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„Wie lange liege ich hier schon, Schwester Claudia?“
Sie schiebt mir den Ärmel wieder herunter. „Heute ist Montag, also seit drei Tagen. Sie haben ziemlich starke Schmerz- und Beruhigungsmittel verabreicht bekommen, somit werden Sie in den nächsten Tagen auch noch viel schlafen.“
„Verstehe“, murmele ich. „Von wem sind die Blumen?“
„Von Ihrer Mutter.“
„Meiner Mutter? Wie hat sie davon erfahren?“
„Wir haben Ihren Ausweis in Ihrer Handtasche gefunden und die Polizei informiert. Die wiederum hat sie dann benachrichtigt.“
Polizei? Verdammt! Das ist nicht gut. Keine Ahnung, was ich denen erzählen soll!
Am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen.
Schwester Claudia wechselt die Infusionsflasche aus. „Das ist Kochsalzlösung“, erklärt sie mir, als sie meinen fragenden Blick sieht. „Sie haben viel Blut verloren. Durch einen so hohen Flüssigkeitsverlust kann der Kreislauf versagen. Wir wollten Ihnen Blutkonserven verabreichen, konnten aber die Gruppe nicht bestimmen?!“ Sie schaut mich fragend an. „Sie haben sehr ungewöhnliches Blut, junge Dame!“
„Ach ja?“ Ich zucke nur mit den Achseln.
Stirnrunzelnd beendet sie ihre Arbeit. „Die Beamten werden noch einmal im Laufe des Tages vorbeikommen, um Sie zu diesem Hundeangriff zu befragen“, sagt sie. „Ruhen Sie sich schön aus. Wenn Sie etwas benötigen, klingeln Sie einfach. Der Knopf befindet sich links neben Ihrem Bett.“ Sie nickt mir zu und verlässt geschäftig mein Zimmer.
Nun, da ich wieder alleine bin, muss ich an Liliana, meine Mutter, denken. Als ich geboren wurde, war sie selbst noch fast ein Kind; so kommt es, dass ich eine junge Mutter von gerade mal siebenunddreißig Jahren habe. Von meinem Vater weiß ich bis auf seinen Namen – Hakon – nichts. Er war noch vor meiner Geburt gestorben.
Das energische Klackern von spitzen Absätzen ist auf dem Gang zu hören.
Der kleine General ist unterwegs, denke ich grinsend.
Diesen Titel hat sie Ramona zu verdanken, die es immer sehr amüsant findet, wenn meine Mutter mich in einem manchmal höchst militärischen Tonfall durch die Gegend scheucht.
Die Tür wird schwungvoll geöffnet und ein apartes, schlankes Persönchen mit kurzen blonden Haaren stürmt herein. Sie trägt ein schickes Twin-Set aus altrosafarbener Seide mit dazu passenden hochhackigen Pumps. Sie sieht einfach hinreißend aus. Im Gegensatz zu mir legt Liliana stets großen Wert auf schicke Garderobe. Von uns beiden ist eindeutig sie das Modepüppchen.
Den Pappbecher in der Hand, bleibt sie für einen Augenblick wie angewurzelt im Türrahmen stehen, stöckelt dann aber mit kleinen Trippelschritten zu meinem Bett rüber.
„Angyalom“, begrüßt sie mich auf Ungarisch, was übersetzt mein Engel heißt. Sie stellt ihren Kaffee auf dem Nachttisch ab, nimmt vorsichtig mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich auf den Mund.
„Ich bin fast gestorben vor Sorge“, sagt sie mit ihrem niedlichen Akzent, wobei sie das R immer so herrlich rollt. „Was ist bloß passiert, Liebes? Die Ärzte haben gesagt, ein Hund hätte dich angefallen, aber die Wunden würden eher nach Spuren eines Kampfes mit einem Bären aussehen.“
„Es ist auch schön, dich zu sehen, Mama“, sage ich grinsend.
Liliana entspricht dem typischen Klischee einer Ungarin: wild, temperamentvoll und leidenschaftlich. Gute Laune und eine positive Lebenseinstellung scheint sie dauerhaft gepachtet zu haben. Aber jetzt sehe ich zum ersten Mal tiefe Besorgnis in ihren Augen. Stirnrunzelnd betrachtet sie zuerst meine Schulter und dann – sehr eindringlich – mich.
Oje, wenn der kleine General so guckt, sollte ich auf der Hut sein! Ich rutsche etwas tiefer unter die Decke. Was soll ich ihr erzählen? Die Wahrheit? Die würde sie mir eh nicht glauben. Niemand würde mir glauben. Soll ich sie anlügen? Sie ist meine Mutter, sie erkennt sofort, wenn ich lüge.
„Junge Dame“, sagt sie mit hochgezogener Augenbraue, „ich erwarte, dass du mir alles erzählst, und zwar wirklich alles! Die Wahrheit, nicht dieses Märchen, das du den Ärzten aufgetischt hast.“
Kann diese Frau Gedanken lesen?
„Mama, ich weiß selbst nicht genau, was ich da eigentlich erlebt habe.“
„Wie meinst du das, Angyalom?“
„Die Erinnerung ist zwar da, aber es kommt mir so unwirklich vor – wie ein böser Traum.“
Dass ich meiner Mutter nichts vormachen kann, ist mir bewusst, aber wie soll ich ihr eine so abstruse Geschichte erklären?
Ihr Gesichtsausdruck wird ernst und eine kleine Falte bildet sich auf ihrer sonst so makellosen Stirn. „Versuch es doch einfach. Erzähl deiner Mamicska, was passiert ist – und nichts auslassen, verstanden?“ Sie lächelt mir aufmunternd zu und zieht sich einen Stuhl heran.
Ich beginne vom Abendessen im Restaurant zu berichten. Liliana hört mir geduldig zu und lächelt, als ich Ramonas Namen erwähne. Doch dann komme ich an die Stelle, wo mir eine der Bestien ihre Klaue in meine Schulter rammt. Ihre Augen weiten sich vor Entsetzen und sie murmelt etwas auf Ungarisch. Ich beende meine Geschichte und es tritt eine merkwürdige Stille ein. Sie mustert mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. Überlegt sie, ob sie mich einweisen lassen soll? Oder folgt gleich ein Vortrag darüber, dass Kinder ihre Eltern nicht anflunkern dürfen?
„Mama, ich weiß, es klingt verrückt, aber genau so ist es passiert“, sage ich nachdrücklich.
Ihr Gesichtsausdruck verändert sich nicht, da beugt sie sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Mama?“
„Dann sollten wir Gott danken, dass du noch am Leben bist, Angyalom.“
Ihre Stimme ist seltsam belegt und eine kleine Träne bahnt sich ihren Weg über ihr hübsches Gesicht, die sie sich verstohlen wegwischt. Sie weint sonst nie.
„Du glaubst mir?“, frage ich ungläubig. „Einfach so?“
„Du bist meine Tochter und ich vertraue dir.“ Ihr Blick ist unergründlich. Kein Anzeichen von Zweifel. „Anja, die Polizei wird heute noch vorbeikommen und wir sollten uns überlegen, was du sagen wirst. Mit der Wahrheit sollten wir vorsichtig sein.“
„Polizei … die habe ich ganz vergessen“, flüstere ich und atme geräuschvoll aus.
„Bleib bei der Geschichte mit den Hunden, alles andere wäre zu … fantastisch.“
„Du weißt, ich kann nicht gut lügen. Die werden mir kein Wort glauben, Mama.“
„Das könnte passieren, aber was sollen sie machen? Du bist das Opfer! Selbst wenn sie deine Geschichte anzweifeln, müssen sie deine Aussage so hinnehmen.“
„Du hast wohl recht“, antworte ich leise.
„Natürlich, mein Schatz, Mamas haben immer recht!“ Sie streicht liebevoll über meine Wange. „Ich fahre jetzt kurz nach Hause, bin aber heute Nachmittag wieder da. Ich werde ein paar Zeitungen mitbringen und dann schauen wir mal, ob über den Angriff oder über sonstige seltsame Vorkommnisse etwas berichtet wurde.“
Nachdem sie gegangen ist, komme ich ins Grübeln. Irgendetwas sehr Seltsames geht hier vor. Liliana ist eine bodenständige Frau, die nicht viel von Fantastereien hält. Es wundert mich daher, wie schnell sie mir glaubte. Sie hat meine Geschichte noch nicht mal für eine Sekunde angezweifelt oder hinterfragt, beinahe so, als ob sie etwas Derartiges schon erwartet hätte.
Es wird immer merkwürdiger.
Es ist Nachmittag und Liliana hat die Zeitungen mitgebracht. Der Überfall wird nicht mit einer Silbe erwähnt, auch sonst steht nichts Außergewöhnliches drin. Keine Berichte über seltsame Sichtungen, noch nicht einmal in der Boulevardpresse. Es ist unheimlich, als hätte es diese Bestien nie gegeben und dieser Vorfall niemals stattgefunden. Nur der stechende Schmerz in meiner Schulter ist Beweis dafür, dass ich es mir nicht eingebildet habe.
Kurz nach ihrem Eintreffen erscheinen auch zwei Polizisten. Sie sind sehr höflich und rücksichtsvoll, aber man sieht ihnen an, dass sie meinen stotternden Ausführungen keinen Glauben schenken. Hilfesuchend schiele ich zu Liliana, die im Hintergrund steht, aber auch sie zieht nur ratlos die Schultern hoch. Als die beiden Beamten endlich weg sind, fühle ich mich noch elender.
5
Dienstag.
Ramona besucht mich. Sie hat einen Blumenstrauß und einen überdimensionalen Teddybären auf dem Arm.
„Süße, was um alles in der Welt ist nur passiert?“, fragt sie mit kreisrunden Augen und setzt sich neben mein Bett. „Liliana erwähnte etwas von einem Hundeangriff? Mir ist vor Schreck fast der Telefonhörer aus der Hand gefallen.“
„Ja, möchte man nicht glauben, gell? Und das mitten in der Innenstadt“, antworte ich und betrachte belustigt ihren entsetzten Gesichtsausdruck.
„Das ist wirklich passiert, nachdem wir uns verabschiedet hatten?“, fragt sie und umklammert den Stoffbären.
„Ja, nur zwanzig Minuten später.“
„Himmel, du musst mir alles erzählen, jede Einzelheit! … Isst du das noch?“, fragt sie unvermittelt und deutet auf den Pudding, der von meinem Mittagessen übrig ist. Grinsend schiebe ich ihr den Becher zu.
„Wenn ich nervös bin, muss ich was Süßes essen“, murmelt sie entschuldigend.
„Schon klar“, erwidere ich, so ernst es mir in diesem Augenblick möglich ist, und betrachte meine beste Freundin etwas genauer. Sie trägt einen kurzen lila Minirock und einen knatschgelben bauchnabelfreien Rolli. Ihre schlanken Beine stecken in hohen Overknee-Stiefeln mit Absätzen, in denen ich gewiss nicht laufen könnte. Meine sonst so stilsichere Freundin hat sich wohl etwas im Schrank vergriffen.
„Hast du deine Pläne geändert? Willst du dein Glück neuerdings an der Stange versuchen?“, frage ich und werfe schmunzelnd einen Blick auf ihr neuestes Outfit.
„Noch so’n Spruch – Kieferbruch!“, schnaubt sie, „du kannst von Glück reden, dass du in einem Krankenbett liegst.“
Es tut weh, wenn ich lache, und ich halte meine Hand auf den Verband.
Sie stupst mich an und löffelt meinen Pudding weiter.
„Nun erzähl schon, was ist am Freitag passiert? Und lass ja nichts aus!“
Die Wahrheit kann ich wohl kaum erzählen, also erfinde ich eine etwas harmlosere, glaubwürdigere Version von einem aggressiven streunenden Hund. Aber selbst die ist für Ramona schon schlimm genug. Sie hört irgendwann sogar auf zu essen.
„Oh mein Gott, ich glaube, ich wäre vor lauter Angst gestorben“, flüstert sie kreidebleich und schaut mich wie ein gebanntes Kaninchen an. Würde jetzt jemand hinter ihr die Tür zuschlagen, dann würde sie wohl ohnmächtig vom Stuhl fallen.
„Heilige Scheiße, wie bist du da nur heil … ähm … halbwegs heil wieder rausgekommen?“ Voller Ehrfurcht schielt sie auf meinen dicken Verband.
„Ein Mann auf einer Harley hat mich unter Einsatz seines Lebens gerettet.“
Peng – oje!
Ich sehe das Funkeln in Ramonas Augen. „Wie sah er aus? Hast du seinen Namen? War er groß? Größer als Kevin?“, beginnt sie mich zu löchern.
Ich verdrehe die Augen, aber das übersieht sie geflissentlich.
„Moni, ich war schwer verletzt! Ich hatte in diesem Augenblick wirklich andere Sorgen."
„Dann beschreibe ihn mir doch wenigstens … bitttteee!“
Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus, also erzähle ich weiter, verschweige aber die spitzen Ohren und die Zähne an seinem Gürtel. Sie starrt mich mit kreisrunden Augen an und ihre Sommersprossen beginnen regelrecht zu glühen. Das ist ein Ende genau nach Ramonas Geschmack!
„Und wie heißt er?“
Ich hebe entschuldigend meine Schultern.
„Du weißt nicht, wie er heißt? Aber du hast ihm doch deine Telefonnummer gegeben? Ich meine, es könnte ja sein, dass er sich nach dir erkundigen will“, sagt sie und versucht es beiläufig klingen zu lassen. „Hat er dir seine Nummer gegeben?“
„Nein, hat er nicht und meine hat er auch nicht.“
„Aahh!“ Sie hebt ihre Hände theatralisch in die Höhe und schaut mich fassungslos an. „Jetzt pass gut auf und lies es mir von den Lippen ab: Wenn ein junger Gott dir das Leben rettet, dann fragst du gefälligst nach seiner Telefonnummer!“
„Ich habe nie behauptet, dass er wie ein junger Gott aussieht.“
„Ach, halt die Klappe!“, zischt sie. „Hast du denn gar nichts von mir gelernt?“
„Hm“, überlege ich laut, „meinst du vielleicht die Lektion, wie ich mich schneller abschleppen lasse? Oder wie ich einen Knutschfleck – den ich übrigens noch nie hatte – am besten abdecke?“
Ramona stemmt wütend ihre zierlichen Hände in die Taille, als ich sie frech angrinse. „Nun mach mal ’n Punkt!“, fährt sie mich an. „Ich habe dir auch schon sehr viele wertvolle Ratschläge gegeben. Und, Schätzelein, du musst ja wohl zugeben, dass deine Erfahrung in punkto Männer bisher noch sehr unterentwickelt ist.“
Wo sie recht hat, hat sie recht. Allein die Tatsache, dass ich noch nie einen Knutschfleck hatte, spricht für sich.
„Ich gelobe Besserung, Meister Yoda“, säusele ich mit Unschuldsmiene. Das verfehlt nie seine Wirkung. Es zuckt bereits um ihre Mundwinkel.
6
Zwei Wochen später.
Meine Entlassungspapiere habe ich unterschrieben. Zwar war Dr. Wacek, mein behandelnder Arzt, gar nicht begeistert und versuchte mehrere Male, mir ins Gewissen zu reden. Doch er musste zugeben, dass er noch nie in seiner langjährigen Berufspraxis einen so schnellen Heilungsprozess erlebt hat. Normalerweise müsste ich noch mindestens einen Monat im Krankenhaus bleiben und anschließend zur Reha, aber meine Schulter ist auf dem besten Weg der Genesung.
Mein Taxi wartet bereits unten.
Liliana und ich wohnen nicht unmittelbar in Köln, sondern etwas ländlicher, wo das Bergische Land beginnt. Unser kleines Haus liegt am Rand eines Walds und ist nur über einen ungesicherten Feldweg zu erreichen. Wir wohnen so versteckt, dass Besucher, die das erste Mal zu uns kommen, sich häufig hoffnungslos verfahren. Unser kleines Domizil war ursprünglich ein altes Bauernhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das dann in den Sechzigern aufgestockt und in den Achtzigern von Grund auf saniert wurde. Nur am alten Gewölbekeller kann man noch sein ursprüngliches Alter erkennen.
Als das Taxi in den Feldweg einbiegt, macht mein Herz einen Sprung. Endlich wieder zu Hause! Liliana sieht mich bereits aus dem Küchenfenster und läuft mir strahlend entgegen. „Angyalom, da bist du ja endlich!“ Sie umarmt mich vorsichtig, um meine Schulter zu schonen. Dann schiebt sie mich etwas von sich weg und betrachtet mich genauer.
„Du bist dir sicher mit der frühzeitigen Entlassung?“, fragt sie stirnrunzelnd.
„Absolut sicher! Ich hätte es da keine Minute länger ausgehalten.“
Lächelnd nimmt sie mir die kleine Reisetasche ab und verschwindet im Haus, während ich das Taxi bezahle.
Aber ich will noch nicht rein. Zwei Wochen Krankenhaus reichen! Ich schließe meine Augen und sauge tief die klare Waldluft ein. Home, sweet home, denke ich lächelnd.
Es ist kühl und der Himmel wolkenverhangen. Fröstelnd reibe ich mir die Oberarme und fahre dabei auch vorsichtig über meine Schulter. Es tut nur noch wenig weh, hauptsächlich wenn ich eine ruckartige Bewegung mache. Irgendwo muhen ein paar Kühe. Langsam drehe ich meinen Kopf und betrachte glücklich die Umgebung, die mir so vertraut ist. Die große Wiese von Bauer Rossner, die Felder, die sich in sanften Hügeln über mehrere Kilometer erstrecken. In der Ferne ist die Pferdekoppel von Familie Burkhardt zu erkennen, wo die kleine Natalie oft auf ihrem Pony reitet. Ich blicke zum Wald rüber. Die Laubbäume bekommen langsam wieder ein grünes Kleid.
Ich beschließe, am nächsten Tag einen ausgedehnten Spaziergang durch den Wald zu machen, da ich aufgrund meiner Verletzung noch nicht joggen darf. Gerade als ich mich umdrehen und Liliana folgen will, sehe ich im dunklen Unterholz etwas, das dort eindeutig nicht hingehört.
Gelbe Augen!
Ein spitzer Schrei entfährt mir, ich stolpere rückwärts und falle fast über einen Blumenkübel. Benommen schaue ich wieder zum Wald hinüber, aber dort ist nichts – oder nicht mehr. Nur Bäume, Büsche und Dunkelheit, dort wo der Wald fast zugewachsen ist. Jedes Härchen auf meinem Oberarm hat sich aufgerichtet und ich vergesse fast zu atmen. Etwas berührt meine Hand und ich schreie wieder auf.
„Meine Güte, ich bin es doch nur“, sagt Liliana kopfschüttelnd.
„Mama, schau dorthin, siehst du was?“
Verwundert blickt sie in die Richtung, in die ich deute. „Bäume, Blätter und … oooohhhh.“
„Was!“, rufe ich fast hysterisch.
„Ein Eichhörnchen!“ Sie schnalzt mit der Zunge. „Also das ist in der Tat ungewöhnlich.“ Mit einem breiten Grinsen dreht sie sich wieder zu mir.
„Vergackeiern kann ich mich selber, Mama. Ich habe gelbe Augen gesehen! Ich schwöre es dir.“
Lilianas Gesicht verfinstert sich und sie blickt wieder zum Wald, aber nach einer Weile dreht sie sich zu mir und legt ihren Kopf schief. In ihrem Blick liegt so viel Mitgefühl. Sie nimmt mich wortlos in den Arm und drückt mich sanft.
„Denkst du, ich habe mir das gerade nur eingebildet?“, frage ich gequält.
„Einbilden ist das falsche Wort“, sagt sie nachdenklich. „Angyalom, was du erlebt hast, war traumatisch! Dein Gehirn wird dir möglicherweise noch in nächster Zeit hinter Bäumen oder Sträuchern Monster vorgaukeln. Lass dir Zeit und versuche an schöne Dinge zu denken.“
Wahrscheinlich hat sie recht. Ich versuche zu lächeln, aber das dumpfe Gefühl bleibt.
7
Zum Abendessen haben wir uns eine große Schüssel Spaghetti gemacht und sitzen schmatzend vor dem Fernseher. Normalerweise legt Liliana Wert darauf, Mahlzeiten ordentlich am Esstisch einzunehmen, aber heute Abend läuft im Fernsehen Notting Hill, die ich weiß nicht wievielte Wiederholung. Sie bekommt einfach nie genug davon. Ich wiederum bin einfach nur glücklich, wieder zu Hause zu sein.
Als der Film zu Ende ist, steht Liliana gähnend auf und gibt mir im Vorbeigehen einen Kuss auf meinen Hinterkopf. Dann steigt sie mit schlurfenden Schritten die Treppe hinauf. Eine Weile zappe ich noch durch das Fernsehprogramm, nur um festzustellen, dass bei so vielen Kanälen doch nichts Vernünftiges läuft. Die Holzscheite im Kaminofen sind komplett runtergebrannt, es wird also bald kalt werden. Ich schalte den Fernseher und alle Lichter aus, dann folge ich Liliana nach oben.
Endlich wieder im eigenen Bett schlafen!
Mein Kopf ist noch nicht ganz in der waagerechten Haltung, da bin ich schon weggetreten.
Ein erdbebenartiges Rütteln weckt mich mitten in der Nacht.
„Anja, wach auf“, flüstert Liliana aufgeregt und rüttelt heftig an meinem Arm.
„Was ist denn?“, murmele ich müde.
„Sscht! Steh auf, aber sei leise“, befiehlt sie mir in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Sie hat sich in ihren Bademantel gewickelt und umklammert den Schürhaken.
„Meine Güte, was ist denn los, Mama?“, frage ich erstaunt und schiebe schlaftrunken meine Beine über den Bettrand.
„Irgendjemand schleicht um unser Haus herum! Ich habe die Polizei bereits angerufen, aber die haben keinen Streifenwagen in der Nähe.“
Der Feldweg ist schon bei Tageslicht schnell zu übersehen. Es kann also ein wenig dauern, bis sie hier sind.
Sie deutet mit einer Kopfbewegung an, ihr zu folgen, aber ich halte sie am Ärmel fest. „Was hast du denn vor? Meinst du nicht, wir sollten lieber auf die Polizei warten?“
Ungehalten dreht sie sich um. „Ich werde auf keinen Fall kampflos hier herumsitzen und zuschauen, wie unser Hab und Gut gestohlen wird. Wir haben keine Versicherung und du weißt, dass es uns finanziell nicht sehr berauschend geht.“
„Meine Güte, willst du für das bisschen Zeug dein Leben aufs Spiel setzen?“
„Also unseren Plasmafernseher kriegen die kleinen Scheißer auf keinen Fall! Die letzte Rate habe ich erst vor zwei Monaten bezahlt!“ Sie funkelt mich an und umklammert den Schürhaken noch fester. Dann dreht sie sich um und schleicht weiter Richtung Treppe.
Trotz der beängstigenden Situation muss ich schmunzeln und mir tun die Einbrecher fast ein wenig leid. Niemand mit gesundem Menschenverstand legt sich mit dem kleinen General an. Aber dann fallen mir wieder die gelben Augen ein und ich frage mich, ob ich an diesem Freitagabend möglicherweise nicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dies würde doch dann bedeuten, dass sie ganz gezielt hinter mir her waren?! Aber warum sollten irgendwelche Monster aus der Hölle hinter einem Niemand wie mir her sein? Schlichtweg absurd!
An der Treppe bleiben wir stehen und blicken in die untere Etage, wo ich schemenhaft die Umrisse unserer Möbel erkenne. Vorsichtig, darauf achtend, das Knirschen der Treppe nicht allzu sehr herauszufordern, laufen wir hinunter. Liliana bedeutet mir, zu warten, während sie langsam in die Küche schleicht. Kopfschüttelnd schaue ich ihr hinterher und empfinde unser Verhalten in diesem Augenblick als reichlich überspannt. Das Wohnzimmerfenster ist nur wenige Schritte entfernt. Ich gehe rüber und schiebe vorsichtig den dicken Vorhang zur Seite. Die Wolkendecke ist aufgerissen und man hat einen recht guten Blick auf die Terrasse. Unsere alte Hollywoodschaukel, die langsam im Wind wippt, die Blumentöpfe, die Liliana bei den ersten Sonnenstrahlen rausgestellt hat. Bei Vollmond kann man sogar bis zu der Pferdekoppel der Burkhardts schauen.
„Anja, geh sofort vom Fenster weg!“, zischt Liliana wütend, als sie durch die Verbindungstür der Küche kommt.
„Also, Mama, ich finde das albern. Schau dir doch unser Häuschen an, hier gibt es nichts zu holen. Einbrecher nehmen in der Regel Villen ins Visier. Keiner würde sich die Mühe machen, hier einzubrechen.“
„Ich habe doch keine Halluzinationen. Als ich gerade im Bad war, habe ich aus dem Fenster mindestens zwei Gestalten unten in den Büschen herumschleichen sehen“, sagt sie wütend. „Vielleicht sind es auch nur Landstreicher, aber ich will kein Risiko eingehen.“
„Diebe sind keine potenziellen Gewaltverbrecher. Wir sollten kurz die Lichter anmachen, dann sehen sie, dass die Bewohner zuhause sind, und verschwinden wieder“, erwidere ich beschwichtigend.
„Und was ist, wenn du dich irrst? Wir haben keine Nachbarn. Im Grunde genommen sitzen wir hier wie auf einem Präsentierteller. Warte, ich prüfe schnell, ob die Hintertür verschlossen ist“, sagt sie und verschwindet mit wenigen Schritten.
„Als ob ich gegen eine Wand rede …“, murmele ich vor mich hin.
„Das habe ich gehört, junge Dame!“, zischt es leise aus der Dunkelheit.
Ernsthaft jetzt? Das hat sie gehört?
Die Wolkendecke hat sich wieder zugezogen und es ist stockfinster draußen. Mir schießt durch den Kopf, dass ich vielleicht das Licht auf der Veranda einschalten sollte, damit die Polizeibeamten leichter den Weg finden. Ein lautes Poltern im Hintergrund ist zu hören, gefolgt von einigen sehr unschönen ungarischen Flüchen.
„Alles okay bei dir?“, rufe ich nach hinten.
„Morgen räumen wir als Erstes diesen blöden Flur auf! Hier bricht sich noch jemand das Genick“, antwortet sie schimpfend.
Grinsend drehe ich mich wieder zum Fenster – und blicke direkt in ein wütendes gelbes Augenpaar, das mich durch die Scheibe fixiert!
Mit einem entsetzten Aufschrei stolpere ich zurück und falle über den Sessel, in dem ich mich vor Kurzem noch gefläzt habe. Mit schmerzverzerrtem Gesicht taste ich nach meiner Schulter, die nach dem Aufprall wieder pocht, als mit einem ohrenbetäubenden Krachen das Fenster zu Bruch geht und ein mächtiger grauer Körper in den Raum springt. Der Vorhang hat sich in seiner Klaue verfangen und er reißt ihn samt Schiene aus der Wand und schleudert ihn quer durch den Raum.
Vorsichtig luge ich über den Rand des umgestürzten Sessels. Dieses Ding hat sich auf seine Hinterbeine gestellt und stößt dabei mit seinem Kopf gegen die Wohnzimmerdecke. Ein tiefes Grollen dringt aus seiner Kehle und mein Herz setzt für einen Moment aus.
Sie sind wieder da! Hier! In unserem Haus!
Es geht auf alle Viere runter und setzt sich langsam in Bewegung. Seine scharfen Krallen zerfetzen den dünnen Teppich und sein wuchtiger Körper stößt alles um, was ihm im Weg ist. Gelähmt vor Angst beobachte ich, wie es sich langsam über den Sessel beugt. Sein hässliches, ledernes Gesicht kommt mir immer näher. Lauf!, schreit eine innere Stimme und ich erwache endlich aus meiner Lethargie. Ich versuche wegzukrabbeln, da stößt es wütend mit seinem Hinterlauf gegen den Sessel, der daraufhin laut polternd gegen ein Regal knallt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die Bestie gerade knurrend auf mich stürzen will, als sie plötzlich hart von einem Schürhaken am Kopf getroffen wird. Taumelnd prallt sie gegen eine Glasvitrine.