequent durchkommerzialisiert und verlangt den Profis im Laufe ihrer Karriere alles ab, was sie haben: ihre Gesundheit und eine Söldnermentalität vom Zuschnitt der Angehörigen der französischen Fremdenlegion.
Aber Amerikas Stars kommen nicht aus dem Nichts. Die meisten besuchen Universitäten, die aus Tradition das Fundament und das Rückgrat des organisierten Leistungssports in den USA bilden. Das erklärt, weshalb die große amerikanische Sport-Show von heute in einem philosophischen Rahmen existiert, der in Elite-Universitäten wie Harvard und Yale gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurde: Damals galt Sport als Inbegriff der Charakterschulung für junge Männer, die es zu etwas bringen wollen.
Der Anspruch mag übertrieben klingen. Denn die Idee hat, seitdem die Universitäten selbst das Sportgeschehen kommerziell ausschlachten, ihre naive Unschuld verloren. Dennoch produziert der College-Sport auch heute noch mit Hilfe des Fernsehens ein spezifisch amerikanisches Irresein. Bierselig feuern Ex-Studenten in Sportbars und auf Partys den sportlichen Nachwuchs ihrer Alma Mater an. Ganze Bundesstaaten wie Indiana und Kentucky im Basketball oder Alabama und Texas im Football identifizieren sich mit College-Athleten.
Die unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von ihren Kollegen in den Profiligen: Amerikas Studenten waren bis vor kurzem echte Amateure.34 Egal ob sie gewannen oder verloren – solange sie die Farben der Hochschule trugen, bekamen sie nichts außer einem Stipendium. Sie wurden streng abgeschirmt von Schuh-Deals, Prämien, Sachgeschenken, Vorverträgen und sogar von Essenseinladungen. Selbst jemand wie Tiger Woods hatte als Student keinen Spielraum. Als er mit seinem namhaften Golferkollegen Arnold Palmer eines Tages ein Restaurant besuchte, bezahlte der zwar die Rechnung. Woods jedoch musste ihm hinterher einen Scheck schicken. Hätte er Palmer nicht seinen Anteil erstattet, hätte er sein Stipendium einbüßen können und wäre gezwungen gewesen, die teuren Studiengebühren der Stanford University selbst zu bezahlen. Und dieses Geld hatte der Mann damals nicht, der später als allererster Sportler die Milliardengrenze an Bruttoeinnahmen überschreiten sollte.






