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„Weg hier!“, ruft Liliana. Sie zerrt an meinem Arm und irgendwie komme ich stolpernd auf die Beine. Die Schmerzen in meiner Schulter verdränge ich. Im Hintergrund bricht ein wütendes Geheul los. Als ich einen kurzen Blick zurück riskiere, sehe ich, dass es ein Auge verloren hat und sich vor Schmerzen hin und her wirft.
Wir laufen auf den Gang hinaus und von dort ins Esszimmer, das in der entgegengesetzten Richtung liegt.
„Ich habe aus dem Küchenfenster noch weitere drei draußen gesehen“, erzählt sie mir, als wir keuchend eine alte Truhe vor die Tür schieben.
„Ich fürchte, das wird nicht viel bringen“, sage ich und betrachte zweifelnd unser Werk. Diese Wesen haben enorme Kräfte und Möbel sind wohl kaum ein Hindernis für sie.
„Es soll sie nur etwas aufhalten“, antwortet Liliana. „Wir werden uns unten im Gewölbekeller verbarrikadieren. Die Tür zum Keller besteht aus schwerem Eichenholz, daran dürften diese Teufel etwas zu knabbern haben!“
Sie hat Angst, das spüre ich, aber trotz der Gefahr wirkt sie erstaunlich kontrolliert.
BUMM!
Etwas Schweres hat sich gegen die Esszimmertür geworfen und jedes einzelne Möbelstück in diesem Raum erzittert. Noch höchstens zwei Stöße und sie sind durch.
„Wenn wir uns im Keller verbarrikadieren, gewinnen wir etwas Zeit“, sagt Liliana. „Die Polizei müsste jeden Augenblick hier sein.“
„Aber Polizisten sind doch für solche Monster gar nicht geschult?“
„Anja, sind wir etwa geschult? Niemand auf der ganzen verdammten Welt ist auf solche Teufel geschult, weil es so etwas wie die gar nicht geben darf. Aber Polizisten haben wenigstens Waffen. Ein gezielter Schuss zwischen die Augen und die Biester sind Geschichte!“ Sie fährt sich erschöpft durch die Haare. „Los, komm.“
Es gibt wieder einen lauten Knall und das Holz zersplittert mit einem lauten Krachen. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie drei von ihnen über unsere jämmerliche Barrikade springen, als ich mit Liliana im hinteren Teil des Flures verschwinde. Wir hechten die wenigen Meter zur Eichentür, die die Begrenzung zum ursprünglichen, alten Haus ist. Nachdem wir durchgeschlüpft sind, schiebe ich den schweren Riegel vor und folge meiner Mutter die schmale Steintreppe hinunter. Die einzige Lichtquelle im Keller ist eine Glühbirne, die schwach von der Decke leuchtet.
Liliana hat wenigstens ihren Schürhaken, aber ich habe gar nichts. Ich brauche ebenfalls dringend eine Waffe und schaue mich verzweifelt im Keller um. Eine alte Kartoffelkiste ohne Kartoffeln, ein klappriges Regal mit ein paar Einmachgläsern, alte Möbel, die wir hierhin ausgelagert haben … absolut nichts Brauchbares.
Etwas Schweres prallt dumpf gegen die Eichentür und ich bilde mir ein, die Erschütterung selbst im Keller zu spüren.
„Mama, ich brauche dringend eine Waffe“, rufe ich und stolpere fast über unsere Koffer.
„Was hältst du hiervon?“, murmelt sie und betrachtet nachdenklich unsere alte Axt, die wir vor einiger Zeit gegen eine modernere mit leichtem Plastikgriff ersetzt haben.
„Perfekt!“ Ich schnappe sie mir und versuche, die richtige Haltung für mich zu finden, als es wieder laut knallt. Wir können ein Knacken hören, lange wird die Tür nicht mehr halten.
Liliana erbleicht, sie hatte wohl etwas mehr Vertrauen in das Eichenholz gesetzt.
„Verdammt! Was würde ich jetzt für eine Schrotflinte geben, ich würde kurzen Prozess mit ihnen machen und –“
Die schwere Kellertür zerbirst und drei fauchende Bestien springen die schmale Treppe herunter.
„Ziel auf ihre Köpfe, da müssten sie am empfindlichsten sein“, ruft mir Liliana zu und umklammert ihre provisorische Waffe. Während wir in den hinteren Teil des Kellers stolpern, versuchen wir alle drei im Blickfeld zu behalten, aber sie teilen sich bereits auf. Die in der Mitte hat ein Auge verloren und wirkt besonders wütend. Es ist nur ein leises Knurren zu hören und das Klackern ihrer riesigen Krallen, die sich in den brüchigen Steinboden des Kellers fressen. Trotz ihrer massigen Leiber bewegen sie sich mit erstaunlich geschickter Leichtigkeit.
„Anja, wir müssen die Luke neben dem Weinregal öffnen“, sagt Liliana neben mir leise.
„Die haben wir schon ewig nicht mehr benutzt. Keine Ahnung, wo der Schlüssel ist“, erwidere ich und beobachte die linke Bestie, die sich alarmierend schnell nähert.
Ich habe euch einmal überlebt, das schaffe ich auch ein zweites Mal!
Grimmig umklammere ich meine Axt mit beiden Händen. Irgendwie hat Lilianas kämpferisches Wesen auf mich abgefärbt und ich komme nicht umhin, sie zu bewundern.
„Was glaubst du wohl, weshalb ich in der Küche war?“, sagt sie und greift langsam in die Tasche ihres Morgenmantels, ohne ihren Blick von unseren Angreifern zu wenden. Sie zieht einen alten, leicht angerosteten Schlüssel aus der Tasche.
„Pass auf!“, schreie ich, als sich die von rechts näher kommende Bestie plötzlich aufrichtet und auf Liliana zuspringt. Sie weicht aber geistesgegenwärtig nach rechts aus und schlägt noch in der Drehung mit dem Schürhaken zu. Sie trifft die Bestie hart im Magen, woraufhin sie jaulend in den hinteren Bereich des Kellers zurückweicht. Triumphierend zwinkert Liliana mir zu.
Ein seltsames Raunen geht durch den Keller, als die anderen beiden plötzlich stehen bleiben. Ich höre wieder diese seltsamen Zischlaute, mit denen sie sich scheinbar verständigen.
Neben mir schnipst Liliana mit dem Finger, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Fang! Du bist näher dran. Ich kümmere mich um die beiden da“, ruft sie, scheinbar bestärkt von ihrem Erfolg, und wirft mir den Schlüssel zu. Ich fange ihn auf und trete vorsichtig nach hinten. Beide Wesen knurren und verfolgen mich mit ihren Augen.
Nur keine hektischen Bewegungen.
Vorsichtig schiebe ich den Schlüssel in die Luke, die früher zum Abladen von Kohle benutzt wurde.
Warum greifen sie nicht an?
Aber da beginnt eines von ihnen zu sprechen. Zischlaute, die ich nicht verstehe, und ich höre wieder dieses ominöse Wort: „Súrrr …“
Auch dieses Mal bewegen sich die Lippen nicht und trotzdem wird es lauter.
Brüllt sie mich etwa an?
Ich blicke zu Liliana rüber, die angewidert den Kopf schüttelt. Also ist es keine Einbildung, sie kann es auch hören. Da holt die Bestie plötzlich aus und zerhaut wütend eines der Metallregale, als wäre es aus Papier. Vor Schreck weiche ich zurück, bis ich die Wand in meinem Rücken spüre.
„Duck dich!“, brüllt Liliana und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie eine der Bestien sich von links angeschlichen hat und mich anspringt. Gerade noch rechtzeitig rolle ich mich zur Seite weg, sodass sie, ohne mich zu erwischen, hart gegen die Wand prallt. Ihre langen Fangzähne haben meine Kehle nur um wenige Zentimeter verfehlt. Ich stehe bereits wieder auf den Beinen, während sich die Bestie noch benommen aufrappelt, da ergreife ich instinktiv die Initiative. Ich nehme all meine Kraft und meinen Mut zusammen und schlage zu.
Sie schreit nur kurz auf, als meine Axt ihren Kopf spaltet, und bleibt nach wenigen Zuckungen leblos liegen.
Benommen starre ich auf das tote Ding vor mir und kann nicht fassen, was gerade passiert ist – ich habe ein lebendes, atmendes Wesen getötet!
Aber ich weiß auch, dass ich es mir jetzt nicht leisten kann, einen Moralischen zu bekommen, da sich im Hintergrund ein Kreischen erhebt.
„Beeil dich!“, höre ich Lilianas verzweifelte Stimme.
Ich drehe am Schlüssel und das Schloss geht sofort auf – aber die Tür klemmt. Der Rahmen muss sich im Laufe der Jahre verzogen haben.
„Auf den Boden!“, ruft Liliana und ich reagiere wieder, so schnell es mir möglich ist, aber dieses Mal habe ich nicht so viel Glück. Die scharfen Krallen verfehlen mich zwar, aber das Gewicht des massigen Körpers erwischt mich mit ganzer Wucht. Wir krachen beide gegen die Lukentür, die nach diesem Aufprall mit einem leisen Knarren aufgeht.
Kühle Nachtluft strömt herein, als ich mich wieder aufrappele. Meine Schulter brennt wie Feuer. Die Bestie hat sich an der Türklinke verletzt und schüttelt benommen den Kopf. Liliana greift nach meinem Arm und hilft mir auf die Beine, dann zieht sie mich langsam von der Luke weg. Noch vom Aufprall benommen, versuche ich zu begreifen, warum wir uns vom Ausgang wegbewegen und nicht darauf zu. Vorsichtig drehe ich meinen schmerzenden Kopf, da erkenne ich den Grund: Vor der Luke steht die vierte Bestie und versperrt uns den Weg.
„Oh verdammt! Das sieht nicht gut aus“, flüstere ich.
„Bleib dicht bei mir und denk dran: Augen und andere Weichteile“, raunt Liliana und drückt mir unauffällig die Axt wieder in die Hand.
Die vierte Bestie springt in den Keller und gesellt sich zu ihren Artgenossen. Liliana und ich stehen Rücken an Rücken, unsere Waffen fest umklammert, als die drei beginnen uns zu umkreisen. Es ist offensichtlich, dass sie uns überlegen sind, daher wundert es mich, dass sie nicht angreifen. Spielen sie vorher mit ihren Opfern wie die Katze mit der Maus? Einer von ihnen zischt etwas und die anderen geben merkwürdige kehlige Geräusche von sich, fast wie ein Lachen. Und dann wird es mir klar: Sie verhöhnen uns und sie wollen, dass wir uns fürchten.
Diese Biester denken!
Ich umklammere meine Axt so fest, dass die Handknöchel weiß durchschimmern, als die drei sich plötzlich aufrichten und erstarrt innehalten.
Es hallt durch die Nacht, wie das Geheul eines aufkommenden Sturms. Ein Donnern, kurz bevor der Blitz einschlägt. Laut, furchteinflößend und … majestätisch schön!
Unsere drei Angreifer weichen irritiert in die hinteren Ecken des Kellers zurück. Liliana und ich sind für einen Augenblick vergessen. Das ist unsere Chance! Ich schnappe mir Lilianas Hand und ziehe sie zur Luke. Wir sind gerade hinausgeklettert, als drinnen bereits ein wütendes Zischen zu hören ist. Viel Vorsprung bleibt uns nicht.
„Was um Himmels willen war dieses Donnern gerade?“, fragt Liliana keuchend, als wir über den Hof laufen.
„Ich habe keine Ahnung, aber was immer es war, es hat uns vorerst das Leben gerettet“, antworte ich.
Etwas ratlos bleiben wir stehen. Wir haben keinen konkreten Fluchtplan, deswegen hat auch niemand von uns an die Autoschlüssel gedacht.
„Die Polizei müsste doch jeden Augenblick kommen. Wir sollten uns so lange dort drin verbarrikadieren“, sage ich und deute auf unseren alten Schuppen.
„In diesem baufälligen Verschlag? Die husten das Ding doch einmal an und es fällt in sich zusammen“, antwortet Liliana kopfschüttelnd.
Im Keller erhebt sich wildes Geheul und die Luke wird regelrecht aus den Angeln gehoben.
„Lauf!“, schreie ich und ziehe Liliana am Ärmel. Sie rafft ihren Morgenmantel hoch und rennt los.
„Wir sollten den Feldweg runter der Polizei entgegenrennen“, ruft sie keuchend.
„Okay!“
Meine Lungen brennen und es ist so dunkel, dass ich kaum die eigene Hand vor Augen erkenne, geschweige denn einen Weg. Ständig stoße ich an Steine oder Wurzeln. Ich höre, wie unsere Verfolger näher kommen, da stolpere ich und falle der Länge nach hin. Liliana bleibt stehen und rennt zu mir zurück. „Los, steh auf!“ Sie packt mich am Ärmel, aber da wird sie bereits von einem schweren Körper angesprungen und niedergeworfen. Ich kann ihren erstickten Schrei hören, als sie hart auf dem Boden aufschlägt.
„Mama?“, schreie ich entsetzt und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen, höre aber nur ihr angsterfülltes Wimmern. Ich will gerade aufstehen, da spüre ich plötzlich etwas Nasses im Gesicht. Als ich hochsehe, erkenne ich den Umriss eines der Wesen, das sich langsam über mich beugt. Sein Speichel tropft mir ins Gesicht.
Sie haben uns also doch erwischt!
Aus dieser Sache kommen wir nicht mehr raus – nicht ohne Hilfe! Wo ist denn nur die verdammte Polizei?
Es kommt wieder wie ein Donnerschlag, ein Brüllen so gewaltig, dass ich denke, die Erde tut sich auf. Ich erkenne vage, wie sich die Bestien ducken und fauchend zurückweichen. Doch sie kommen nicht weit.
Riesige Schatten reißen sie von den Beinen und drücken sie zu Boden. Gebannt starre ich in die Dunkelheit, sehe aber nur schattenhafte Bewegungen.
Plötzlich greift etwas nach meinem Arm. Ich zucke zusammen, aber es ist nur Liliana, die mich aus der Gefahrenzone ziehen will. Ich rappele mich auf und folge ihr hinter eine Baumreihe. Sie humpelt.
„Bist du verletzt?“
„Ich bin nur etwas unglücklich gestürzt und habe mir die linke Seite geprellt. Nicht so schlimm“, flüstert sie. Liliana war schon immer hart im Nehmen.
Wir hören einen kurzen, erstickten Schrei, als Sekunden später ein lautes Siegesgebrüll ertönt.
„Was um alles in der Welt ist das?“, stöhne ich und halte mir die Ohren zu.
Ein weiterer riesiger Schatten huscht an mir vorbei und tosende Kampfgeräusche sind zu hören. Eine der Bestien zischt im Todeskampf, bis nach wenigen Augenblicken wieder Stille einkehrt.
Ich vernehme ein leises Knurren, das sich langsam entfernt.
Erstaunt blicke ich in die Richtung und versuche etwas zu erkennen, als ein Wagen mit Blaulicht den Feldweg hochfährt.
Die Polizei ist jetzt schon seit geschlagenen vier Stunden hier. Während die Spurensicherung fieberhaft arbeitet, werden wir von zwei Beamten befragt. Liliana wächst über sich hinaus und erzählt aus dem Stegreif eine Überfallgeschichte, die sogar in sich stimmig ist. Sie lügt, dass sich die Balken biegen, ich nicke nur ab und an zur Bestätigung. Ich bin erschöpft, verwirrt und zum Umfallen müde. Als die Polizisten endlich gehen, erscheint bereits die Morgenröte.
8
Gerädert von der kurzen Nacht blinzele ich müde zum Wecker: kurz nach ein Uhr. Vorsichtig schiebe ich meine Decke zur Seite und schlüpfe in meine blauen Plüschpantoffeln. Meine Schulter schmerzt nach den gestrigen Ereignissen wieder. Schlurfend steige ich die Treppe hinunter und schaue mich nach Liliana um. Ich höre sie in der Küche werkeln. Ein kurzer Rundblick im Flur zeigt mir das Ausmaß der Verwüstung. Die Möbel sind zum größten Teil zertrümmert und mehrere Fenster eingeschlagen. Die Polizeibeamten hatten uns zwar nahegelegt, in ein Hotel zu ziehen, aber wir waren einfach zu erschöpft. Sie verklebten daraufhin freundlicherweise die Fenster mit Folien, um wenigstens etwas die Kälte auszusperren.
Ich laufe in die Küche, um zu sehen, wie es Liliana nach dieser Horrornacht geht. Sie hat Kaffee aufgesetzt und den Backofen angemacht. Als sie mich hört, dreht sie sich um und kommt mit offenen Armen auf mich zu. „Wie geht es dir, Angyalom?“, fragt sie und schaut mich eindringlich an.
„Ich bin okay, aber was ist mit dir, Mama?“
„Unverwüstlich – wie ein alter VW Käfer“, antwortet sie mit ihrem süßen Akzent und macht eine wegwerfende Handbewegung.
„Und deine Prellungen?“
„Werden schon heilen!“
Sie ist stark und ich bin froh darüber, denn eine ängstliche, weinerliche Person könnte ich an diesem Morgen nicht ertragen.
„Weißt du, egal wie schlimm die Lage sein mag, etwas Gutes habe ich zu berichten“, sagt sie strahlend und schiebt die Brötchen in den Ofen.
„Eine gute Nachricht ist jetzt genau, was ich brauche.“
„Der Plasmafernseher hat es überlebt!“
„Wie schön, dass du Prioritäten setzt.“ Grinsend hole ich die Kaffeebecher aus dem Schrank.
Bevor wir in den frühen Morgenstunden müde ins Bett gefallen waren, haben wir kein Wort mehr über den Angriff verloren. Doch jetzt, finde ich, ist ein guter Zeitpunkt, dieses Thema wieder aufzugreifen. „Du hast der Polizei letzte Nacht ja eine wilde Geschichte aufgetischt.“
Sie dreht sich nicht um, sondern beginnt, Käse und Wurstaufschnitt auf einem Teller anzurichten – sehr langsam, wie ich finde.
„Nun, die Wahrheit hätten sie uns wohl auch kaum abgenommen“, antwortet sie in einem belanglosen Tonfall.
„Was genau ist denn die Wahrheit? Ich meine, uns ist beiden doch wohl klar, dass solche Tiere nicht existieren! Aber trotzdem waren sie hier und haben uns fast getötet!“
Schweigen.
„Außerdem hat die Polizei nirgendwo Kadaver gefunden. Also sind sie wieder, wie damals in der Tiefgarage, verschwunden. Aber so etwas dürfte eigentlich nicht passieren – nicht in meiner Welt!“
Schweigen.
„Mama, du weißt etwas! Das ist mir schon seit dem Krankenhaus klar, also bitte rede mit mir.“
Seufzend dreht sie sich um, greift nach meiner Hand und zieht mich zum Küchentisch rüber. „Seit deiner Geburt habe ich mich vor diesem Tag gefürchtet. Doch ich bin in letzter Zeit wohl etwas nachlässig geworden, vermutlich weil bisher nie etwas passiert ist. Die Alltagsroutine hat mich unvorsichtig werden lassen.“
„Was meinst du damit? Hast du so einen Angriff etwa erwartet?“, frage ich irritiert.
„Vielleicht nicht so einen Angriff. Ich hatte keine Ahnung, was passieren könnte, außer dass wir in Gefahr waren … genaugenommen dass du stets in Gefahr warst!“
Meine Kinnlande klappt runter.
„Ich? Warum?“
Sie atmet geräuschvoll aus und bedenkt mich mit einem sonderbaren Blick. So hat sie mich noch nie angesehen und es gefällt mir ganz und gar nicht.
„Anja, was ich dir jetzt zu sagen habe, ist sehr, sehr wichtig! Ich möchte, dass du mir aufmerksam zuhörst und dich vor allem nicht aufregst. Kriegst du das hin?“
„Aufmerksam zuhören?“
„Nein, Schatz, dich nicht aufregen.“
„Wie kann ich dir das versprechen, wenn ich nicht weiß, worum es geht?“
Resigniert fährt sie sich durchs Haar. „Das, was uns letzte Nacht widerfahren ist, hängt mit der Herkunft deines Vaters zusammen. Ich hatte dir zwar erzählt, dass er durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam, aber das war nicht die Wahrheit.“ Sie schluckt und blickt zu Boden. „Er wurde ermordet!“
„Ermordet?“, flüstere ich bleich. „Von wem? Warum?“
„Das weiß ich bis heute nicht, es ging alles so verdammt schnell! Attentäter, sagte man mir nur.“
Attentäter? Wer zur Hölle war mein Vater?
Sprachlos und völlig geplättet beobachte ich, wie Liliana aufsteht und sich ans Fenster stellt. Sie spricht weiter, aber ihre Stimme klingt seltsam fremd.
„Als es passierte, war ich gerade mal zwei Tage in der Villa zu Besuch. Ich war so jung und unerfahren und von Hakon wusste ich so gut wie nichts. Außer, dass er aus einem sehr reichen und mächtigen Haus stammte. Kennengelernt habe ich damals aber nur seine Großtante Sophia. Sie war in höchstem Maße einschüchternd und ließ mich nur allzu deutlich spüren, dass sie weder mich noch meine Herkunft billigte.“
Liliana macht eine Pause und fährt eine imaginäre Linie am Fensterrahmen entlang. „Es regnete. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Es war einer dieser grauen, kalten Herbsttage und ich hatte wieder einen fürchterlichen Streit mit Sophia hinter mir. Ich saß heulend auf dem Bett und Hakon versuchte zu vermitteln, aber ich reagierte auf seine Beschwichtigungsversuche wie ein trotziges Kind. Er sagte, er würde mir etwas Zeit geben und später wiederkommen.“ Eine Träne läuft über ihr hübsches Gesicht. „Er wollte wiederkommen …“
„Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig.
„Er kam nicht wieder. Kurze Zeit später fand man ihn blutüberströmt im Garten. Ein Dolch steckte in seinem Hals.“
Mir bleibt vor Schreck die Luft weg und ich sehe, wie sich Lilianas Haltung versteift.
„Ich war wie von Sinnen und wollte nicht von seinem toten Körper weichen, aber Sophia betrachtete mich wie ein lästiges Insekt, das sie am liebsten zertreten hätte. Ich hatte es nur Alvar zu verdanken, dass sie mich nicht sofort vor die Tür setzte.“
„Wer ist Alvar?“
„Seine genaue Funktion hat sich mir nie ganz eröffnet. Er ist wohl eine Art Berater der Gollnir-Familie und Hakon legte stets großen Wert auf seine Meinung. Er war der Einzige, der mir in meiner Trauer beistand. Ich denke, ohne ihn wäre ich damals zerbrochen.“
Liliana dreht sich um und lehnt sich mit dem Rücken gegen das Fenster. „Ich wusste erst seit ein paar Tagen, dass ich schwanger war. Hakon und ich hatten uns nur Alvar anvertraut, doch jetzt musste auch Sophia eingeweiht werden. Sie ist fast ausgeflippt, als sie davon erfuhr. Zuerst dachte ich, es wäre wegen meiner unstandesgemäßen Herkunft, aber es ging ihr gar nicht um mich – sie war deinetwegen so aufgeregt! Sie baten mich kurz darauf zu einer geheimnisvollen nächtlichen Unterredung und Alvar berichtete mir, dass die komplette Gollnir-Familie ausgelöscht werden sollte. Hakon war ein Einzelkind und Sophia nur angeheiratet, daher war mit Hakons Ermordung die Blutlinie erloschen – zumindest sollten das alle weiterhin so glauben. Niemand durfte zu diesem Zeitpunkt erfahren, dass es doch einen Nachkommen gab – dich!“
In meinem Kopf dreht sich alles, während Liliana sich wieder an den Küchentisch setzt. „Sie sagten, dass sie zu diesem Zeitpunkt meinen Schutz nicht gewährleisten konnten, da sie niemandem trauten, noch nicht einmal der Dienerschaft. Also gaben sie mir eine größere Geldsumme und legten mir nahe, ins Ausland zu fliehen. Hakons Attentäter würden auch hinter mir her sein, wenn sie je von deiner Existenz erfahren sollten. Alvar befahl mir, sämtliche Brücken hinter mir abzubrechen und auf gar keinen Fall mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Ich sollte anfangs nie lange an einem Ort bleiben. Es durften keine Spuren bleiben, die man zu mir – und damit zu dir – hätte zurückverfolgen können. Er kümmerte sich um alle notwendigen Papiere, Einreisegenehmigungen und was sonst noch von Nöten war, um neu anzufangen. Mein eigentliches Ziel war Paris. Dort wollte ich schon immer leben, aber das Schicksal hatte wohl andere Pläne für mich. Anfangs beherzigte ich noch Alvars Rat und zog alle paar Jahre in eine andere Stadt, aber ich beobachtete mit wachsender Sorge deine Veränderung. Die ständigen Ortswechsel waren nicht gut für dich; du wurdest immer verschlossener. Ich wollte, dass du eine unbekümmerte und fröhliche Kindheit hast. Also kaufte ich von dem letzten bisschen Geld, das noch übrig war, unser Häuschen. So sind wir dann hier gestrandet.“
Ich nicke benommen und versuche das eben Gehörte zu verarbeiten. „Hast du jemals wieder etwas von den Gollnirs gehört?“, frage ich nachdenklich. „Ich meine, irgendwie bin ich doch auch ein Teil dieser Familie?“
„Nein, nie wieder! Und – ehrlich gesagt habe ich das bisher auch nicht bedauert. Aber die jüngsten Ereignisse zeigen wohl, dass mich die Vergangenheit letztendlich doch eingeholt hat.“
„Ein solcher Aufwand, nur um mich vor irgendwelchen dubiosen Attentätern zu schützen? Wer um Himmels willen war mein Vater?“
„Ich weiß nicht viel über die Gollnirs, außer dass es sich um ein sehr altes und mächtiges Adelsgeschlecht handelt.“
Und zum zweiten Mal klappt meine Kinnlade runter. „Ich gehöre zum ungarischen Adel?“
„Nicht direkt zum ungarischen Adel“, antwortet Liliana zögernd und schaut mich wieder auf diese sonderbare Art an.
Ein ganz merkwürdiges Gefühl macht sich tief in meinem Bauch breit. Ich fühle, dass der große Knall noch kommt.
„Okay, nicht ungarisch, dann vielleicht österreichisch?“, hake ich ungeduldig nach.
„Die Gollnirs haben nur eine Residenz in Budapest, aber sie sind nicht aus Ungarn. Genaugenommen sind sie noch nicht einmal von dieser Welt!“
Ich starre sie ungläubig an. „Wie meinst du das?“
„Angyalom, du bist nur zur Hälfte ein Erdenmensch!“
9
In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und das Atmen immer schwerer fällt.
Liliana betrachtet mich mit wachsender Sorge. „Um Himmels willen, du wirst doch jetzt nicht ohnmächtig?“
Sie springt auf und schenkt mir ein Glas Wasser ein.
„Ich bin in der Twilight-Zone“, murmele ich benommen.
Liliana streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückt mir das Glas in die Hand. „Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt ein Schock für dich ist. Wären diese Bestien nicht aufgetaucht, hätte ich es dir wahrscheinlich nie erzählt. Ich wollte stets, dass du ein normales und glückliches Leben führst. Manchmal sollte man die Vergangenheit einfach ruhen lassen.“