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„Herrgott, ich stamme von E.T. ab! Also ich denke schon, dass das erwähnenswert ist! Wie konntest du mir diese Wahrheit nur all die Jahre vorenthalten?“, fahre ich sie wütend an.
„Es tut mir leid, Angyalom“, flüstert sie und schaut bedrückt zu Boden. „Ich wollte die richtigen Entscheidungen für dich treffen, doch ich war noch so jung und unerfahren – und mutterseelenallein.“
Mein schlechtes Gewissen rührt sich. Sie war damals jünger als ich jetzt und ich kann nur erahnen, was sie durchgemacht hat. Hochschwanger, ohne den Schutz der Familie oder Freunde in einem fremden Land, und als ständiger Begleiter die Angst. Das war kein Leben für einen jungen Menschen. Ich bin beschämt über meinen egoistischen Ausbruch. „Verzeih mir, ich bin so ein Stoffel. Es ist nur … oh Gott, es ist, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen.“
Liliana schenkt uns Kaffee ein, dann setzt sie sich wieder an den Küchentisch. In meinem Kopf sprudeln die Fragen fast über. „Also wer oder was war mein Vater? Ein Außerirdischer? Muss ich befürchten, dass mir irgendwann Schuppen wachsen?“
„Nein, natürlich nicht. Die Gollnirs sind Menschen wie du und ich. Sie sind nur nicht von hier. Ihre Welt heißt Aldarúun.“
„Aldarúun“, wiederhole ich ehrfürchtig. „Ist das ein anderer Planet? Wie sind sie hierhergekommen? In Raumschiffen?“
„Nein, sie kamen durch ein Dimensionsportal.“
„Ein Dimensionsportal?“, wiederhole ich skeptisch. „Klingt weit hergeholt.“
„Ach ja? Und was hat uns gestern angegriffen?“, erwidert sie trocken. „Mutierte Eichhörnchen?“
„Wenn solche Portale wirklich existieren, warum wurden sie bisher nicht entdeckt?“
„Weil sie vor sehr langer Zeit versiegelt wurden. Nur wenigen Auserwählten ist es gestattet, die Tore zu passieren – und dazu gehören eben Mitglieder der Gollnir-Familie.“
„Nun, scheinbar entspricht das nicht mehr ganz den Tatsachen, denn mittlerweile kommen wohl auch andere Wesen durch das Tor“, antworte ich.
„Irgendetwas muss passiert sein“, murmelt Liliana und wirft mir einen düsteren Blick zu. „Etwas Schlimmes! Und wir sind hier nicht mehr sicher.“
Seufzend setze ich meine Tasse ab. Irgendwie kann ich das alles nicht glauben, aber meine verletzte Schulter sowie unsere zertrümmerte Einrichtung sind Zeugen für die jüngsten Ereignisse.
„Und was waren das für merkwürdige Schatten?“
„Ich habe keine Ahnung, Anja. Aber wir verdanken ihnen unser Leben.“
Wir sitzen stumm da und nippen an unserem Kaffee.
„Was machen wir denn jetzt?“, unterbreche ich die Stille. „Wenn sie wirklich hinter mir her sind, bedeutet es ja wohl, dass meine Existenz – und noch viel schlimmer, mein Aufenthaltsort kein Geheimnis mehr ist. Ich bezweifele, dass das der letzte Angriff war. Hatte man dir denn keine Anweisungen gegeben, falls wir doch irgendwann entdeckt werden?“
„Ich glaube, so weit hat damals keiner gedacht. Alvar wollte zu diesem Zeitpunkt lediglich verhindern, dass zu viele von meiner Existenz wussten, geschweige denn Zeuge meiner Schwangerschaft wurden. Er wollte warten, bis sich die politischen Wogen geglättet haben, und mich dann zurückholen. Aber er ist nie wieder aufgetaucht.“
„Kann es sein, dass du dich zu gut versteckt hast?“, frage ich schmunzelnd.
„Möglich“, antwortet sie grinsend. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte unser Leben wunderbar so weiterlaufen können.“
„Tja, ich schätze, diese Option steht nicht mehr zur Debatte“, sage ich.
„Da hast du recht, Schatz“, sagt Liliana plötzlich mit fester Stimme und setzt geräuschvoll ihre Tasse ab. „Es wird Zeit, dass die Herrschaften endlich Verantwortung übernehmen. Niemand hatte mich auf solch eine Situation vorbereitet. Ich werde versuchen, Sophia zu finden und zu kontaktieren. Zwar kann ich mich an die Adresse nicht mehr erinnern, aber dieses Haus ist eines der größten und elegantesten in ganz Budapest. Irgendwie werde ich sie schon finden. Du bist ein Mitglied dieser Familie und ich werde dein Recht jetzt einfordern. Hoffentlich haben sie ihren Aufenthalt dort nicht bereits abgebrochen. In der Zwischenzeit werden wir Vorkehrungen treffen. Wir werden in jedem Raum Waffen deponieren: Äxte, Baseballschläger, Pfeffersprays … alles, was wir auftreiben können. Wir wissen nicht, wann der nächste Angriff kommt, aber dieses Mal werden wir vorbereitet sein. Außerdem werde ich eine Schrotflinte besorgen.“
„Aber du hast keinen Waffenschein?“
„Nein, aber ich habe Beziehungen“, antwortet sie augenzwinkernd und öffnet die Backofentür, um die Brötchen rauszuholen.
Nach dem Frühstück beginnen wir das Chaos im Wohnzimmer zu beseitigen. Als ich noch schlief, hat Liliana einen Glaser und einen Schreiner angerufen, die noch heute vorbeikommen wollen.
„Vielleicht können wir das eine oder andere Möbelstück retten“, sage ich hoffnungsvoll und schaue mich um.
Das Sofa hat nur ein paar Kratzspuren abbekommen, da könnten wir eine Decke überwerfen. Der Wohnzimmertisch ist zu Bruch gegangen, aber das Gestell steht noch. Hier dürfte eine neue Glasplatte ausreichen. Aber die Regale und der Fernsehsessel sind nur noch zersplitterte Einzelteile.
„Ich habe ein bisschen Reservegeld, falls mal etwas mit dem Auto sein sollte“, sagt Liliana, „das wird für die Reparatur der Tür und der Fenster reichen.“
Ich beginne gerade die Scherben zusammenzufegen, als ich mitten in der Bewegung innehalte und zur kaputten Verandatür sehe. Liliana, die gerade erörtert, was die Handwerker wohl für ihre Arbeit nehmen werden, folgt meinem Blick. „Ah, da bist du ja schon wieder“, sagt sie und ein verzücktes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Sie stand schon heute Vormittag da. Irgendwann war sie dann weg.“
Auf der Terrasse sitzt eine kleine schwarze Katze und schaut neugierig in unser verwüstetes Wohnzimmer. Mit vorsichtigen Schritten gehe ich auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken. „Hey, du kleine Schönheit, wer bist du denn?“
Katzen sind mein Ein und Alles! Ich würde mir gerne eine halten, aber Liliana und ich sind den ganzen Tag nicht zu Hause.
Langsam senke ich meine Hand, aber sie weicht zurück und beobachtet mich wachsam.
„Hm, hast du sie schon mal gesehen? Ich weiß mit Sicherheit, dass die Burkhardts keine Katze haben, und das sind so ziemlich unsere einzigen Nachbarn.“
„Keine Ahnung, wo sie herkommt, aber sie ist wirklich bildhübsch“, sagt Liliana.
Ich betrachte sie genauer. Sie hat ein seidiges schwarzes Fell mit weißen Pfötchen und Kragen. Auch die Schnurrbarthaare sind weiß, was einen schönen Kontrast auf dem schwarzen Fell bildet.
„Sie trägt kein Halsband, ob sie wohl tätowiert ist?“ Ich bücke mich zu ihr runter und versuche, in ihre Ohren zu schauen, kann aber nichts erkennen.
„Viele Katzen haben heutzutage auch einen Chip“, meint Liliana.
„Haben wir Milch im Haus?“
Sie nickt und läuft in die Küche. Eine Minute später kommt sie mit einem kleinen Schälchen wieder. Gebannt beobachten wir das kleine Fellknäuel, aber es unternimmt keine Anstalten, von der Milch zu trinken. Es starrt mich nur mit kreisrunden Augen an.
Es ist Nachmittag und die Handwerker nehmen Maß für die neuen Fenster. Irgendwann schaue ich wieder auf die Veranda und stelle fest, dass die Schüssel leer und die Katze verschwunden ist. Lächelnd packe ich das Geschirr in die Spülmaschine.
Am nächsten Morgen sind wir beide schon ziemlich früh wach und laufen uns im Badezimmer über den Weg. Liliana spült sich gerade den Mund aus und stellt ihre Zahnbürste in den Becher. „Nach dem Frühstück fahre ich rasch einkaufen. Vorher rufe ich aber meinen Chef an und versuche ein paar Tage Urlaub zu bekommen, damit ich mit der Suche nach Sophia beginnen kann – und wir dieses Chaos wieder in den Griff kriegen.“
Ich bin froh, dass ich diese Diskussion mit Herrn Meinel nicht führen muss, da ich noch die nächsten vierzehn Tage krankgeschrieben bin.
Nach dem Duschen laufe ich die Treppe hinunter und freue mich auf eine schöne Tasse Kaffee, als ich um die Ecke biege und Liliana fast über den Haufen renne. Überrascht bleibe ich stehen. Sie schaut Richtung Veranda und schüttelt ungläubig den Kopf. „Nun sieh dir das an, Anja.“
Ich folge ihrem Blick und muss unweigerlich grinsen. Die hübsche schwarze Katze sitzt wieder da und beobachtet uns aufmerksam, und – sie ist nicht allein! Eine zweite, mit der gleichen Färbung, sitzt neben ihr und blickt neugierig zu uns rüber.
„In der Katzenwelt hat sich wohl herumgesprochen, dass es hier Milch für lau gibt“, sagt Liliana lächelnd und betrachtet die beiden liebevoll.
„Vielleicht könntest du etwas Trockenfutter mitbringen?“, schlage ich vor.
„Das ist eine gute Idee. Ich fahr dann mal los. Bis später.“
Nachdem sie weg ist, beschließe ich, mir die zwei kleinen Besucher genauer anzuschauen. Diejenige, die heute dazugekommen ist, wirkt etwas fülliger, aber ansonsten unterscheiden sie sich kaum. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und betrachte die beiden lächelnd. „Meine Güte, ich könnte nicht entscheiden, wer von euch beiden hübscher ist. Wenn ich doch nur wüsste, zu wem ihr gehört?“
Sie wirken nicht wie Streuner, denn ihr Fell sieht sehr gepflegt aus und sie sind gut im Futter. Doch sie benehmen sich seltsam. Irgendwie sind sie stets in Lauerstellung. Jede meiner Bewegungen wird aufmerksam verfolgt und sie geben keinen Laut von sich.
Gerade, als ich die Spülmaschine anwerfen will, höre ich Lilianas Auto in der Auffahrt. Ich laufe ihr entgegen, um ihr beim Hereintragen der Einkäufe zu helfen.
„Gott, war das wieder ein Gedränge und eine Schlange, die bis zu den Kühltheken reichte. Ich verstehe nicht, warum sie keine zweite Kasse öffnen, wenn es so voll ist“, schimpft Liliana lauthals.
Sie hat tatsächlich Katzenfutter gekauft und ich breite die Dosen auf dem Küchentresen aus. Ungläubig lese ich, was auf den Etiketten steht: „Forelle mit Lachs in feiner Kräutersoße? So etwas Edles essen noch nicht mal wir.“
„Ach, Unsinn! Die tun da nur Fischreste rein. Außerdem habe ich mal gelesen, dass Katzenfutter zu neunzig Prozent aus Wasser besteht. Die Fleischreste werden mit Flüssigkeit aufgebläht, weil Katzen faule Trinker sind und sie durch das Nassfutter ihren Feuchtigkeitshaushalt regulieren“, erklärt sie und packt weiter die Sachen weg.
Als wir am Abend endlich mit unseren Aufräumarbeiten fertig sind, setzen wir uns müde an den Esszimmertisch. Ich habe uns Ravioli aus der Dose warm gemacht, da wir beide zu müde zum Kochen sind. Den beiden Pelzköpfen haben wir jeweils eine Dose Katzenfutter aufgemacht, aber sie haben nur daran geschnuppert und sind wieder verschwunden.
„Na, deine Forelle mit Lachs in feiner Kräutersoße scheint bei unseren kleinen Gästen nicht wirklich anzukommen“, sage ich grinsend und schaue den beiden Fellknäueln hinterher. Liliana schnaubt etwas von „verwöhnten Viechern“, als sie kurze Zeit später den Inhalt der Schüsseln in die Toilette kippt.
Nächster Morgen. Es ist kurz vor halb neun. Ich stehe im Badezimmer und binde meine Haare gerade zu einem Pferdeschwanz, als Liliana wild gestikulierend hereinstürzt.
„Das glaubst du nie! Nie im Leben!“, sprudelt es aus ihr heraus. Sie packt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Ich will sie fragen, was in sie gefahren ist, aber sie faselt nur etwas von Klonen und anderem wirren Zeug. Sie zerrt mich ins Wohnzimmer und deutet auf die Verandatür. „Da! Sieh dir das an!“
Jetzt verstehe ich ihre Aufregung. Unser üblicher kleiner Gast sitzt wieder vor der Tür, samt seinem rundlichen Freund – und einem dritten pelzigen Neuzugang.
„Die vermehren sich wie die Gremlins“, sagt Liliana aufgeregt, „ich wette mit dir, die sind aus irgendeinem Labor entflohen.“
„Sicher“, erwidere ich spöttisch und betrachte die Neue. Sie ist etwas größer als die anderen zwei, hat aber das gleiche Fell und dasselbe eigentümliche Verhalten. Ich gehe langsam auf die drei zu, und sie weichen dieses Mal nicht zurück, auch nicht, als ich in die Knie gehe. „Wer seid ihr bloß? Und wo kommt ihr her?“, denke ich laut, als sich plötzlich unser erster kleiner Gast erhebt und langsam auf mich zutapst. Ich habe meine Hände auf die Knie gelegt und warte überrascht ab. Sie kommt vorsichtig näher, schnuppert und leckt ein paar Mal über meine Hand. Dann setzt sie sich auf ihre Hinterläufe und schaut mich auf diese sonderbar eindringliche Art an.
„Da wird doch nicht etwa jemand noch zutraulich?“, frage ich erstaunt und betrachte das hübsche kleine Gesicht mit den weißen Schnurrbarthaaren.
Vorsichtig strecke ich ihr meine Hand entgegen, und sie rührt sich nicht von der Stelle. Ihr Fell ist seidig weich und ich würde sie am liebsten auf den Arm nehmen, aber ich will mein Glück nicht überstrapazieren. Ich fahre ihr ein paar Mal vorsichtig durchs Fell, da steht sie wieder auf und tapst zu ihren beiden Artgenossen zurück.
„Nanu, das war aber seltsam, fast wie ein Freundschaftsangebot“, sagt Liliana im Hintergrund. Sie kommt näher und geht ebenfalls in die Hocke. „Übrigens, was mir an ihnen aufgefallen ist: Alle drei sind Kater.“
„Ehrlich? Bist du sicher?“
„Sie sind nicht kastriert. Sie haben noch ihre kleinen schwarzen Bällchen.“
Liliana erhebt sich lachend, als sie meinen pikierten Gesichtsausdruck sieht, und verschwindet in der Küche. Auch ich mache mich wieder an die Arbeit.
Liliana und ich haben Wetten abgeschlossen, wie viele noch in den nächsten Tagen auftauchen würden, aber wir liegen beide falsch.
10
Der Angriff ist jetzt fünf Tage her. Die Fenster und die Terrassentür sind repariert. Das Restgeld hat Liliana beiseitegelegt. Wer weiß, was noch auf uns zukommt.
Sie ist stellvertretende Abteilungsleiterin eines Baumarktes und hat ihren Chef tatsächlich überreden können, ihr kurzfristig zwei Wochen Urlaub zu gewähren. Somit hat sie die letzten Tage damit verbracht, herumzutelefonieren – und ist tatsächlich fündig geworden. Alvar war hocherfreut, dass es uns gut geht, und sagte, dass er schon länger nach uns suche. Außerdem, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten, da weiterhin Gefahr drohe. Beschützen könnten sie uns am besten in der Villa. Wir haben so etwas nicht nur geahnt, sondern auch befürchtet.
Es ist Freitag und wir wollen morgen Abend losfahren, da nachts die Autobahn nicht so voll ist. Alvar sagt, wir dürfen mit niemandem über unsere Flucht reden – auch nicht mit Ramona. Das schmeckt mir gar nicht, aber ich füge mich. Da wir nicht wissen, wann wir wieder zurückkommen werden, haben Liliana und ich beschlossen, den letzten Tag in unserem geliebten Zuhause mit ihr zu verbringen. Wir haben unseren Frauenabend vorverlegt, der einmal im Monat stattfindet. Eingeführt haben wir ihn vor etwa einem Jahr, als Ramona wieder einmal ihren Liebeskummer auf unserem Sofa ausweinte.
Ich war in der Stadt, um noch ein paar Besorgungen für unsere Reise zu erledigen, und schiebe gerade den Schlüssel in die Haustür, als ein kleiner schwarzer Blitz um die Ecke schießt. „Hey, Dickerchen, wo kommst du denn her?“ Ich bücke mich und streichele sein seidiges Fell, während er sich schnurrend gegen meine Hand drückt.
Den kleinen Kater nennen wir Kleiner, den dicken Kater Dicker und den großen Kater … na, wer hätte das gedacht … Großer. Ich weiß, einfallsloser geht es nicht mehr, aber wir wollten unsere Herzen nicht allzu sehr an die drei Racker binden. Leider ist das in den letzten Tagen bereits passiert. Sie sind so unglaublich zutraulich und liebenswert. Warum mussten sie uns ausgerechnet jetzt zulaufen?
Verdammt – echt schlechtes Timing!
Ich muss morgen dringend die Burkhardts fragen, ob sie sie aufnehmen. Die kleine Natalie wird sich bestimmt freuen.
Ich schließe die Tür auf. „Na, komm rein, mein Süßer! … Mama? Wo steckst du?“
„In der Küche“, höre ich eine gedämpfte Stimme. Ich lege meine Tasche ab und folge ihr. Dicker tapst hinter mir her.
Liliana sitzt am Küchentisch und umklammert eine Tasse. Ihr Ausdruck ist starr auf ihren Tee gerichtet.
„Was ist los?“, frage ich besorgt und setze mich ihr gegenüber. Sie blickt kurz auf. Ihre Kiefer mahlen. „Alvar sagt, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Das Haus Gollnir wird vor Ort alles regeln – was auch immer das bedeutet. Ich habe für all das hier so hart gearbeitet …“
„In drei Monaten beginnt meine Ausbildung, denkst du, bis dahin ist alles geregelt?“
Liliana wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. „Ich hoffe es“, antwortet sie leise. „Aber irgendwie habe ich ein ganz merkwürdiges Gefühl.“
„Wie meinst du das?“, frage ich stirnrunzelnd.
„Sie haben mich damals nicht ohne Grund weggeschickt. Und scheinbar hat sich das Problem in den letzten zwanzig Jahren nicht aufgelöst.“
„Verstehe.“ Ich atme geräuschvoll aus und blicke auf meine Fingernägel. Es ist still. Nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. „Also, willst du damit sagen, dass wir vielleicht eine lange Zeit nicht mehr zurückkommen werden?“, frage ich tonlos.
„Gut möglich, Anja.“
Ich nicke stumm und wieder ist nur das Ticken der Uhr zu hören.
Liliana legt ihre Hand auf meine und lächelt mir aufmunternd zu. „Jetzt warten wir erst einmal ab, was kommt. Antworten werden wir in Budapest erhalten. Und dann können wir immer noch entscheiden, was wir tun werden.“
Ich lächele zurück, bin aber trotzdem nicht glücklich, wie alles verläuft.
„Wann will Moni hier sein?“, fragt Liliana.
„In einer Stunde“, antworte ich. „Das lässt mir noch Zeit für ein Bad.“ Ich stehe auf und gehe die Treppe hoch.
Das Wasser läuft noch in die Badewanne, da höre ich ein Kratzen an der Tür. Ach ja, wie konnte ich das vergessen! Ich öffne sie einen Spalt und die drei kleinen Pelzköpfe huschen herein. Sie setzen sich auf ihre üblichen Beobachtungsplätze: Dicker auf die Waschtruhe, Großer auf den Badewannenrand am Fußende und Kleiner am Kopfende. Normalerweise scheuen sie das Wasser wie jede andere Katze auch, aber mein tägliches Waschen scheint sie zu faszinieren.
Die Woche war anstrengend – nicht nur physisch, auch mental –, und das warme Wasser ist eine Wohltat. Ich entspanne mich und schließe die Augen. Jetzt bloßnicht einschlafen, denke ich, aber das warme Wasser sowie der Stress, der von mir abfällt, tun ihr Übriges …
„Aauu!“ Hustend richte ich mich in der Wanne auf und habe den Geschmack des Badeöls im Mund. Ich begreife, dass ich tatsächlich eingenickt und wohl ins Wasser gerutscht bin. Etwas brennt auf meiner Schulter, und als ich den Kopf drehe, sehe ich rote Striemen von einer Katzentatze.
„Hast du mich gerade gehauen?“
Völlig perplex blicke ich zu dem kleinen Pelzgesicht hoch, denn das ist ein Verhalten, das ich bei ihm bis jetzt noch nie erlebt habe. Kleiner beginnt sich gleichmütig das Fell zu putzen.
Es klingelt, als ich gerade die Treppe hinunterlaufe. Liliana ist bereits an der Haustür und lässt einen wild plappernden Rotschopf herein. Ramona umarmt uns stürmisch, ohne ihren Redeschwall zu unterbrechen. „Hi, ihr Süßen, wie schön, euch zu sehen. Also ich habe Neuigkeiten ohne Ende! Ich war doch gestern in diesem neuen Fitnessstudio, das in der Innenstadt aufgemacht hat, und ich sage euch, wirklich hochmodern“ – sie schnalzt mit der Zunge – „die haben sogar eine Farbsauna und ein Jacuzzi, also einen richtigen Wellnessbereich, und das ohne Preisaufschlag und – oh, hallo, mein Kleiner! Meine Güte, was bist du denn für ein süßes Kerlchen? Anja, du hast am Telefon echt nicht übertrieben, der ist ja wirklich süß – und so ein seidiges Fell! Wir werden gleich ganz ausgiebig schmusen, aber lass Tante Moni erst mal ihre Einkäufe auspacken – Liliana, hast du an die Limetten gedacht? Caipirinha ohne Limetten geht gar nicht – also, wo war ich? Ach ja, das Studio ist echt der Hammer, aber einen Parkplatz finden? Vergiss es! Habe auch prompt ein Knöllchen kassiert – aber Mädels – ich habe den süßesten Jungen der ganzen Welt kennengelernt. Er ist dort Trainer und …“
Wann holt sie mal Luft?
Grinsend folge ich den beiden Frauen in die Küche.
Wir haben bereits den dritten Cocktail gemixt und die Stimmung ist, trotz des Geheimnisses, das auf uns lastet, erstaunlich ausgelassen. Ramona besitzt einfach die seltene Gabe, durch ihr optimistisches und fröhliches Wesen jeden mitzureißen. Wir haben es uns auf dem Boden auf Decken, umringt von Kissen, gemütlich gemacht, während Liliana an der Kante des Sofas lehnt. Die Trümmer der kaputten Regale haben wir im Laufe der Woche bereits entsorgt und unsere spartanische Einrichtung Ramona lediglich so erklärt, dass wir uns neu einrichten wollen.
Auf dem Sofa liegt Großer und schläft tief und fest, Dicker hat es sich auf Lilianas Schoß bequem gemacht und lässt sich schnurrend den Hals kraulen. Kleiner liegt neben Ramona auf dem Rücken und streckt selig alle vier Pfoten von sich, als sie seinen Bauch zu knuddeln beginnt.
„Also bei mir hat er das noch nie gemacht“, sagt Liliana lachend und nippt an ihrem Glas.
„Ich habe eben eine besondere Wirkung auf Männer“, gluckst Ramona und wirft uns einen gespielt lasziven Schlafzimmerblick zu. „Die sind ja zum Anbeißen süß. Werdet ihr sie behalten?“, fragt sie lachend. Liliana und ich werfen uns verstohlene Blicke zu, was Ramona nicht entgeht. Sie runzelt die Stirn und schaut abwechselnd zu mir und Liliana.
„Apropos Männer, Moni, wie sieht es denn bei dir mal mit etwas Beständigem aus?“, lenkt Liliana vom Thema ab. „Nichts gegen deinen strammen neuen Fitnesstrainer, aber seien wir mal ehrlich, wie lange dauerte deine längste Beziehung bis jetzt? Eine Woche?“
„Liliana, wie soll ich wissen, welches Obst ich mag, wenn ich nicht mal den ganzen Obstkorb durchprobiert habe?“
„Entbehrt nicht einer gewissen Logik“, antwortet meine Mutter augenzwinkernd.
„Also mal ehrlich, Süße, den Obstkorb dürftest du doch schon mindestens dreimal durchprobiert haben“, sage ich kichernd und muss Sekunden darauf schon einem Kissen ausweichen, das aus Ramonas Richtung auf mich zugeflogen kommt.
„Du doofe Nuss, ich bin lediglich sexuell aktiv“, echauffiert sie sich. „Ich meine, ich bin zwanzig und habe eine ausgeprägte Libido! Ich muss regelmäßig Sex haben, sonst“ – sie ringt nach den richtigen Worten – „sonst bekomme ich Pickel!“
Ich muss mich beherrschen, um nicht wieder laut loszuprusten, und auch Liliana nippt an ihrem Cocktail, um ihren Lachanfall zu unterdrücken.
„Pickel?“, wiederhole ich mit unschuldiger Miene.
„Jawohl, und Herzrhythmusstörungen“, antwortet sie beleidigt. „Das habe ich in einer sehr seriösen Zeitschrift gelesen. Das ist wissenschaftlich erwiesen!“ Trotzig reckt sie ihr Kinn in die Höhe.
„Ja, klingt wirklich sehr wissenschaftlich“, antwortet Liliana mit todernster Miene, bricht aber Sekunden später in lautes Gelächter los. Ich proste ihr kichernd zu.
Ramona nimmt Kleiner auf den Arm. „Also wenn die Damen sich wieder eingekriegt haben, möchte ich darauf hinweisen, dass ich wenigstens lebe, wohingegen andere in diesem Raum ein Klosterleben führen.“ Sie blickt mich herausfordernd von der Seite an.
„Was kann ich dafür, dass der Obstkorb, den man mir vorgesetzt hat, voller fauler Äpfel ist“, erwidere ich lachend.
Liliana wischt sich eine Träne aus dem Auge und meint: „Angyalom, dir war doch bisher keiner gut genug. Du hattest an jedem, der mal Interesse an dir zeigte, etwas auszusetzen.“
„Na, es waren ja auch alles Idioten“, antworte ich abwinkend. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass die gesamte Ausschussware der männlichen Gattung in meinem Umfeld ausgekippt wurde. Egal wo ich hintrete, nur Hohlköpfe, Machos oder Weicheier.“
„Meine Güte, was bist du desillusioniert und zynisch! Und das in deinem Alter, so habe ich dich aber nicht erzogen“, sagt Liliana kopfschüttelnd.
„Mama, ich bin weder desillusioniert noch zynisch, nur realistisch. Es gibt heutzutage keine Ehre und keinen Heldenmut mehr. Eigentlich hat es den nie gegeben, das war immer eine Erfindung der Literatur.“
„Nun, einen Helden gibt es aber doch“, sagt Ramona und lächelt wissend.
Auch Lilianas Augen funkeln, als sie sagt: „Du hattest ihn damals in den höchsten Tönen beschrieben, aber seitdem nie mehr ein Wort über ihn verloren. Wieso eigentlich?“