Kirchliches Begräbnis trotz Euthanasie?

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Vor der Assoziation von passiver Sterbehilfe mit einem passiven Verhalten gegenüber Sterbenden im Sinn eines Nichtstuns ist auch mit Blick auf die palliativmedizinische Versorgung zu warnen, da diese dann auch abgebrochen werden müsste, obwohl sie neben „menschenwürdige[r] Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Linderung von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst“80 zur immer verpflichtend auszuübenden Basisversorgung des Patienten gehört. Ein auf der Fehlinterpretation des Begriffs passive Sterbehilfe beruhendes inaktives Verhalten seitens des medizinischen Personals würde beträchtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Unterscheidung auf der Ebene der Intention – direkt/indirekt
Die vorhergehende Differenzierung in aktive und passive Sterbehilfe impliziert sie Subsumtion jener Handlungen unter aktive Sterbehilfe, die einen Wechsel der Todesursache bewirken. Für ihre juristische wie moralische Bewertung gilt es zu klären, ob der durch die medizinische Intervention verursachte Tod vom Handelnden bewusst und zielgerichtet herbeigeführt oder lediglich billigend in Kauf genommen wurde. Dies zieht je nach Sach- und Rechtslage unterschiedliche Konsequenzen nach sich. Vom verwendeten Begriffspaar direkt und indirekt wird das jeweils Zutreffende dem Terminus der aktiven Sterbehilfe vorangestellt.
Als direkte aktive Sterbehilfe sind jene medizinischen Handlungen am Lebensende zu qualifizieren, die erstens den Tod verursacht haben (aktiv) und bei denen zweitens die Herbeiführung des Todes seitens des Handelnden zielgerichtet intendiert war (direkt). Im Gegensatz dazu sind medizinische Interventionen am Lebensende als indirekte aktive Sterbehilfe zu bezeichnen, wenn sie zwar ebenso den Tod verursachen (aktiv), diesen aber aufgrund ihrer palliativmedizinischen Ausrichtung und der schmerzlindernden Intention lediglich billigend, d. h. als vollkommen unbeabsichtigte Nebenwirkung in Kauf nehmen (indirekt).81 Eine solche schmerzlindernde Handlung mit billigend in Kauf genommener Todesfolge wird auf Basis des ethischen Prinzips der Doppelwirkung einer Handlung, welches auf den Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274) zurückgeht,82 nicht als Tötung auf Verlangen gewertet, da sie aufgrund ihres sittlichen Gehalts eindeutig als eine das Gut der Schmerzenslinderung intendierende Handlung zu qualifizieren ist. Alle Handlungen, die dem Bereich der indirekten aktiven Sterbehilfe zuzurechnen sind, gelten daher sowohl nach ethischen wie rechtlichen Maßstäben als zulässig und geboten. Als positives Gut der palliativmedizinischen Umsorgung verfolgen sie langfristig ein würdevolles Sterben.83
Unbeschadet der notwendigen theoretischen Differenzierungen im Bereich der aktiven Sterbehilfe existiere nach Borasio in der Realität jedoch nur noch die direkte aktive Sterbehilfe. Aufgrund der bestehenden Möglichkeiten einer nahezu fehlerlosen Schmerzeinstellung sei die indirekte aktive Sterbehilfe eigentlich inexistent.84
Unterscheidung auf der Ebene der Willenshaltung – freiwillig/unfreiwillig/nichtfreiwillig
Nach der Differenzierung in direkte aktive, indirekte aktive und passive Sterbehilfe mithilfe der Kriterien der Todesursache und der Handlungsintention bedarf es noch einer dritten Unterscheidung, um die moralischen wie rechtlichen Implikationen der Handlung vollends zu erfassen. Dazu sind die verschiedenen Willenshaltungen zu betrachten, die ein schwerkranker Patient in Relation zur jeweiligen medizinischen Handlung einnehmen kann. In der Literatur werden insgesamt drei Sachverhalte unterschieden: freiwillig, unfreiwillig und nichtfreiwillig.85 Wird vom Schwerkranken der Wunsch nach Herbeiführung des Todes, Linderung der Schmerzen durch Medikamente oder Behandlungsabbruch bzw. -verzicht geäußert und in freier Entscheidung einem Vollzug zugestimmt, dann wird von freiwilliger Sterbehilfe gesprochen.86 Werden entsprechende medizinische Eingriffe vorgenommen, obwohl der einwilligungs- und entscheidungsfähige Patient diese abgelehnt bzw. seine Einwilligung verweigert hat oder aber sein Wille von vornherein nicht erfragt wurde, handelt es sich um unfreiwillige Sterbehilfe.87 Als ebenso unfreiwillig werden alle unter Zwang und Druck getroffenen mutmaßlichen Einwilligungen erachtet.88 Der Vollzug von aktiver oder passiver Sterbehilfe an einem entscheidungs- bzw. einwilligungsunfähigen Patienten, der im Zustand der Bewusstlosigkeit verharrt oder seines Vernunftgebrauchs entbehrt, wird nach aktueller Terminologie als nichtfreiwillig bezeichnet.89 Der Patient war nicht in der Lage, eine Entscheidung über den weiteren Behandlungsverlauf zu fällen oder bereits getroffene Entscheidungen zu kommunizieren. In solchen Fällen müssen die behandelnden Ärzte den weiteren Therapieverlauf und das Therapieziel an der medizinischen Indikation auszurichten und weitere Interaktionen mittels einer eventuell vorliegenden Patientenverfügung bzw. bei deren Fehlen durch Eruierung des mutmaßlichen Willens der Person bestimmen.90 Der Begriff nichtfreiwillig bezeichnet die aktuelle Nichtfähigkeit des Patienten zur Willensbekundung.
Zusammenfassung
Als Zusammenfassung der dargelegten Differenzierungen von Sterbehilfe in aktiv/passiv, direkt/indirekt sowie freiwillig/unfreiwillig/nichtfreiwillig soll das folgende Schaubild91 fungieren:

Inmitten der Unterscheidung in aktive und passive Sterbehilfe wurde die (ärztliche) Beihilfe zum Suizid92 aufgenommen, wobei die gestrichelte Linie bewusst die Ambivalenz dieser Subsumtion verdeutlicht. Für eine Aufnahme der Beihilfe zum Suizid in den Bereich der Sterbehilfehandlungen wird ins Feld geführt, dass die außenstehende Person dem darum bittenden schwerkranken Menschen alle benötigten Mittel derart zur Verfügung stellt, dass dieser sich eigenständig das Leben nehmen kann. Der Suizid hätte zwar nicht ohne äußere Handlung vollzogen werden können, dennoch wird die Handlung vom Suizidanten selbst ausgeübt, wodurch dieser den Tod direkt herbeiführt. Als Argument gegen eine Auslegung der Suizidbeihilfe als Sterbehilfe vorgebracht, dass eine Einwirkung auf das Leben bzw. den Sterbeprozess seitens des Außenstehenden weder aktiv noch passiv gegeben ist.93 Dass dem Suizidant die Tatherrschaft zukommt, ist vor allem für die rechtliche Qualifizierung eines Suizids als Suizid und nicht als Sterbehilfehandlung von immenser Bedeutung.94
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass zwischen Suizidbeihilfe und Sterbehilfe zwar eine gewisse Ähnlichkeit besteht, die im Versuch zur Realisierung des Patientenwillens gründet. Die gleichzeitige Unähnlichkeit der beiden Handlungen insinuiert daher auch eine Ungleichwertigkeit.
2.2.2. Die Terminologie des kirchlichen Lehramts seit 1980
Das Lehramt der katholischen Kirche gebraucht in seinen zurückliegenden Verlautbarungen und Stellungnahmen zum ethischen Gehalt von medizinischen Handlungen am Lebensende eine eigene Terminologie. Indem die Teilbereiche Euthanasie als Herbeiführung des Todes, die Anwendung therapeutischer Mittel und die Anwendung schmerzstillender Mittel nach Art ihrer Handlung differenziert und deskribiert werden, wird auf einen terminologischen Oberbegriff wie Sterbehilfe oder Euthanasie sowie dessen adjektivische Ergänzung gänzlich verzichtet. Dadurch bedarf es auch zum näheren Verständnis der terminologischen Differenzierung der einzelnen Handlungskategorien im Gegensatz zur Sterbehilfeterminologie keines verborgenen Kriterienkatalogs (Todesursache, Intention, Willenshaltung).95
Die lehramtlichen Terminologie wurde nicht explizit konstruiert, sondern ist im Kontext des immensen medizinischen Fortschritts in den 1940-50er Jahren gewachsen. Pius XII. wurde als Gesprächspartner nach der ethischen Beurteilung bzw. moralischen Zulässigkeit diverser medizinischer Handlungen gefragt und äußerte sich grundlegend zur euthanasia96 als Herbeiführung des Todes zum Erlös von Schmerzen durch Handlung oder Unterlassung.97 Er prägte „den Unterschied zwischen ordentlichen, immer einzusetzenden, und außerordentlichen, nicht in jedem Fall einzusetzenden Mitteln, um damit die Fragen um einen möglichen Behandlungsabbruch bzw. -verzicht bei einem schwer Leidenden bzw. Sterbenden differenzierter betrachten zu können“98 und verwies hinsichtlich der Schmerzmittelgabe mit nichtintendierter Todesfolge auf das traditionelle Prinzip der Doppelwirkung einer Handlung.
Nach einer gewissen Ruhephase in der Nachkriegszeit, die sich auch im Fehlen kirchlicher Stellungsnahmen abbildet, ist parallel zum Anstieg des politischen, medizinischen und gesellschaftlichen Reflektierens über Tötung auf Verlangen, Behandlungsabbruch und -verzicht sowie Schmerzlinderung mit unbeabsichtigter Todesfolge auch seitens des kirchlichen Lehramts eine Zunahme entsprechender Veröffentlichungen zu verzeichnen. Inhaltlich auf die gesellschaftlichen Fragen und Tendenzen reagierend haben diese die kirchliche Lehre von der Unantastbarkeit menschlichen Lebens und die ethische Beurteilung medizinischer Handlungen am Lebensende zum Inhalt. Der Umstand, dass seitens des Apostolischen Stuhls zwischen 1980 und 1995 insgesamt fünf eigenständige Dokumente veröffentlicht wurden, die allgemein dem Kontext von schwerer Krankheit, der Lebenswirklichkeit schwerkranker Patienten und dem Dienst der im medizinischen und pflegerischen Bereich Tätigen gewidmet sind und speziell zur Euthanasie und zur Anwendung therapeutischer und schmerzstillender Mittel Stellung nehmen, zeigt die Bedeutung und Relevanz des gesamten Themenkomplexes, die ihnen seitens des kirchlichen Lehramtes für den christlichen Glauben, den einzelnen Gläubigen als auch die Menschheit selbst beigemessen wurde.
Die päpstlichen Aussagen von Pius XII. aufgreifend veröffentlichte die Heilige Kongregation für die Glaubenslehre am 5. Mai 1980 die Erklärung Iura et bona99 zu einigen Fragen zur kirchlichen Lehre bezüglich der Euthanasie. Obwohl die von den vorangegangenen Päpsten herausgestellten Grundsätze der kirchlichen Lehre zur Euthanasie und anderen medizinischen Handlungen am Lebensende ihr volles Gewicht behielten, erforderten der medizinische Fortschritt und mit ihm die gewachsenen medizinischen Möglichkeiten eine Klärung hinsichtlich der ethischen Zulässigkeit entsprechender Eingriffe seitens des kirchlichen Lehramts.100 Da die Erklärung der Glaubenskongregation als Grundlagendokument verstanden und in den nachfolgenden lehramtlichen Veröffentlichungen kontinuierlich rezitiert wurde, prägte sie die lehramtliche Terminologie entschieden. Nur ein Jahr später publizierte der Päpstliche Rat Cor Unum am 27. Juni 1981 aufgrund des regen Interesses ein internes Arbeitsdokument aus dem Jahr 1976, welches sich vorwiegend pastoralen Fragen widmete.101 Als dritte Veröffentlichung ist der am 11. Oktober 1992 publizierte Catechisme de l’Église catholique102 zu nennen, der bewusst nicht als theologischwissenschaftliches Lehr- und Arbeitsbuch konzipiert wurde. Als Kompendium der katholischen Glaubenslehre sollte er die kirchliche Glaubens- und Sittenlehre als ganze normativ zusammenfassen, um ein Werkzeug des katechetischen und verkündenden Wirkens der Kirche zu sein.103 Im Jahr 1995 wurden noch zwei weitere kirchenamtliche Lehrschreiben veröffentlicht, die sich mit Euthanasie als Angriff auf das menschliche Leben und der ethischen Beurteilung anderer medizinischer Handlungen am Lebensende beschäftigten, wobei das zweite im Schatten des ersten fast der öffentlichen Wahrnehmung entzogen blieb: die Enzyklika Evangelium vitae104 von Papst Johannes Paul II. vom 25. März 1995 und die Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen105 des Päpstlichen Rates für die Seelsorge im Krankendienst vom Mai 1995. Während der Papst das von Gott geschenkte Leben als hermeneutischen Zugang zur Betrachtung menschlicher Eingriffe auf selbiges und deren ethischer Bewertung gebrauchend unter anderem die kirchliche Lehre zu Euthanasie und anderen medizinischen Interventionen am Lebensende darlegte,106 verfolgte der päpstliche Rat mit seiner Charta die Verbreitung, Erklärung und Verteidigung der kirchlichen Lehre im Bereich der Gesundheitsversorgung.107 In inhaltlicher Kontinuität mit den vorausgegangenen lehramtlichen Dokumenten bezieht die Charta als vollständig und unverzüglich von der Glaubenskongregation approbierter und bestätigter Text volle Gültigkeit und zuverlässige lehramtliche Autorität zuzuerkennen.108
Im Folgenden wird ein systematischer Überblick über die vom Lehramt verwendete Terminologie bezüglich Euthanasie, Anwendung therapeutischer Mittel und Anwendung schmerzstillender Mittel gegeben. Die ethische Beurteilung der entsprechenden Handlungen erfolgt im weiteren Verlauf der Arbeit.109
Euthanasie
Bereits 1980 wies die Glaubenskongregation darauf hin, dass die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes Euthanasie verloren gegangen sei und „vielmehr an einen ärztlichen Eingriff [gedacht werde], durch den die Schmerzen der Krankheit oder des Todeskampfes vermindert werden“110. In der Beschreibung von Euthanasie, die grundlegend auf den Differenzierungen von Pius XII. basiert und in den nachfolgenden Dokumenten rezipiert wurde, fehlt das Element des ärztlichen Eingriffs jedoch:
„Unter Euthanasie wird hier eine Handlung oder Unterlassung verstanden, die ihrer Natur nach oder aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um so jeden Schmerz zu beenden. Euthanasie wird also auf der Ebene der Intention wie auch der angewandten Methoden betrachtet.“111
Eine erste Unterscheidung ist in der Differenzierung in Handlung oder Unterlassung zu sehen. Dabei erscheint es als irrelevant, ob die medizinische Intervention als ein Tätig-Werden zu werten ist oder nicht. Ebenso ist unwesentlich, ob „die Herbeiführung des Todes methodenimmanent ist (z.B. tödliche Injektion) oder etwa durch die Unterlassung einer Therapiemaßnahme unmittelbar intendiert ist.“112 Eine zweite Unterscheidung erfährt die mit dem Euthanasiebegriff bezeichnete Handlung durch ihre Eigenarten, da sie entweder mit der Intention ausgeübt worden sein muss, den Tod herbeizuführen, oder aber – und hierin liegt ein entscheidender Zusatz – den Tod aus ihrer Natur heraus herbeigeführt hat. Die Glaubenskongregation gibt zu bedenken, dass die Kriterien zur Unterscheidung, wann medizinische Eingriffe am Lebensende unter die Kategorie Euthanasie fallen, in der Intention und der inneren Wirkweise implizit enthalten sind und sich grundlegend an jenem zu verurteilenden Wunsch bzw. Willen orientieren, sich „zum Herrn über den Tod zu machen, indem man ihn vorzeitig herbeiführt und so dem eigenen oder dem Leben anderer ‚auf sanfte Weise’ ein Ende bereitet.“113
Woran sich die Eigenschaft der Natur nach den Tod herbeiführen letztlich bestimmt, bleibt in den lehramtlichen Dokumenten unscharf. Die Frage ist, wie unterlassene oder abgebrochene medizinische Therapien, die ihrer Natur nach zum Tode führen, von denen zu unterscheiden sind, die ihrer Natur nach nicht zum Tode führen, aber dennoch das Sterben zulassen. Diese Unklarheit kommt besonders mit Blick auf die Unterscheidung der therapeutischen Mittel in ethisch verpflichtende und nicht verpflichtende zum Tragen.114 Es erwächst daraus die Frage, ob Verzicht oder Abbruch von ethisch verpflichtenden therapeutischen Maßnahmen als eigenständige Kategorie oder als Euthanasie im Sinn einer Unterlassung, die der Natur nach zum Tode führt, zu werten sind. Der Möglichkeit einer missverständlichen Nutzung des Euthanasiebegriffs Gewahr werdend, plädierte der Päpstliche Rat Cor Unum daher bereits 1981 für eine präzise Verwendung.115 Der Euthanasiebegriff sei weder als adäquate Bezeichnung für eine intendierte Schmerzlinderung mit Todesfolge noch für den Abbruch bzw. Verzicht ethisch nicht verpflichtender therapeutischer Mittel geeignet, da keiner der benannten Handlungen die Intention zugrunde liege, den Tod herbeizuführen, oder die Herbeiführung des Todes – nicht zu verwechseln mit dem annehmenden Sterbenlassen – in der Natur der Sache selbst liege.116 Vielmehr seien das Gewähren eines menschenwürdigen Sterbens und die Vermeidung eines unangemessenen Hinauszögerns des Sterbeprozesses intendiert und umgesetzt. Daraus lässt sich aber ableiten, dass der Euthanasiebegriff für den Abbruch bzw. Verzicht von ethisch verpflichtenden therapeutischen Maßnahmen durchaus geeignet wäre.
Diese Interpretation erhält durch die Ausführungen des Katechismus, der Enzyklika Evangelium vitae und der Charta aufgrund ihrer differenzierteren Verwendung des Euthanasiebegriffs weitere Argumente. Im Gegensatz zur Glaubenskongregation und zum Päpstlichen Rat Cor Unum, die nur euthanasia117 und l‘euthanasie118 als solche behandelten, sprach der Katechismus erstmals von l’euthanasie directe und sah diese – unbeschadet in der gewählten Form – in der Lebensbeendigung behinderter, kranker oder sterbender Menschen begründet.119 Die Beliebigkeit der existierenden Gründe und der verwendeten Mittel verschleiert dabei den Inhalt der näheren Qualifizierung der Euthanasie als direkt, zumal im Folgesatz die allgemein gehaltene Euthanasiebeschreibung der Glaubenskongregation von 1980 rezipiert wird,120 ohne einen Verweis auf die indirekte Euthanasie oder eine Beschreibung dessen, was darunter allenfalls zu verstehen sei, zu geben. Die die lehramtliche Terminologie wurde an dieser Stelle nicht nachhaltig geschärft.
Johannes Paul II. verwendet in seiner Enzyklika Evangelium vitae den Euthanasiebegriff zunächst in allgemeiner Form für die Versuchung und Entscheidung, den Tod vorzeitig und bewusst herbeizuführen.121 Die darauf folgende Beschreibung schlägt jedoch einen differenzierteren Ton an, da nunmehr von Euthanasie im eigentlichen Sinn die Rede ist:
„Unter Euthanasie im eigentlichen Sinn versteht man eine Handlung oder Unterlassung, die ihrer Natur nach und aus bewußter Absicht den Tod herbeiführt, um auf diese Weise jeden Schmerz zu beenden. ‚Bei Euthanasie dreht es sich also wesentlich um den Vorsatz des Willens und um die Vorgehensweisen, die angewandt werden‘.“122
Die Reduktion der definitionsähnlichen Beschreibung auf Euthanasie im eigentlichen Sinn hat zwangsläufig zur Folge gehabt, dass die näheren Attribute der Handlung oder Unterlassung, die die Glaubenskongregation noch in einem variablen Verhältnis sah, sodass von ihnen nur eines hinreichend vorhanden sein musste, damit es sich um Euthanasie handelte, nunmehr additiv miteinander verknüpft wurden. Euthanasie im eigentlichen Sinn ist demnach keine Handlung oder Unterlassung, die aus ihrer Natur heraus oder (vel) auf Basis der Intention den Tod herbeiführt, sondern stattdessen jene, die ihrer Natur nach und (et) aus bewusster Absicht zum Tode führt.123
Es stellt sich die Frage, ob aus dieser Differenzierung das Verständnis von Euthanasie im uneigentlichen Sinn als Handlung oder Unterlassung abzuleiten ist, die nur der Natur nach oder nur der Intention nach den Tod herbeiführt. Wenn der Papst aber bezüglich des Verzichts bzw. des Abbruchs von ethisch nicht verpflichtenden therapeutischen Maßnahmen deutlich hervorhebt, dass diese „nicht gleichzusetzen [sind] mit Selbstmord oder Euthanasie“, da sie „vielmehr Ausdruck dafür [sind], daß die menschliche Situation angesichts des Todes akzeptiert wird“124, dann können unter Euthanasie im uneigentlichen Sinn nur noch der Abbruch oder Verzicht jener therapeutischen Mittel zu verstehen sein, die ethisch verpflichtend anzuwenden sind. Aufgrund der fehlenden Quellenlage ist diese These aber nicht verifiziert.
Neben die Konzepte der direkten Euthanasie (1992) und der Euthanasie im eigentlichen Sinn (1995) stellte der Päpstliche Rat für die Seelsorge im Krankendienst ein weiteres Verständnis von Euthanasie, indem die im Katechismus verwendete Terminologie aufgegriffen und durch die Attribute aktiv und passiv ergänzt wurde: eutanasia diretta, attiva o passiva.125 Die Einführung dieser gesellschaftlich gängigen, aber zuvor vom Lehramt nicht verwendete Spezifizierung verwundert, da sich die Verfasser der Charta eigentlich dafür entschieden hatten, zur Vermeidung widersprüchlicher Interpretationen vor allem „die Stellungnahmen der Päpste bzw. der von den Dikasterien der Römischen Kurie veröffentlichten maßgeblichen Texte fast immer direkt zu Wort kommen zu lassen“126. Nichtsdestotrotz wird nach Zitation der Beschreibung der Glaubenskongregation formuliert, dass Mitleid niemals eine direkte, aktive oder passive Euthanasie rechtfertige, sodass es sich dabei
„nicht um die Hilfeleistung an einen Kranken [handelt], sondern um die absichtliche Tötung eines Menschen.“127
Im Gegensatz zum Katechismus, der direkte Euthanasie undifferenziert als Lebensbeendigung bezeichnete, wird der Begriff direkt in der Charta mit der Intention verbunden, den Tod herbeizuführen. Das Begriffspaar aktiv oder passiv scheint jedoch nicht auf die Todesursache zu rekurrieren, sondern als Synonym für Handlung oder Unterlassung zu fungieren. Erneut fehlt eine Beschreibung dessen, was unter einer indirekten, aktiven oder passiven Euthanasie zu verstehen ist.
Die Verwendung des Euthanasiebegriffs durch das kirchliche Lehramt offenbart den Konsens, Euthanasie als Handlung oder Unterlassung zu verstehen, die der Natur nach oder intendiert den Tod herbeiführt. Die jüngeren Dokumente zeugen von weiteren Differenzierungen, die vor allem die intendierte Tötung näher spezifizieren und als Euthanasie im eigentlichen Sinn oder direkte Euthanasie bezeichnen. Um ferner zu bestimmen, welche Handlungen bzw. Unterlassungen, die den Tod zwar nicht intendieren, diesen aber ihrer Natur nach herbeiführen ebenso zur Kategorie der Euthanasie (im uneigentlichen Sinn) zu rechnen sind, enthalten alle benannten Dokumente separate Abhandlungen über die Anwendung therapeutischer Mittel sowie die Kriterien zur Unterscheidung ihres ethisch verpflichtenden Charakters.
Anwendung therapeutischer Mittel
Das kirchliche Lehramt nannte ihre Reflexion über Abbruch bzw. Verzicht medizinischer Therapien und Interventionen und deren ethische Zulässigkeit Anwendung therapeutischer Mittel. Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Verpflichtungsgrad, alle von der Medizin bereitgestellten Therapien und Interventionen anzuwenden, mit denen das Leben unheilbar kranker Menschen nicht nur erhalten, sondern auch entschieden verlängert werden kann.128 Nach Ansicht von Papst Pius XII., der bereits 1957 zu dieser Thematik um Stellungnahme gebeten wurde, können über den moralischen Verpflichtungsgrad einer medizinischen Therapie keine allgemeinen Aussagen getroffen werden, da sich dieser nur vor dem Hintergrund einer ganz konkreten und einzigartigen krankheitsbedingten Lebenssituation in Würdigung der situativen Umstände, des absehbaren Aufwands der medizinischen Intervention und deren zu erwartenden Erfolgs bestimmen lasse. Der Papst unterschied zwei Kategorien von therapeutischen Maßnahmen, die üblichen und die unüblichen, indem er auf das Verhältnis von Aufwand und Ertrag eines therapeutischen Mittels für den Patienten rekurrierte. Ohne einer utilitaristischen Argumentation zu unterliegen, verknüpfte er mit der Kategorie der üblichen therapeutischen Mittel im Sinn eines würdevollen und ethisch vertretbaren Umgangs mit dem Geschenk des menschlichen Lebens eine moralische Verpflichtungskraft zu deren Anwendung, da sie den schwerkranken Menschen in seiner Situation nichts Außergewöhnliches aufbürden und ihr Ertrag gegenüber dem Aufwand mit den einhergehenden Belastungen überwiegen würde.129 Zeichnete sich aber ein Überhang der negativen Konsequenzen durch subjektive Einschätzung des Patienten oder mittels objektiver Kriterien seitens der Ärzte ab, sei die medizinische Intervention als unübliches therapeutisches Mittel zu kategorisieren, für deren Anwendung der Papst keine ethische Verpflichtung gegeben sah. Eine solche unübliche, da außergewöhnlich belastende Therapie konnte ethisch zulässig abgebrochen oder von vornherein auf sie verzichtet werden konnte, um in der Unausweichlichkeit des Todes das Anrecht auf ein würdevolles Sterben zu wahren und therapeutischen Übereifer zu vermeiden. Abbruch bzw. Verzicht von üblichen therapeutischen Mitteln auch bei fehlender Intention zur Herbeiführung des Todes wurden indes als ethisch unzulässig gewertet und als schwer sündhaft verurteilt. Die Schlussfolgerung, diese Art Handlung oder Unterlassung als (indirekte bzw. uneigentliche) Euthanasie zu bezeichnen, ist gemäß der lehramtlichen Terminologie zulässig und konsistent.