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Ich versuche, mir das schöne Gesicht meines Retters wieder ins Gedächtnis zu rufen, aber es verblasst bereits. Das Einzige, was mich noch in meinen Träumen verfolgt, ist der intensive Blick aus diesen tiefgrünen Augen.
„Der Mann war zu schön, um wahr zu sein“, antworte ich leise. „Er war zu meinem Glück einfach zur rechten Zeit am rechten Ort! Aber glaubt mir, Chancen hätte ich bei so einem Mann auf keinen Fall.“
„Wieso glaubst du das?“, fragt Ramona überrascht.
„Ihr habt ihn nicht gesehen. Aber ich versichere euch, ich spiele definitiv nicht in seiner Liga!“
Die beiden Frauen wechseln betroffene Blicke. Ramona nimmt Kleiner vom Arm, dem das gar nicht gefällt, dann krabbelt sie zu mir rüber und legt ihre Arme um mich. „Also ehrlich, Süße, stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du bist wunderhübsch … du bist wie eine … eine … Zwiebel.“
„Eine Zwiebel?“
„Ich meine, du bist so facettenreich wie eine Zwiebel … okay, der Vergleich hinkt“, sagt sie grinsend. „Was ich sagen will, ist, dass du so viel mehr Größe und Charakter besitzt, als du es dir eingestehen möchtest. Na, und dein Aussehen spricht doch für sich. Ich beneide dich um deine wunderschöne dunkle Haarmähne und du hast an den richtigen Stellen Rundungen. Ich sehe mit meinen zwei kleinen Pickeln aus wie ein Junge.“ Sie blickt an sich herunter und rümpft die Nase.
„Also ich finde, du siehst fantastisch aus und deine Brüste passen eben zu deiner Figur“, sage ich und betrachte meine hübsche Freundin.
„Anja hat recht“, bestätigt Liliana und fügt trocken hinzu: „Außerdem – hättest du mehr Busen, würdest du vornüberkippen. Das wäre ganz schlecht für dein Gleichgewicht.“
Auf unser anschließendes Lachen schreckt sogar Großer auf. Dieser rote Wildfang wird mir unglaublich fehlen und ein Anflug von Traurigkeit erfasst mich. An Lilianas Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie ähnliche Gedanken haben muss.
„Also irgendetwas ist anders als sonst“, sagt Ramona und blickt irritiert von einem zum anderen. „Was ist nur heute los mit euch? Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“
„War nur eine harte Woche“, antwortet Liliana und winkt ab. „Wie wär’s, noch eine Runde, Mädels?“ Sie rappelt sich langsam auf und schubst Dickerchen sanft von ihrem Schoß, der missmutig brummt und sich ein paar Schritte weiter wieder zum Schlafen einkringelt.
„Was für eine Frage, die Nacht ist noch jung“, gluckst Ramona und verbirgt ihr Gesicht am Hals von Kleiner. Während Ramona noch seinen pelzigen Bauch knuddelt, kommt Liliana mit drei frisch gemixten Cocktails zurück.
Wir schaffen es tatsächlich, unsere Befangenheit vor den zukünftigen Ereignissen auszublenden, und genießen die Nacht in vollen Zügen.
11
Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich das Gefühl, einen Waschbären im Mund zu haben. Wir trinken sonst nie Alkohol, aber dieser eine Abend im Monat ist uns dreien heilig und ohne Cocktails wäre es nicht dasselbe. Wir fühlen uns dann immer ein wenig wie die drei Frauen aus dem Film Die Hexen von Eastwick.
Ich will mich aus dem Bett schwingen, aber etwas drückt meine Beine nach unten. Als ich an mir runterblicke, sehe ich Kleiner, der es sich auf mir bequem gemacht hat. Als ich mich bewege, streckt er sich genüsslich und tapst dann langsam zu mir hoch.
„Oh, Schätzchen, bitte nicht auf meinen Bauch. Das tut dem Frauchen gar nicht gut“, jammere ich und schiebe ihn von mir. Irritiert stellt er sein Köpfchen schräg.
Vorsichtig setze ich mich auf und erwarte, dass sich gleich alles zu drehen beginnt, aber es bleibt aus. Ich habe dieses Mal nicht ganz so viel getrunken und bin gespannt, welche der beiden Damen ramponierter aussieht.
Ramona kommt mir auf dem Gang mit zerzausten Haaren in T-Shirt und Slip entgegen.
„Morgen, gut geschlafen?“
„Oohh … brüll doch nicht so“, antwortet sie krächzend und verschwindet mit schweren Augenlidern im Badezimmer, gefolgt von Kleiner. Grinsend laufe ich die Treppe hinunter.
Ich habe Kaffee aufgesetzt und den Esszimmertisch mit aufgebackenen Croissants, Brötchen und diversen Aufschnitten gedeckt, als zwei müde Gestalten langsam die Treppe herunterschlurfen.
„Guten Morgen, Ladys, Frühstück ist fertig. Wurde aber auch Zeit, dass ihr endlich runterkommt.“
„Danke, Angyalom, aber ich glaube, mein Frühstück heute wird nur aus Tomatensaft bestehen. Grundgütiger, vor zwanzig Jahren konnte ich solche Abende besser ab“, jammert Liliana und setzt sich vorsichtig, darauf bedacht, ihren Schädel nicht allzu großen Schwingungen auszusetzen.
Stöhnend stützt Ramona ihren Kopf auf den Händen ab und schließt die Augen. „Ich trinke nie wieder einen Schluck Alkohol!“
Liliana zieht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Das hast du letzten Monat auch gesagt … und den Monat davor … und den Monat davor …“
„Schon gut! Was kann ich dafür, dass ich so ein Kurzzeitgedächtnis habe?“, erwidert Ramona giftig und wirft ihr einen Halt-bloß-die-Klappe-Blick zu.
Der Morgen danach ist doch immer wieder gleich.
Grinsend beiße ich in mein Croissant.
Nachdem Ramona noch half, das Chaos von gestern in der Küche zu beseitigen, steht sie nun im Flur und zieht sich ihre Jacke an. Für sie ist es nur ein einfacher Abschied, aber für uns ist es mehr. Liliana und ich tauschen bittere Blicke. Ach verdammt – ich halte es nicht mehr aus und falle meiner besten Freundin um den Hals. „Mensch, Süße, bitte pass auf dich auf“, sage ich und kämpfe gegen Tränen.
Sie blickt mich erstaunt an. „Sag mal, was ist denn mit dir los?“
„Meine Tochter ist heute ein kleines Sensibelchen“, sagt Liliana und wirft mir einen ermahnenden Blick zu.
„Was? Kriegst du etwa deine Tage?“, fragt Ramona lachend.
„Halt die Klappe, blöde Nuss“, erwidere ich und umarme sie noch mal grinsend.
Wir winken ihr zu, als sie vom Hof fährt.
Traurig blicke ich hinter ihr her. Liliana legt ihren Arm um mich und führt mich ins Wohnzimmer. „Das Thema Ramona ist noch nicht durch, Angyalom. Ich werde mit Alvar über sie reden, okay?“
Ich nicke und lächele.
Liliana blickt auf die Wanduhr. „Es ist jetzt halb drei. Um sechs Uhr möchte ich losfahren. Die Koffer sind alle gepackt, also was hältst du davon, wenn wir uns noch ein bisschen hinlegen? Schließlich werden wir die Nacht durchfahren.“
„Ich werde hier unten etwas schlafen“, antworte ich.
Liliana dreht sich um und geht die Treppe hoch.
Dicker macht es sich neben mir auf dem Sofa bequem und ich zappe eine Weile durchs Fernsehprogramm, bis ich irgendwann einschlafe.
Als ich aufwache, ist es eiskalt im Raum. Das Feuer im Kamin ist heruntergebrannt und ich ziehe die Decke über mich. Dicker ist verschwunden. Ich schaue auf die Wanduhr:
Viertel vor zehn. Oje!
Ich springe vom Sofa hoch und mache die Verandatür einen Spalt auf, damit die Katzen reinkommen können.
Verdammt.
Ich habe vergessen die Burkhardts zu fragen, ob sie die Katzen bei sich aufnehmen können. Am besten setze ich schon mal den Kaffee auf, den wir für die Reise mitnehmen wollen, und wecke anschließend Liliana.
Etwas Weiches streicht um meine Beine, als ich gerade die Kaffeemaschine mit Wasser fülle.
„Hey, Kleiner, wo kommst du denn her?“
Ich bücke mich, um meinen pelzigen Freund zu streicheln, und normalerweise streckt er sich meiner Hand entgegen, aber dieses Mal ist etwas anders. Er hat sich völlig versteift und starrt lauernd Richtung der offenen Verandatür. Jede Sehne und jeder Muskel ist angespannt.
„Was ist denn da draußen, mein Süßer? Eine Maus?“
Irritiert blicke ich zur Tür. Wir haben Vollmond und man kann draußen recht gut Umrisse erkennen, aber ich sehe nichts Ungewöhnliches. Da Katzen bekanntlich nachtaktiv sind und selbst bei schlechten Lichtverhältnissen noch vorbeihuschende Mäuse erkennen können, gebe ich zuerst nichts auf sein Verhalten – bis er anfängt zu knurren. Lauter, als ich es je bei einer Katze gehört habe!
Plötzlich macht Kleiner einen Satz und verschwindet mit wenigen kraftvollen Sprüngen nach draußen.
Seit den vergangenen Vorkommnissen reagiere ich sensibilisiert auf ungewöhnliche Veränderungen in meinem Umfeld, also schleiche ich durchs Wohnzimmer und spähe nach draußen. Doch es bietet sich mir nur der übliche friedliche Anblick der Felder und Wiesen, die mir so vertraut sind. Sicherheitshalber schließe ich die Tür. Ein Geräusch im Hintergrund lässt mich erschrocken herumfahren. Liliana steht vor mir und ist so blass wie die Wand.
„Sie sind wieder da!“, flüstert sie mit erstickter Stimme. „Ich habe sie von meinem Fenster aus gesehen. Sie laufen gerade über die Pferdekoppel der Burkhardts, wir haben also nicht viel Zeit.“
Ich versuche, die aufkeimende Panik zu unterdrücken, und folge meiner Mutter in die Küche. Wir haben uns in den vergangenen Tagen mit allem Möglichen, das nach einer potenziellen Waffe aussieht, aus dem Baumarkt, wo Liliana arbeitet, eingedeckt. Sogar eine Tackerpistole hat sie besorgt, aber am stolzesten ist sie auf ihre Schrotflinte, die sie auf dem Hochschrank in der Küche versteckt hat. Einer ihrer Kollegen ist Mitglied in einem Schützenverein und ein Waffennarr. Und da er ihr schon lange Avancen macht, stellte er nicht viele Fragen, als sie ihn um einen Gefallen bat.
Sie holt die geladene Flinte vom Schrank und sagt: „Wir müssen jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Ich habe drei oder vier gezählt, ich bin mir nicht ganz sicher. Du kommst mit der Axt am besten zurecht, richtig?“
„Ja, denke schon“, flüstere ich zitternd.
Liliana runzelt die Stirn, als sie mein kreidebleiches Gesicht sieht, und greift energisch mein Kinn. „Wir schaffen das, hörst du?“
Ich nicke stumm und gebe mir Mühe, dem Beispiel meiner tapferen Mutter zu folgen. Sie fürchtet sich auch, aber ich habe noch nie jemanden erlebt, der seine Emotionen so im Griff hat wie der kleine General.
„Gut, dann zieh dir festes Schuhwerk an und schnapp dir eine Axt und die Tackerpistole. Versuche ihnen damit zuerst die Augen auszuschießen“, sagt sie energisch.
Gerade, als ich loslaufen will, hören wir ein lautes Krachen im Wohnzimmer.
„Verdammt, sind die schnell! Schließ die Küchentür, los!“
Mit einem Satz bin ich dort und verschließe sie, da kracht bereits etwas Schweres gegen das Holz und ein lautes Knacken ist zu hören. Ein kleines Stück ist herausgebrochen und gibt einen Spalt frei, durch den uns ein gelbes Auge wütend anstarrt.
„Weg da!“, schreit Liliana. Ich springe zur Seite, da steckt sie auch schon den Lauf durch den Spalt und drückt ab.
Das anschließende Jaulen ist ohrenbetäubend und ich will mir die Ohren zuhalten, aber Liliana packt mich am Ärmel und zieht mich auf den Gang hinaus. Von dort aus können wir ins Wohnzimmer blicken und sehen, wie die Bestie röchelnd verendet. Aber einige Meter vor der zerschlagenen Verandatür nähern sich bereits weitere gelbe Augenpaare aus der Dunkelheit. Liliana springt zur Wohnzimmertür und verschließt sie.
„Wir warten, bis die anderen drin sind, dann verschwinden wir durch den Hinterausgang und laufen ums Haus zu meinem Auto“, flüstert sie. „Ich habe seit jener Nacht immer die Wagenschlüssel stecken lassen.“
Vor der Hintertür bleiben wir kurz stehen, während im Wohnzimmer unter lautem Poltern und Knurren unser restliches Mobiliar in seine Bestandteile zerlegt wird.
„Bitte lass nichts dort stehen, bitte lass nichts dort stehen“, bete ich leise. Dann drehe ich den Schlüssel um, schlucke kurz und öffne schwungvoll die Tür.
Nichts! Nur kühle Nachtluft.
Wie auf Kommando rennen wir los. Im Haus ist ein lautes Kreischen zu hören und wie Holz zersplittert. Sie folgen uns und unser Vorsprung ist mickrig. Als wir den Vorhof erreichen, bleiben wir stehen und Liliana späht um die Ecke. „Da ist keiner, lauf!“
Wir rennen weiter und haben ihren kleinen Golf mit wenigen Schritten erreicht. Ich reiße die Beifahrertür auf und sitze zwei Sekunden später bereits im Wagen, aber als Liliana gerade nach dem Türgriff greifen will, wird sie von etwas aus der Dunkelheit angesprungen. Sie stürzt und die Flinte entgleitet ihr und landet mit einem lauten Rums auf der Motorhaube. Stöhnend reibt sie sich ihren verletzten Arm, während die graue Bestie sich knurrend umdreht und wieder zum Angriff übergeht. Ich reiße die Beifahrertür auf und springe hinaus. Im Vorbeilaufen schnappe ich mir die Flinte von der Motorhaube und setze an, komme aber nicht zum Schuss, da mittlerweile zwei weitere Bestien um die Ecke hechten und eine Warnung zischen. Die Bestie, die Liliana bedroht, dreht sich um und schlägt mir die Waffe so blitzschnell aus der Hand, dass ich nur eine kurze Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnehme. Eine Sekunde später spüre ich auch schon den Schmerz in meinem Handgelenk und schreie laut auf. Die Flinte hat sich in den weichen Erdboden gebohrt und bleibt dort stecken.
Eine große Klaue packt mich am Hals und drückt mich zu Boden. Die Bestie blickt mich hasserfüllt an. „Súrrr“, zischt sie wieder dieses Wort voller Abscheu und ich klammere mich an ihrem Arm fest. Die lederne Haut fühlt sich ungewöhnlich an.
Trotz der Angst ist mein Verstand in diesem Augenblick erstaunlich klar und ich registriere sogar Kleinigkeiten. Ein spitzer Stein bohrt sich in meinen Rücken und durch einen leichten Windstoß wird feiner Staub aufgewirbelt. Zum ersten Mal sehe ich mir diese Abscheulichkeit genauer an und mir fällt auf, dass sie keine Ohren hat, nur kleine Löcher an den Stellen, wo die Ohrmuscheln eigentlich sitzen sollten. Sie hat zwar menschliche Züge, aber sie ähnelt eher einem großen, nackten Gorilla. Und sie spricht wieder. Diese zischenden Laute hallen in meinem Kopf wider. Kündigt sie etwa meinen baldigen Tod an? Warum?
Mir wird schlagartig bewusst, dass sie nicht einfach blind töten. Es ist eine Hinrichtung und sie wollen diesen Akt genießen.
Doch plötzlich reißen alle drei ihre hässlichen Köpfe hoch und schnüffeln. In diesem Augenblick ist wieder dieses geheimnisvolle Brüllen zu hören, wie wir es beim Angriff vor ein paar Tagen vernommen haben. Die Bestien weichen fauchend zurück. Mein Angreifer lässt meinen Hals los, das gibt mir Gelegenheit, mich schnell wegzurollen.
Ab da geht alles sehr schnell.
Ein riesiger schwarzer Körper springt geschmeidig aus der Dunkelheit und stößt meinen Angreifer gegen die Hollywoodschaukel, die sofort in ihre Einzelteile zerbricht.
Es ist eine Raubkatze mit glänzendem schwarzem Fell und sie ist riesig. Größer als ein Königstiger. Ihre wallende silberfarbene Mähne schimmert im Mondlicht. Und obwohl sie einen muskulösen Körper hat, wirkt sie schlank und geschmeidig. Sie hebt ihren Kopf und zwei funkelnde, bernsteinfarbene Augen blicken mir unmittelbar entgegen. Trotz der Angst, die mich in diesem Augenblick regelrecht lähmt, bin ich fasziniert von der Schönheit und der Eleganz dieses majestätischen Geschöpfes. Es öffnet sein Maul und lässt eine Reihe messerscharfer Zähne aufblitzen, wobei die Eckzähne wesentlich länger sind als bei normalen Raubkatzen; eher wie bei einem Säbelzahntiger. Außerdem hat es lange Ohren, die nach oben zu kleinen Büscheln zusammenlaufen – wie bei Luchsen.
Die Bestie rappelt sich auf und attackiert das schöne Geschöpf, doch dieses haut mit seiner riesigen Pranke nach seinem Gegner, der sich wiederum flink wegduckt. Die Bestie fackelt nicht lange und schlägt nun ihrerseits mit ihrer Klaue zu, trifft aber nur die Mähne. Beide Kontrahenten stellen sich auf ihre Hinterläufe und sind in dieser Position weit über zwei Meter hoch. Unser Haus im Hintergrund wirkt winzig, beinahe wie ein Puppenhaus.
Ich suche Liliana. Sie liegt auf dem Boden und beobachtet angsterfüllt die anderen zwei Bestien, die ihr bedrohlich nahe kommen. Sie sind nur noch einen Schritt entfernt, als eine zweite Raubkatze aus der Dunkelheit ins Kampfgeschehen springt und sich zähnefletschend über Liliana stellt.
Beschützend!, stelle ich erstaunt fest.
Die beiden grauen Wesen beginnen, das schöne Tier zu umkreisen – mit meiner vor Angst erstarrten Mutter darunter. Ihre gelben Augen glühen vor Hass, während sie auf eine Angriffsgelegenheit warten. Das Fell der Raubkatze hat sich aufgestellt und es wirkt dadurch noch bedrohlicher, während ihr langer Schwanz wild um sich peitscht. Liliana wirkt unter diesem riesigen Raubtier wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe.
Ein weiteres Brüllen ertönt und ein mit messerscharfen Zähnen gespickter Kiefer schießt hervor und gräbt sich tief in das Bein einer der Bestien. Sie kreischt laut und versucht, ihre Klauen in den Hals der Raubkatze zu hauen, doch diese weicht immer wieder geschickt aus, ohne ihren Biss auch nur für eine Sekunde zu lockern. Stattdessen legt sie ihre riesige Pranke auf den wild um sich schlagenden Leib und reißt mit einem kurzen Ruck das Bein heraus. Blut spritzt in alle Richtungen und ich bedecke mein Gesicht, aber mein Shirt bekommt das meiste ab. Die Bestie schreit wie am Spieß und schlägt mit ihren restlichen Gliedmaßen wild um sich, bis sie endlich langsam verstummt und reglos liegen bleibt. Erstarrt vor Angst schaue ich zur Raubkatze hoch. Blut tropft aus ihrem Maul, da hebt sie plötzlich den Kopf und gibt ein lautes Brüllen von sich, dass ich denke, die Blätter fallen vor Schreck von den Bäumen.
Ich drehe mich zu Liliana um, sie ist mittlerweile zur Hauswand gekrabbelt und beobachtet das ganze schaurige Szenario mit panikerfüllten Augen. Ihre Bluse ist zerrissen und sie blutet am Arm. Da auch ich im Augenblick unbeobachtet bin, krieche ich auf allen Vieren zu ihr rüber, und wir nehmen uns in die Arme. Mein Angreifer liegt ebenfalls zerlegt auf dem Boden und wir beobachten, wie die drei Raubkatzen langsam die letzte Bestie umkreisen. Sie scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein, denn sie nehmen sich viel Zeit. Man hört nur ein leises Knurren, das aus den tiefsten Winkeln ihrer Eingeweide zu kommen scheint. Die graue Bestie dreht sich panisch um die eigene Achse und sucht nach einer Fluchtmöglichkeit, aber sie weiß, dass sie hier nicht mehr lebend herauskommt. Mit einem letzten verzweifelten Aufschrei erhebt sie sich auf ihre Hinterläufe und stürmt auf ihre Gegner zu.
Ich höre nur noch das Reißen von Fleisch und das Krachen von Knochen, dann tritt Stille ein.
Die drei Raubkatzen stehen im Kreis vor den Überresten ihres letzten Gegners und ihr seidiges Fell glänzt wie Silber. Sie erheben gleichzeitig ihre Köpfe gen Himmel und ein Siegesgebrüll, laut und wild, erfüllt die Nacht.
12
Es ist so still, dass ich sogar das Klopfen meines Herzens als laut empfinde. Ich greife vorsichtig neben mich und taste nach Lilianas Hand, die wiederum zitternd ihre Nägel in meine Handfläche gräbt.
„Bist du okay?“, frage ich flüsternd.
„Ja … denke ich“, antwortet sie zaghaft. Ich sehe sie nicht, da ich gebannt auf die drei kalbgroßen Raubtiere vor uns starre. Sie haben ihre Köpfe gedreht und schauen uns mit großen bernsteinfarbenen Augen an, dann setzen sie sich langsam in unsere Richtung in Bewegung.
„Oh Gott“, murmelt Liliana neben mir und ich halte vor Schreck die Luft an. Sie haben uns zwar gerettet, aber vielleicht nur, weil wir ihre Beute sind? Habe ich das Beschützen von vorhin vielleicht missinterpretiert?
Sie scheinen nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen und ich vermute, dass ein Prankenhieb ausreicht, um meinen kleinen Fiat Panda wie einen Ball durch die Luft zu schleudern. Außerdem sind wir wohl kaum schnell genug. Weglaufen würde nicht viel bringen. Panisch schiele ich nach der Schrotflinte, die nur einen Meter vor mir im Boden steckt, als etwas sehr, sehr Merkwürdiges passiert.
Die Luft um die drei Raubkatzen beginnt zu flimmern wie an sehr heißen Tagen und ein leichter Wind kommt auf. Ich traue meinen Augen nicht, als sie plötzlich zu schrumpfen beginnen. Die großen Luchsohren werden kleiner und auch die Mähne zieht sich langsam in die Haut zurück. Selbst die langen Fangzähne fahren wie bei Vampiren zurück in den Kiefer.
Als die drei vor uns zum Stehen kommen, hört das Flimmern auf und sie sind auf die Größe von normalen Hauskatzen geschrumpft.
Großer, Dicker und Kleiner!
Völlig ungläubig schaue ich in sechs kleine vertraute Bernsteinaugen und merke, wie mein Unterkiefer herunterklappt. Während sich Großer gleichmütig das Fell zu putzen beginnt, lässt sich Dicker mit einem geräuschvollen Gähnen neben Lilianas Beinen nieder. Kleiner tapst direkt auf meinen Schoß und kringelt sich dort laut schnurrend zusammen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir auf dem Boden hocken, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
„Was ist hier gerade passiert?“, frage ich völlig benommen. Liliana atmet geräuschvoll aus und erhebt sich schwerfällig. „Komm rein, wir müssen reden“, sagt sie tonlos und tritt durch die Verandatür, die nur noch in Fetzen hängt.
Vorsichtig schiebe ich Kleiner von meinem Schoß, der mich überrascht anschaut und nicht ganz zu verstehen scheint, warum er jetzt seine bequeme Position aufgeben soll.
Ich stehe ebenfalls auf und folge Liliana ins Wohnzimmer, das wieder einem Schlachtfeld gleicht. Wir drehen das Sofa um und setzen uns. Ein bedrückendes Schweigen liegt eine Zeitlang in der Luft. Die drei Pelzköpfe betreten das Wohnzimmer und beobachten uns neugierig.
„Hast du eine Ahnung, was sie sind?“, frage ich.
„Nein, aber ich denke, dass Alvar uns das beantworten kann“, murmelt Liliana nachdenklich.
„Glaubst du, sie sind unseretwegen hier? Ich meine, zu unserem Schutz?“, frage ich stirnrunzelnd.
„Wir sind – dank ihnen – noch am Leben, also würde ich sagen, ja.“
In meinem Kopf schwirrt es.
Schweigen.
„Wie geht es deinem Arm?“
Sie betrachtet ihn kurz. „Nichts gebrochen, aber hilfst du mir gleich, ihn zu verbinden?“
„Selbstverständlich.“
Es folgt eine weitere Schweigeminute.
„Okay, wie ist der Plan?“, will ich wissen.
„Ich rufe Alvar an und sage ihm, dass wir uns auf den Weg machen. Schau dich nochmals in deinem Zimmer um, ob du auch nichts vergessen hast. In einer Stunde fahren wir los.“
„Ich will nicht weg, Mama“, sage ich leise und kämpfe mit den Tränen.
Seufzend nimmt sie mich in die Arme. „Ich auch nicht, mein Schatz, aber wir haben keine andere Wahl. Es geht ums Überleben. Ich habe dich dreimal fast verloren. Noch einmal werde ich das nicht riskieren.“
Ich schließe meine Augen und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter.
Ich stehe vor meinem Bett und blicke mich in meinem kleinen Zimmer um. Es ist so weit. Abschied nehmen. Ich packe noch ein paar Badutensilien ein, dann schalte ich das Licht aus und gehe die Treppe hinunter.
Liliana hat bereits alles in ihren Golf gepackt. Der ist definitiv in einem besseren Zustand als mein altersschwacher Fiat, und weitaus geräumiger. Trotzdem schiele ich sehnsüchtig zu meinem kleinen Auto rüber und bilde mir ein, dass es mir ebenfalls traurig entgegenblickt.
Liliana nimmt mir die Reisetasche ab und schiebt sie in die letzte Lücke des Kofferraums. Jetzt passt wirklich nichts mehr hinein.
„Hast du Alvar erreicht?“, frage ich.
„Ja, und er war geschockt, als ich ihm von dem dritten Angriff berichtete.“
„Hast du ihn auch auf die drei Pelzköpfe angesprochen?“
„Ja, aber er wollte am Telefon nichts erzählen. Er sagte nur, dass wir sie unbedingt mitbringen sollen.“
„Aber es sind trotz allem Katzen!“, erwidere ich verwirrt. „Wir haben über tausend Kilometer vor uns und können sie nicht stundenlang in einen Katzenkorb sperren. Abgesehen davon haben wir noch nicht mal welche.“
Liliana zieht belustigt eine Augenbraue hoch. „Angyalom, ernsthaft jetzt? Nach allem, was passiert ist, glaubst du noch, dass sich diese drei in einen Katzenkorb sperren lassen? Wir wissen doch wohl beide, dass das keine normalen Hauskatzen sind?!“
„Nein, natürlich nicht, aber … ach Gott, ich weiß auch nicht.“
„Vorschlag zur Güte, wir fragen sie einfach selber?“, sagt sie und beginnt zu kichern, als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sieht.
Sie läuft zur hinteren Beifahrertür und öffnet sie. Dann wendet sie sich an die Pelzköpfe, die uns neugierig beobachten, und sagt: „Na, Jungs, wollt ihr hierbleiben, wo ihr es bequem habt, oder uns in diesem kleinen, engen, klapprigen Auto, das die ganze Nacht schaukeln und wackeln wird, nach Budapest begleiten?“