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Als er schwieg, konnte ich nichts sagen. Ich hatte auch zu essen aufgehört.
„Man hat diese Dinge ja in den Nachrichten gesehen“, sagte Eveline, „aber vorstellen kann man es sich trotzdem nicht richtig.“
„Was hast du denn auf Bali getrieben?“, fragte ich. „Urlaub?“
Er nahm einen Schluck Rotwein und schüttelte den Kopf.
„Ich war bereits ein ganzes Jahr dort, als der Tsunami kam.“
„Und was macht man ein Jahr auf Bali?“, fragte Eveline.
Sie schien nicht mitzubekommen, dass ihm das Thema unangenehm war. Er war blass geworden, als sie ihn nach seiner Zeit auf der Insel fragte.
Ich nahm mir noch ein paar Tapas und nutzte die kurze Pause, um selbst eine Frage zu stellen.
„Mich würde interessieren, wie du diese Katastrophe verarbeitet hast? Viele Menschen, die so etwas erleben, haben Spätfolgen, Angstzustände, Panikattacken ...“
„Panikattacken habe ich zum Glück keine. Aber wenn ich davon spreche, wird es mir jedes Mal wieder mulmig. Dann sehe ich alles wieder vor mir, rieche das Wasser und höre die Schreie.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Eveline. „Das muss furchtbar gewesen sein! Erzähl, wie es weiterging.“
Je mehr er sprach, desto hilfloser wirkte er. Er versuchte sich offenbar die Szenerie im Hotel zu vergegenwärtigen und baute im Geist das ganze Durcheinander noch einmal auf. Aber er schüttelte immer wieder den Kopf und unterbrach seine Rede, als könne er sich nicht mehr genau erinnern.
„Ich habe schon so lange nicht mehr davon gesprochen. Es kommt mir vor, als wäre das in einem früheren Leben passiert.“
„Warum isst du denn nichts?“, fragte Eveline und schenkte ihm wieder Wein nach.
Ich sah, dass er Mühe hatte die Fassung zu wahren. Er sprach zwar weiter, aber der Schweiß auf seiner Stirn und sein stierer Blick verrieten mir, dass ihm das Thema zusetzte. In meiner Vorstellung war der Tsunami eine der schlimmsten Katastrophen, in die ein Mensch geraten konnte. Die Welt stand in diesem Moment kopf, alle Beziehungen lösten sich auf, jeder Halt wurde in den Strudel gerissen. Wenn Frank ein solches Chaos aus nächster Nähe – im ersten Stock des Hotels – miterlebt hatte, dann hatte er Momente schlimmster Verlassenheit, Ängste eines frei schwebenden Menschen im Weltall durchgemacht.
Nach einer halben Stunde sagte er, er wolle gehen. Er bat mich, ihn kurz vor die Tür zu begleiten. Er müsse mir noch etwas sagen.
Wir zogen unsere Jacken an und gingen auf die Straße. Es war ein dunstiger Maiabend. Ohne lange zu überlegen, ging ich auf die Alb zu, um auf den Spazierweg längs des Flüsschens zu gelangen. Er folgte mir die wenigen Treppenstufen hinunter, wir gingen über die kleine Brücke und blieben ans Geländer gelehnt vor dem rauschenden Wehr stehen.
Frank blickte in das schäumende Wasser, das nur etwa zwei Meter vor uns durch die Schleusenanlage gejagt wurde. Es war ein gleichmäßiges Rauschen, das die Dunkelheit durchschnitt, ohne dass es einen zu sehr bedrängte.
Nach ein paar Minuten sagte er seufzend: „Hätte ich doch auch die ganze Zeit hier leben können! Tagsüber das Büro. Abends ein bisschen an der Alb spazieren.“
„Du hast dich in der Welt umgesehen. Ist doch auch nicht schlecht.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das Reisen wird allgemein überschätzt. Es ist ja doch nur das Sahnehäubchen auf dem unbegreiflichen Ganzen. Außerdem kann es einen aus der Bahn werfen und süchtig machen. Ich hätte mir lieber etwas aufbauen sollen. Jetzt muss ich mit über Vierzig noch mal von vorne anfangen. Mit Laien zusammen Theater spielen. Ich will nicht undankbar sein, ganz und gar nicht. Es ist ein großer Glücksfall, dass ich dich und deine Frau getroffen habe. Und dass Eveline mich in die Gruppe aufgenommen hat.“
Ich spürte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich schwieg.
„Du weißt nicht, wie wichtig das für mich ist“, fuhr er fort. „Ich war total am Ende, sah keinen Ausweg mehr. Und da treffe ich euch.“
„Sag mal, wo hast du eigentlich deine spätere Frau kennengelernt?“
„In Teneriffa. Nicki war auch Animateurin und wir haben lange zusammengearbeitet und uns angefreundet. Dann haben wir in Santa Cruz geheiratet. Nach einem dreiviertel Jahr war die Ehe schon kaputt.“
„Das ist schwer vorstellbar.“
„Alles ist schwer vorstellbar!“, sagte er plötzlich laut. „Wenn man hier steht, umgeben von dieser Fluss-Idylle, dieser wohl tuenden Sicherheit, diesem kleinen feinen Leben!“
„Was willst du damit sagen?“
Er schwieg, schaute ins Wasser und hielt das Geländer mit beiden Händen umklammert.
„Warst du wirklich so lange auf Bali?“, fragte ich. „Hast du denn so dick geerbt, dass du dir das leisten konntest?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Bali, das klingt für dich vermutlich nach Abenteuer, Exotik, Vulkane und Felsentempel und so weiter. Das ist dort alles zu sehen, aber ich war nicht als Tourist unterwegs. Ich habe in einem kleinen Strandressort als Callboy gearbeitet. Das war alles. Wäre der Tsunami nicht gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch dort arbeiten. Allerdings wird man auch nicht gerade jünger.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Etwas hilflos stammelte ich schließlich: „Als Callboy? ... Warum ...?“
Er stieß einen verächtlichen Laut aus.
„Ich hab das verdammte Geld gebraucht.“
„Und jetzt willst du vermutlich, dass ich Eveline nichts davon sage?“
„Nein, das ist nicht meine Sorge. Ich will nur, dass du mich nicht verachtest und schlecht über mich denkst. Mir ist der Kontakt zu euch absolut wichtig. Ich will euch nicht belügen. Darum bin ich so offen und erzähle es dir. Auch wenn’s mir nicht leicht fällt.“
Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.
5
Unser Alltag hatte sich seit diesem Frühjahr verändert. Johanna machte sich zu Hause rar, sie wollte kaum noch Zeit mit uns verbringen und traf sich lieber mit ihren Freundinnen. Auch zu Besuchen bei den Großeltern wollte sie nicht mehr mitkommen, was dazu führte, dass Lissi und Ernst uns noch häufiger zu sich einluden. Sie versuchten praktisch jeden zweiten Sonntag uns zum Mittagessen in ihre Wohnung am Stadtgarten zu lotsen. Mit viel diplomatischem Geschick bog Eveline in drei von vier Fällen einen Besuch ab, auch weil sie wusste, dass ich nicht viel Sinn für diese Familiensitzungen hatte. Dagegen war es eine Seltenheit, dass wir von ihnen Besuch bekamen. Sie schienen wenig Verlangen nach einer Rückkehr in ihr altes Haus zu haben, wobei Ernst noch eher dazu bereit war als Lissi, die manchmal genervt ausrief: „Ach, die alte Bretterbude will ich nicht mehr sehen!“
Das war ungerecht dem schönen Haus gegenüber. Ich vermutete, dass sich Lissi ungern an die steilen Treppen im Haus erinnerte, die die Bewohner täglich zu Turmbesteigungen zwangen. Für Eveline und mich waren diese Treppen eine leicht genommene sportliche Übung. Ich hatte mir immer schon heimlich gewünscht in einer solchen Bürgervilla zu wohnen, wo eine alte Standuhr den Takt vorgab, während durch ein kleines vergittertes Fenster in der Diele und ein kaum größeres in der Küche ewiges Dämmerlicht fällt. Sicher waren es ausschließlich die Spuren von Evelines Eltern, die uns umgaben, aber Eveline verstand es, die nötigen Modernisierungen vorzunehmen, so dass nie der Eindruck entstand in einem Museum zu wohnen.
Allerdings konnte ich zu Hause nicht effektiv arbeiten und musste, auch wenn es eine zusätzliche finanzielle Belastung bedeutete, ein kleines Büro unterhalten. Nur dort war ich frisch und geistig klar genug. Das Büro war leer, es gab keine Bilder an den Wänden und das Fenster zeigte die Kronen zweier Straßenbäume. Auf dem Schreibtisch lag immer ein ansehnlicher Papierstapel und ein paar kleine beschriftete Zettel, die eine Verbindung zum Unerledigten darstellten.
Während der Arbeit musste ich unbedingt offline sein, um die Trägheit im Gehirn aus eigener Kraft zu besiegen. Falls ich zwischendurch Anregungen brauchte, ging ich hinunter in die Galerie Weinbrenner und drehte dort eine Runde durch die drei Räume, in denen stets wechselnde Ausstellungen zu sehen waren.
Eines Nachmittags stieß ich dort auf eine Ausstellung, die Horror- und Albtraummotive zum Thema hatte. Es waren DIN A4-große Federzeichnungen und Lithographien, die menschliche Wesen in starken Verrenkungen und mit geöffneten Mündern darstellten. Die Künstlerin orientierte sich offensichtlich an Goyas Lithographien, den Schlaf der Vernunft und die Macht des Irrationalen. Ein Bild zeigte den weit aufgerissenen Rachen eines aufrecht stehenden Ungeheuers, von dessen Kopf zottelartige Haut- und Haarfetzen abstanden, die wie in einer heftigen Bewegung um das Tier herum wirbelten. „Die Bärin“, so lautete der Titel dieser Zeichnung.
Mich beeindruckten diese Fratzen, zumal mir die Bildästhetik in den Zeichnungen gelungen schien und viele sorgfältig ausgearbeitete Details meinen Blick fesselten. Ich blieb länger in der Galerie als ich eigentlich beabsichtigt hatte; außer mir war niemand im Raum, so dass die Ungeheuer sich direkt an mich zu richten schienen.
Merrit Merrit (so hieß die Künstlerin) verstand es ausgezeichnet mit dem Unheimlichen zu spielen. Ich bedauerte, die Vernissage verpasst zu haben, wo sie bestimmt anwesend war. Vielleicht würde sie noch einmal bei der Finissage in die Galerie kommen. An diesem Abend würde ich ihr sogar eine der Zeichnungen abkaufen (sie waren nicht teuer, kosteten zwischen 1200 und 1400 Euro). Ich stellte mir Merrit Merrit vor: dunkles langes Haar, nicht sehr groß, unscheinbar gekleidet. Ein nachdenkliches, kluges Gesicht. Merrit wusste, dass Angst und Seelenqualen unwiderstehliche Attraktivität besaßen.
Nachdem ich die Ausstellung verlassen hatte und ins Büro zurückgekehrt war, konnte ich mich plötzlich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Als wäre ich in einen Strudel geraten, flogen meine Gedanken hin und her und fanden keine Ruhe. Das Schlimmste an derartigen Zuständen war die Hilflosigkeit, in die sie mich versetzten.
Ich legte ein leeres Blatt Papier vor mich hin – sozusagen zur Abwehr der bösen Geister. Wäre ich jetzt zu Hause, würde ich ins Wohnzimmer oder in den Garten gehen, um mich abzulenken. Aber in diesem Zimmer gab es keine Ablenkung. Das Zuhause bestand aus tausend Zerstreuungen, während das Büro wie eine Gefängniszelle war. Ein Ort, der nur dazu diente die Gedanken in eine klare Reihenfolge zu bringen.
Doch ich hatte nicht die Kraft mich zu sammeln und mir den Tsunami vorzustellen und merkte zu meinem Entsetzen, dass ich wohl auch in Zukunft nicht mehr dazu fähig sein würde. Der Tsunami war für mich zu einer gedanklichen Unmöglichkeit geworden.
Das hing sicher mit Frank Kalina zusammen. Wenn es stimmte, dass er Zeuge der Katastrophe gewesen war, dann hätte ich ihn danach befragen sollen. Durch ihn hätte ich Details erfahren können, die ich nirgendwo sonst bekam. Aber ich wollte das Thema allgemeiner verstanden wissen und zu Geschichten formen. Die meisten Texte, die ich bisher bekommen hatte, spielten nicht im Südpazifik, sondern umkreisten die Katastrophe aus der Ferne.
Doch jetzt konnte ich mir keine Geschichte mehr über böse Naturmächte ausdenken. Ich saß nur da und dachte an Frank Kalina. Schließlich nahm ich das weiße Blatt Papier und notierte: „Frank Kalina – alias Frank Steiner – arbeitet als Callboy auf Bali, später als Animateur auf Teneriffa. Er heiratet und lässt sich schon nach einem dreiviertel Jahr wieder scheiden. Er kehrt erst nach vielen Jahren im Ausland nach Deutschland zurück. Warum nach Karlsruhe? Ist es das Geld seiner Tante?“
Es las sich wie die Stichpunkte zu einer Erzählung. Aber natürlich hatte ich nicht vor eine Geschichte über Frank zu schreiben.
Den weiteren Tag im Büro verbrachte ich damit, zwei Artikel zu beenden, die nichts mit dem Tsunami zu tun hatten. Ich schickte sie sofort ab, konnte aber nur halb davon ausgehen, dass sie wirklich gedruckt wurden.
Am Sonntag kamen meine Schwiegereltern zu Besuch. Eveline hatte ihnen versprochen, dass auch Johanna dabei sein werde. Wir setzten uns ins Esszimmer, wo es an diesem Tag wie im ganzen Haus ungewöhnlich warm war. Ich merkte, dass Johanna nur auf eine Gelegenheit wartete nach oben zu gehen. Obwohl ich sie gut verstand – da auch ich mich etwas langweilte –, blieb ich unerbittlich, wich ihren Blicken aus und tat so, als sähe ich sie nicht.
Wir hatten gerade den Nachtisch hinter uns gebracht, als es an die Terrassentür klopfte. Lissi und Ernst schienen es nicht zu hören, es war ein leises, aber beharrlich anhaltendes Klopfen. Von unserem Platz aus war die Terrassentür nicht zu sehen. Eveline schaute mich an, als erwarte sie, dass ich aufstand und nachsah. Sie ahnte genau wie ich, um wen es sich handelte. Ich überlegte nicht lange, warf die Stoffserviette neben meinen Teller und ging zur Tür.
Als ich mit Frank an den Tisch kam, berichtete Eveline ihnen bereits von unserem neuen Freund. Eigentlich war es mir recht, dass sie versuchte die Störung auf diese Weise zu überspielen.
Frank übernahm sofort die Initiative, begrüßte Eveline und Johanna fröhlich und gab den beiden Alten die Hand.
„Ich freue mich Sie zu sehen“, sagte er mit seinem charmantesten Lächeln, „ich hatte Eveline schon gesagt, dass ich bei Gelegenheit einmal vorbeischauen müsse, um Sie kennenzulernen. Sie hat mir gesagt, dass Sie von ihrer Theaterarbeit begeistert sind. Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin in ihrer tollen Gruppe mitzuwirken.“ Er ließ sich auf einen freien Stuhl an der Stirnseite nieder, direkt neben meinen Schwiegereltern, die ihn beide verwundert anstarrten.
Johanna kicherte vor sich hin und blickte abwechselnd auf Ernst und Lissi.
Lissis Augen wanderten zu Eveline, aber gleich darauf wieder zu Frank zurück, von dessen Erscheinung sie sichtlich beeindruckt war.
„Sind Sie neu in Karlsruhe?“, fragte sie.
„So neu kann er nicht sein“, sagte Ernst, „du hörst ja, dass er Mitglied von Evelines Theatergruppe ist.“
„Mitglied noch nicht“, sagte Frank, „ich bin vorerst nur Gast. Aber ich hoffe, dass ich bald fest dazugehöre.“
„Frank ist ein professioneller Schauspieler“, sagte Eveline. „Er hat Filme gedreht und viele Rollen gespielt, wir freuen uns sehr, dass er mit uns übt.“
„Ich habe allerdings eine längere Pause einlegen müssen“, sagte Frank. „Aber ganz egal, was ich gemacht habe und wo ich auch war, ich habe mich stets nach der Schauspielerei zurückgesehnt. Daran hängt nun mal mein Herz.“
„Ich wusste gar nicht, dass ihr so talentierte Freunde habt“, sagte Ernst.
„Sascha und Frank kennen sich schon aus der Schulzeit“, sagte Eveline. „Nicht wahr? Ihr wart zusammen auf dem Gymnasium in Frankfurt. Und jetzt sind sie sich zufällig hier über den Weg gelaufen.“
„Ich hätte dich nicht mehr wiedererkannt“, sagte ich, während ich ihm ein Glas hinstellte und mit Wein füllte, „es ist doch schon sehr lange her.“
„Aber sagen Sie mal, was haben Sie denn die ganze Zeit getrieben, wenn Sie nicht Ihren Herzensberuf ausübten?“
„Ernst, das muss er doch hier nicht erklären!“
„Kein Problem“, sagte Frank, „ich mache kein Geheimnis aus meinem Leben.“ Er lehnte sich im Stuhl zurück und seine Miene verfinsterte sich. Es war faszinierend, wie es ihm gelang die Aufmerksamkeit des ganzen Tisches zu fesseln. „Ich habe jahrelang Zeit vergeudet mit diversen Auslandsreisen. Das kann zur Sucht werden, das rastlose Umherziehen in der Welt. Ich habe nichts anderes gemacht als in unterschiedlichen Touristenorten zu jobben. Ich habe als Animateur in Teneriffa gearbeitet und mit Touristen an den Stränden herumgejoggt.“
„Frank hat lange auf Bali gelebt“, sagte Eveline.
„Wo genau?“, fragte Lissi und lächelte freundlich.
„Erst in Seminyak, später in Jimbaran. Beide Orte liegen im Süden. Dort sind die schönsten Strände.“
„Und jetzt stellt euch vor“, sagte Eveline und hob den Zeigefinger, „er hat auf Bali diesen verheerenden Tsunami miterlebt! Ist das nicht Wahnsinn?“
„O Gott, der Tsunami“, sagte Lissi. „Wann war das noch mal?“
„2004“, sagte ich.
„Hätte er da nicht genau die richtigen Informationen für dich?“, fragte mich Ernst. Er wusste von meinem aktuellen ReFuge-Projekt.
„Das haben wir schon besprochen. Ich suche keine Reportagen und Erlebnisberichte. Ich möchte Stories drucken.“
„Echte Fakten sind aber wertvoller als erfundene Geschichten.“
„Das sehe ich anders. Die Fakten zum Tsunami sind ja allgemein bekannt. Schau dir die Zeitungen und das Fernsehen an, in allen Medien gibt es jetzt gerade viele Rückschauen zu diesem Thema. Wir machen etwas anderes.“
Er zuckte die Achseln. „Mag sein, aber wenn du Fakten liefern würdest, könntest du sicher mehr verkaufen. Interessante Fälle, Tragik, knappes Überleben – die ganze Action eben.“
„Es geht um Literatur, Ernst, um ein Gefühl permanenter Bedrohung.“
„Was haben Sie in Bali gemacht?“, fragte Lissi.
Frank überlegte keine Sekunde.
„Ich habe dort im Tourismus gearbeitet. Für verschiedene Hotels Touren organisiert.“
„Sprechen Sie Indonesisch?“
Er lächelte. „Nein, nur ein paar Brocken. Statt diese schöne Sprache zu lernen, habe ich mich lieber bemüht ein guter Reiseführer zu sein. Meine Kunden waren stets zufrieden mit mir.“
„Wie beneidenswert! Bali – immer Sonne und exotische Landschaft. Ach, das stelle ich mir wunderschön vor“, sagte Lissi.
Ich blickte zu Eveline und bemerkte ein verstecktes Grinsen in ihrem Gesicht; ihre Mutter hatte sich bisher stets geweigert längere Flugreisen zu machen und ihre Urlaube außerhalb Europas zu verbringen.
Doch mehr als über Lissis Aussage wunderte ich mich über Frank. Er wirkte am Tisch keineswegs „minimalistisch“, sondern wie ein glänzender Selbstdarsteller. Sogar Ernsts Anspielung auf fehlende Geldeinnahmen, wie es das Leben eines Animateurs erwarten ließ, konterte er geschickt. „Geld ist nicht alles im Leben. Geld kann mir keine Überzeugung ersetzen. Unter all den Leuten, die ich bei meinem Vagabundenleben getroffen habe, waren es nie die Reichen und Besitzenden, die mir weitergeholfen haben, sondern solche, die sich mühsam zu einer Haltung durchgerungen haben. Menschen, die Bücher lasen und sich mit den Problemen des Lebens beschäftigten. Einschließlich ihrer eigenen Schwächen.“
Ich merkte, wie Evelines Blick Zustimmung signalisierte, während Johanna nur mühsam ein Gähnen unterdrückte.
„Mag sein“, sagte Ernst mit hochgezogenen Brauen, „Geld ist nicht alles, das stimmt. Aber es ist praktisch, wenn man es hat. Man kann sich schöne Dinge davon kaufen.“
„Das bestreitet hier ich glaub ich keiner“, sagte Lissi und schaute wieder zu Frank, als warte sie auf seine Antwort.
Frank saß unbeweglich da und schaute Ernst mit seinen funkelnden Augen ins Gesicht.
„Ich kam einmal auf einen Schlag zu sehr viel Geld. Für mich war es eine große Summe, mehr als ich zum Leben brauchte. Aber in dieser Zeit war ich am unglücklichsten, ich war leer und hatte keine Idee, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Das Geld hat mir nicht geholfen. Selbst wenn ich mir schöne Dinge gekauft hätte, was hätte es geändert? Sie werden mir nicht glauben, was schließlich den Umschwung brachte: Es war die Katastrophe. Erst der Tsunami am Strand von Bali hat mir gezeigt, dass ich am Leben bin. Ich hätte ertrinken können, ich hätte am Strand stehen und mir die Muscheln ansehen und dabei von der Riesenwelle erschlagen werden können, wie viele andere Unglückliche, die nicht merkten, was auf sie zukam. Ich habe nur durch Zufall überlebt, und dieser Zufall, diese Laune der Natur, war ein Heilmittel für mich.“
„Wie schön für Sie“, sagte Ernst mit Brummstimme und blickte zur Seite.
„Was für eine Dramatik!“, sagte Lissi und blies hörbar Luft aus. „Sie müssen wirklich dankbar gewesen sein. Das kann ich mir gut vorstellen.“
Frank schenkte ihr ein Lächeln und griff nach seinem Glas.
Wie abgesprochen taten Eveline und Lissi im selben Augenblick das gleiche. Alle drei nickten einander kurz zu und tranken einträchtig.
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