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Allmorgendlich um halb fünf weckte sie die Studentin unsanft durch Klopfen aufs Fußteil und ein lautes »Gudemorjen,« nachdem sie nachts die Heizung abgedreht und alle Fenster klimakteriumsbedingt weit aufgerissen hatte. Als Krönung pochte diese »Lerche« tagtäglich nach der Tagesschau auf ihr Ruherecht als Schwerstkranke, aufgrund höllisch brennender Hämorrhoiden oder wuchernder Divertikel. Danach folgte immer das herrische Verlangen nach »AUS!« von Licht und Fernseher, um sofort fürchterlich sägend in einen todesähnlichen Tiefschlaf zu versinken. Vier endlos erscheinende Tage und Nächte inklusive zahlreicher Versionen der »speckigen Krankheitschronik« und stets identischer Telefonate der Nachbarin mit verschiedenen, scheinbar Schwerhörigen schleppten sich dahin – bis zu Monas Entlassung. Die Studentin hatte die nörgelnde Matrone inbrünstig und von Herzen unzählige Male zum Teufel gewünscht, aber der wollte sie wohl auch nicht.
*
Der Kaffee mit aufgeschäumter Milchkrone und tatsächlich sechs Päckchen Zucker wurde prompt geliefert.
»Lecker!« Ihre Freundin erzählte vom viertägigen Besuch ihrer Schwiegermutter Ingrid, mit der sie sich, entgegen jeglicher Volksmundunkerei, gut verstand, obwohl Holger ihr einziger Sohn war. Natürlich erwartete diese immer viel Aufmerksamkeit und Unterhaltung, was für Simone dann doch zu gewissem Stress ausartete, neben ihrem Job und dem Putzmarathon vorher. Und nicht zu vergessen, die immer wiederkehrende, nervige Frage nach einem Enkelkind. Seltsamerweise glänzte Holger in dieser Zeit für die Dauer ihres Besuchs durch Abwesenheit, angeblich stets arbeitstechnisch bedingt. Auf Schwiegermamas Wunsch und ihrer gönnerhaften Einladung waren sie am letzten Mittwoch gepflegt verköstigt worden. Im Edellokal mit pompösem Ambiente und vielen Blumen, Kerzen und Kristalllüstern, welches Ingrid mit Gatte Hans-Hermann vor vielen Jahren entdeckt hatte. Das Essen war überaus schmackhaft, obwohl die salzigen Austern, die sie als ‚hors d’oeuvre’ orderte, ihr einen kurzfristigen Schüttelfrost bescherten, der aber durch den Aperitif, ein 0.1l Gläschen Winzersekt mit Pfirsichlikör im edlen Glas zu sechs Euro, schnell ausgesöhnt wurde. Weshalb sie sich auch ungeniert drei davon zu Gemüte führte.
»Ein rundherum gelungener Abend, nicht eben preiswert, aber das war er absolut wert«, hatte Ingrid abschließend auf dem Heimweg befriedigt resümiert. Dass ihre Schwiegereltern keinesfalls am Hungertuch nagten mit der Pension eines emeritierten Inhabers einer C-Professur, hatte Simone Mona bereits in der Klinik anvertraut. Ingrid verlegte ihre Abreise überraschend auf diesen Samstagmorgen, packte flink ihr Louis Vuitton-Köfferchen und fuhr nach Hause, die neueste, lindgrüne Creation aus der Hutboutique auf den grau melierten Kurzlocken. Für den Johannisfest-Trubel fehlten ihr angeblich doch die Nerven. Ursprünglich war ihr Abschied auf kommenden Dienstag datiert, weswegen Simone und Holger schweren Herzens auf das blitzschnell ausverkaufte, heutige Konzert von Meat Loaf verzichtet hatten.
*
»Zum Glück, sonst wäre dieses Treffen heute ins Wasser gefallen.« Simone lachte erleichtert.
»Und was gibt’s bei dir Neues, noch kein neuer Lover in Sicht?«
»DU hast ja gut spotten! Du mit deinem Alphamann.« Simone war seit einem halben Jahr mit Holger verheiratet und quasi noch in den Flitterwochen, wie ihr Gatte beharrlich und scherzhaft anmerkte. Zwei Jahre zuvor hatte es bei ihnen mächtig gefunkt auf dem Wochenmarkt. Beide wählten unabhängig voneinander, jedoch nebeneinander vor dem gleichen Marktstand platziert, je drei grüne Gartengurken, welche die Verkäuferin eifrig zusammen in eine Plastiktüte packen wollte. Auf Simones,
»Bitte in Extratüten!«, schüttelte die Frau den Kopf, verpackte das Gemüse in einzelne Tüten, zog aber den Betrag für sechs Gurken bei Holger ab. Nach gemeinsamem Lachen auf den verständnislosen Blick der Marktfrau lud Holger Simone zum Kaffee auf den Domplatz ein und zwei Stunden später, zum gemeinsamen Besuch aufs Rebblütenfest in Laubenheim am Abend. Quasi fast über Nacht wurden sie seitdem ein Paar und unzertrennlich bis heute. Mona erzählte von ihrem Job auf dem Lerchenberg und der Arroganz mancher Redakteure, die Studenten manchmal scheinbar mit besseren Dienstboten verwechselten. »Gibt es da keine knackigen Jungs bei den vielen Männern, die dort um dich herum arbeiten?«
»Schon. Aber entweder sind sie liiert, schwul oder ständig belagert von blutjungen, goldblondschöpfigen Assistent- oder Praktikant/innen. Diese Girlies löchern die aufgeblasenen Typen mit belanglosen Fragen, schmieren ihnen klebrigen Honig ums Maul und vermitteln ihnen ständig, wie toll sie sind, während sie ihnen mit bauchfreien T-Shirts und knappen Miniröcken fast ins Gesicht kriechen. Seufz! Doch wie sollen die geschmeichelten Herren der Schöpfung, da auch widerstehen können?«
Nach kurzer Atempause räumte Mona schnell noch ein,
»Na ja, natürlich nicht alle.«
»Du brauchst dich doch nicht zu verstecken mit deiner roten Mähne und der Figur. Sicher erntest du viel Positivresonanz, wo du auch auftauchst, oder?«
»Schon … aber die ZDFler wissen auch, dass ich mit Micha fast drei Jahre liiert war und so viel Zeit ist noch nicht vergangen seit unserer Trennung.«
»Apropos, ich hab was für dich, direkt aus Frankfurt importiert, wohin Ingrid mich zum Einkaufsbummel gezwungen hat.« Simone kramte ein schmales, rechteckiges Päckchen in buntem Geschenkpapier aus dem Rucksack und legte es vor ihr auf die Tischplatte. Gespannt riss Mona es auf. Zum Vorschein kam ein orangefarbener Karton mit der kleinen Aufschrift: »prince charming putty« und darüber in groß – Traumprinzenknete.
»Ich dachte an dich und konnte nicht widerstehen«, meinte Simone fast entschuldigend, als Mona das Mitbringsel nicht gleich kommentierte.
»Danke, du Liebe. Aber super, so was kenne ich gar nicht.« Die Freundin lachte erleichtert: »Lies doch mal die Rückseite.«
›Wünsche gehen in Erfüllung, wenn man fest an sie glaubt! Knete dir deinen Traumprinzen; hier drin findest du eine Anleitung und alles, was du brauchst, um deine Wünsche wahr werden zu lassen!‹
»Da muss ich doch gleich mal nachsehen.«
Nach vorsichtigem Öffnen kam eine etwa zehn Zentimeter lange, dünne Stange von grünem Knet zum Vorschein.
»Das reicht ja nicht mal, um ein bestes Stück nachzubauen«, bemerkte Mona grinsend.
»Dann musst du dir eben noch einige Hundert Päckchen davon besorgen und bald mit modellieren beginnen, damit das noch was wird in diesem Sommer.«
»Genauso!«
»Hab im Frankfurter Fritz-Heft auch mal die, ›Er, sucht Sie&Sie sucht Ihn‹-Rubriken für dich gecheckt.«
»Und?«
»Wie wäre es mit »Heißblütige, kaltschnäuzige, naturrothaarige Hexe als Flugbegleiterin zum Blocksberg oder sonst wohin gesucht! Könnte doch passen, oder?«
»Vielleicht hat diese Bibi noch einen Termin frei. Wesentlich spannender ist es, zufällig auf jemanden zu treffen, natürlich beidseitig hin&weg und dazu noch frei zu sein. Wie im Film immer. Die Liebe auf den ersten Blick mit dem oft zitierten Märchenprinz eben! Dann muss es nur noch klappen mit dem zermürbenden Alltagsgrau. Da, wo die Filme meistens enden. Ist doch kinderleicht, ha, ha!«
»Aha, Galgenhumor, Mona? Dazu bist DU doch noch viel zu jung. Viele sind beruflich so engagiert, dass sie die Zeit für dieses hollywoodreife Finden einfach nicht haben, schau dir mal die Datingseiten im Web an. Ein Versuch wäre es doch wert.«
»Notstand hab ich noch nicht. Ich lass mir Zeit, auch wenn es Jahre dauert. So etwas Lauwarmes, nein danke, da bleibe ich lieber Single. Wenn, dann möchte ich mich wieder so richtig verlieben! Das volle Programm mit den tanzenden Schmetterlingen im Bauch, Wochenenden und endlose Nächte voller Lust und Leidenschaft, Traumschlösser in den Wolken oder Frühstück bei Tiffanys und vielleicht auch irgendwann… Liebe? Ist das etwa zu viel verlangt?«
»Nö, ach was. Verlieben ist toll, alles ist so neu und interessant und jeder Joke ist witzig. Und manchmal geht es wirklich rasend schnell, Amor zielt einmal haarscharf und der Pfeil – landet mitten im Herz. Glaube einer wunschlos glücklichen Ehefrau.«
»Vielleicht verirrt sich ja eine Sternschnuppe, die Wünsche erfüllen kann, direkt zu mir!«
»Du Kindskopf! Apropos, ‘ne witzige Anzeige von einer älteren Frau hab ich entdeckt, darauf meldet sich bestimmt einer.«
»Echt? Lass mal hören.«
Simone blätterte zur markierten Seite und las vor: Verrückte, mollige Hexe (50) will zum letzten Mal, dem Zauber der Liebe erliegen. Lass uns gemeinsam den Kessel zum Kochen bringen, für den Rest unseres Daseins. Mickrige, knauserige und verknöcherte Möchtegernzauberer werden auf der Stelle in Kakerlaken verwandelt, zauberhafte Zuschriften mit Konterfei garantiert beantwortet!
»Klasse, oder? Als Singlemann im passenden Alter würde ich sofort antworten.«
»Doch wirklich, sehr originell! Sogar lästige Zeitgenossen geschickt im Text ausgebremst.« Mona berichtete von der Uni, wo kurz vor den Semesterferien nicht mehr viel lief; von Troll, der wieder bei ihr einquartiert war; vom Abend vorher beim feuchtfröhlichen Absturz mit Kommilitonen in die Eröffnung des Johannisfestes und vom Parkfrust frühmorgens. Diesen konnte Simone nachvollziehen aus eigener Erfahrung und selbst ihr Gatte beim BKA blieb von emsigen Politessen nicht verschont. Er musste seine zugegeben wenigen Strafzettel ebenfalls begleichen, trotz der Mitgliedschaft beim verwandten Verein.
»Vermutlich eine besondere Spezies von Weibern, die diesen Job gerne ausüben. Der überwiegende Teil sind sicher im Schnellverfahren geschulte Hausfrauen, die sich dort aufplustern können wie Kampfhennen. Nichts gegen Hausfrauen, aber von mir aus könnten diese Damen die Knöllchen verteilen, wo der Pfeffer wächst.«
*
Die Freundinnen balancierten sich relativ zügig entlang der Kaufhausfassaden und durch die wabernde Menschenmenge zum Platz der Vereine, neben Liebfrauenplatz und Gutenbergmuseum gelegen, wo die angestrebte Zeremonie des Buchdruckergautschens schon in vollem Gange war. Mona wusste zwar, dass dieser mittelalterliche Brauch nach dem Ende der Lehrzeit von Buchdruckern- und Setzern, kurz vor Aufnahme in die Handwerkerzunft, angewandt wurde.
Doch live hatte sie diese Touristen- und Einheimischen-Attraktion noch nie gesehen. Obwohl die traditionelle Taufe jedes Jahr beim Johannisfest, mit den Printnachfahren vorgeführt wurde, als Hommage an Johannes Gensfleisch zu Gutenberg, den berühmtesten Sohn der Stadt Mainz. Ursprünglich bedeutete es wohl das symbolische Abwaschen von Sünden dieser Zeit und von Bleibuchstabenstaub.
Großes Halligalli und Geklatsche rund um die SWR4-Bühne, die Massen hörbar begeistert. Sechs kräftige Zunftkollegen tunkten die jungen, weiblichen und männlichen Mediengestalter nacheinander in hohem Bogen mehrfach in einer Bütte mit eiskaltem Wasser nach unten. Mit viel lokalkoloriertem Witz kommentiert von einem graubärtigen Mann, als Gevatter Gutenberg täuschend echt in Originaltracht verkleidet. Zum Glück war es sehr heiß draußen, weil die nassen, fast transparenten Shirts beim Aussteigen aus der Bütte gesetzmäßig, hochgerutscht am Körper klebten. Wenn dabei als Nebeneffekt und Augenschmaus, ein Stück nackter Haut, ein brauner Bauch oder gar ein paar spitze Brustwarzen der weiblichen Täuflinge aufblitzten, regnete es verstärkt »Standing Ovations« und anfeuernde Rufe:
»Zugabe! Zugabe!«
*
Eine Weile verfolgten die Freundinnen das Spektakel auf der Bühne, bis Simone Mona anschubste:
»Ich könnt’ jetzt was essen, wie sieht’s bei dir aus?« Auf dem Domplatz und entlang der Ludwigstraße bot sich alles, was das Herz begehrte. Die beliebten Thüringer, Rinds-, Brat- oder Currywürste, Spießbraten mit Röstzwiebeln, Champignons in Rahm, frittierte Blumenkohlröschen, massige Pizzen, Maiskolben mit Knobibutter, Fischbrötchen mit Echt- oder Ersatzlachs, fettknusprige Reibekuchen mit Apfelmus und, und, und… und natürlich noch klebrige Kalorienbomben wie gebrannte Mandeln, Popcorn&Co. Sie entschieden sich für gegrillten Prager Schinken mit Kraut und ließen sich mit den dick belegten Brötchen auf den verfügbaren Holzbänken nieder.
»Da kriegt man ja Maulsperre!«
»Aber tierisch lecker – besonders die knackige Kruste«, murmelte Mona mit vollem Mund, während Simone die Schinkenstücke aus dem Brötchen fingerte und genüsslich in den Mund schob. Das angestrengte Kauen bis zum letzten Krümel verhinderte jegliche Unterhaltung.
»Jetzt hab ich Durst, und du? Cola?«
Mona nickte, während sie die letzten Bissen herunterschluckte. Simone besorgte am Nachbarstand zwei eisgekühlte Coca Colas mit Strohhalmen und stellte sie vor ihnen ab.
Ein langer gieriger Schluck und…
»Jetzt ‘ne Zigarette. Geht es uns wieder gut heute.«
Ein Blick in den ovalen Taschenspiegel bestätigte Monas Vermutung, am Mundwinkel klebte Senf und der Lipgloss musste erneuert werden. Ein braun gescheckter Hund, plötzlich am Tisch aufgetaucht, schob schnuppernd seine feucht glänzende Nase neben die fettigen Servietten, was Mona mit schlechtem Gewissen, Troll ins Gedächtnis rief.
»Ich muss unbedingt mal nach Hause. Troll ist sicher schon am Kneifen.«
»Okay, ich komme mit, danach können wir ja noch mal los.«
Es war nicht leicht, sich vorwärts zu bewegen zwischen den vielen Menschen und wie erwartet, stand er schon kläffend an der Tür, als Mona aufsperrte.
»Scheint dringend, also stürmen wir die Zitadelle.«
Zu dritt quetschten sie sich durch die Fußgängerzone, umrundeten die klatschende Passantentraube, die sich hingerissen um einen kleinen Jungen und sein wildes, ohrenbetäubendes Bongogetrommel vor einem CD-Laden gescharrt hatte. Die lang andauernde, monotone Penetranz genau dieser Vorführung war Mona bereits ein Begriff durch Ilse, die eigentlich sehr nachsichtig war. Aber genau über jenen Dschungelsound hatte sie sich des Öfteren mächtig echoviert, was Mona schlagartig absolut nachvollziehen konnte.
*
»Super idyllisch hier oben. Wie lange existiert diese Holzpyramide mit dem klappernden Windrad denn schon?«
Simone war länger nicht dort gewesen.
»Null Ahnung, aber angeblich stand vor über hundert Jahren, hier schon mal eine Windmühle und daran soll das neue Bauwerk erinnern. Der unförmige Silberschlauch, an dem die Kids herumturnen, ist eine Rutschbahn.«
»Cool! Überhaupt, hier gibt’s wirklich viele Möglichkeiten zum Toben, auch sonst ist einiges bewegt worden von meinem Brötchengeber. Wusste ich gar nicht.«
»Tja, wenn der von Schwiegermama Ingrid SO heiß herbei gesehnte Enkel endlich da ist, dann könnt ihr euch ja in einer der tollen Villen gegenüber einmieten. Hier oben ist die Welt nämlich noch in Ordnung.«
»Unbedingt! Ha, ha, wohl einen Clown gefrühstückt?«
»Nö. Aber gestern hab ich über eine aufschlussreiche, angeblich wissenschaftliche Studie gelesen. Bei dringlichem Nachwuchswunsch soll man jeden Tag Sex praktizieren, weil häufiger Verkehr die Spermien stärkt, nicht wie früher angenommen, sexuelle Enthaltsamkeit.”
»Von wegen dringlich! Hast du das aus dem »Playboy«? Hat sicher ein Redakteur verfasst, um die Dauerlüsternheit mancher Kandidaten zu legitimieren.”
»Nein, ich glaube aus der Brigitte.”
»Okay, dann geb ich das weiter an Holger, wenn er völlig groggy aus dem Büro kommt”, lachte Simone,
»Oder an Ingrid, damit sie uns bei der nächsten Visite, nicht wieder unsere Intimsphäre vermiest.”
Zuhause schob Mona einen getrockneten Knabberschuh aus Rinderhaut vor Trolls pelzige Pfoten.
»Hmh, lecker. Für den braven Hund. Bis nachher, Süßer.«
Sie tauchten wieder ein in den Trubel Richtung Weindorf am Leichhof, wo Simone einen Ex-Kollegen der netteren Art entdeckte, welcher dort einen Stand betrieb und ihnen zuwinkte.
»Hallo ihr Hübschen, womit kann ich die Damen denn verwöhnen?« Ein gegenseitiger Blick genügte.
»Ein Gläschen Sekt wäre nicht zu verachten.« Es wurden zwei/ drei/vier Gläschen daraus, die Stimmung stieg, der Blutdruck auch. Holger, von Simone zwischendrin informiert, war kurze Zeit später in Begleitung einiger Kollegen samt Anhang gut gelaunt zu ihnen vorgedrungen. Anfangs gestaltete es sich sehr lustig mit der zusammengewürfelten Truppe. Es wurde viel gelacht und flotte Sprüche wechselten die Seiten, doch mit stetigem Alkoholkonsum schmusten sich die Pärchen immer mehr auf Tuchfühlung. Mona fühlte sich zunehmend isoliert als einzige Singlefrau und ihrem pfundigen Standnachbarn ausgeliefert, der in Karohose und Lederblouson gequetscht, immer scheinbar beiläufig ihren nackten Arm tätschelte mit schweißiger Hand. Und dem Wirt dazu wieder einen zwei- bis dreideutigen Joke zum Besten gab. Um halb zwei Uhr reichte es ihr.
»Ich mach mich los, bin ziemlich K.o. Wir telefonieren morgen.« Das Übliche, »Bleib doch noch, ist grade soo gemütlich.«
»Nö – keinen Bock mehr.« Küsschen rechts und links – von Holger auch, die anderen winkten, »CIAO!«
Knutschende Pärchen, grölende Teenies, überall scheinbar glückliche Menschen in ausgelassener Stimmung. Monas Laune rutschte schlagartig in den Keller und sie sehnte sich nur nach ihrem Bett. Troll winselte ihr herzerweichend entgegen.
»Nein, bitte nicht schon wieder, du Nervensäge.« Er kaute auf seiner Leine und guckte flehend. So sehr wie sie Troll mochte, doch gerade wünschte Mona nichts sehnlicher, als dass Micha da wäre und sich um sie beide kümmern würde. Und sie vielleicht tröstend in den Arm nähme… Sie tat sich selber so leid, aber es half nichts. Lustlos hängte sie ihren Rucksack an die Stuhllehne und ergriff den Haustürschlüssel.
»Na los, komm, du haariges Monster.«
*
Entlang der Straße und der kleinen Gärten der Villen war es ruhig, dunkel und seltsam unheimlich heute Nacht. Vielleicht entstammte das mulmige Gefühl in ihrem Bauch, ihrer bleiernen Müdigkeit oder ihrer momentanen Souterrain-Stimmung? Unten tobte noch immer der Bär. Hier oben zeigte sich keine Menschenseele, nicht einmal ein übrig gebliebener Fan vom Meat Loaf-Konzert. Kurz vor Monas Golf sprang Troll unvermittelt und unbändig hoch, zerrte wie besessen an der Leine, fast bis zur Selbststrangulation, und bellte. Was wollte er denn nur?
SO benahm er sich nie, wenn es noch so heftig drückte. Er zog sie mit all seiner Kraft bis ans Auto und streckte den schwarzen Kopf weit unter die Kühlerhaube. Vermutlich wieder so ein junger Igel, dachte Mona, wie der letzthin im Volkspark unter dem hellgrünen Ginkgo Baum, welcher kurioserweise zur Gattung der Nadelbäume gehört und als Glückssymbol in China gilt, weil er angeblich unbeschadet den Atomkrieg in Hiroshima überlebt hat. Oder doch ‘ne fette Stadtratte, die überall nachts durch die Altstadt huschen, aber eine von den echten Nagern und keine Taube, die manchmal so tituliert werden. Sie blickte nach unten, wo der Hund gerade rückwärts hervor robbte, mit einer Art Band im Maul, an dem scheinbar etwas Schweres dran hing, das über den Boden schleifte. In der Dunkelheit konnte Mona nicht sehen, was er gefunden hatte, weil er mit der Nase darüber gebeugt, schnüffelte. Sie schob ihn zur Seite, so gut es ging, sah etwas aufblinken und erkannte im schwachen Mondlicht schemenhaft die Umrisse eines Fotoapparates. Wer warf denn so ein Teil weg? Vielleicht defekt? Oder gestohlen und hierher entsorgt. Beherzt entwand sie die Kamera Trolls Gebiss und hängte sie mit dem Gurt über ihre Schulter.
»Du guckst zu viele Krimis, Mona«, sprach sie sich halblaut selber Mut zu und wollte den Hund, der erneut nach oben zog, gerade von der Leine lassen, als es oberhalb hinter den Büschen deutlich raschelte. Atmete da einer? War da jemand?
*
Troll stand jetzt völlig regungslos, die Ohren aufgestellt und schaute fragend zu ihr. Eine Gänsehaut kroch Mona die Arme hinauf bis in den Nacken. Sie traute sich kaum zu schnaufen und das flaue Bauchgefühl wurde jetzt so übermächtig, dass keine zehn Pferde sie mehr zu halten vermochten. Bloß weg von hier! Sie zerrte mit Mühe an Trolls Halsband, der jetzt wieder knurrend und heftig in Richtung Zitadelle zog, und schleifte ihn fast ein Stück der Straße. Dann rannten sie im Laufschritt hinab wie von imaginären Furien gehetzt. Die Kamera schleuderte wild über Monas Schulter, bis sie endlich die Plätze erreichten, wo die Menschen feierten. Keiner beachtete sie, alle waren mehr oder weniger wein- oder bierselig. Noch immer außer Atem schloss Mona die Haustür auf und drückte den Schalter der Treppenhausbeleuchtung. Sie beugte sich nach unten, um den Hund von der Leine zu klinken, als ihre Entdeckung sie erstarren ließ. Die weißen Muster an ihrem schwarzen Kleid schillerten rund um die rechte Taillenseite, rot – blutigrot!
Verdammt, das konnte nur von Trolls Fundstück stammen. Tatsächlich! An der verkratzten Digitalkamera (wie Mona gerade registrierte, war es eine!) klebten noch verschmierte Reste von leicht verkrustetem Blut. Angeekelt und mit leichter Übelkeit in der Magengegend, aufgrund ihrer Aversion gegen den Anblick von Blut, nahm Mona das Band vorsichtig von der Schulter und transportierte die Kamera an zwei Fingern des ausgestreckten Arms pendelnd die restliche Treppe hinauf. Am liebsten würde sie den blutigen Apparat durchs offene Fenster auf die grölenden Heimkehrer werfen, dann könnten die sich damit befassen. Heute war wirklich kein Glückstag. Eigentlich müsste sie jetzt noch bei der Polizei anrufen, ihren Namen nennen und ALLES erklären… Was tun? Sie hatte so gar keinen Nerv mehr dafür, fühlte sich hundemüde und völlig erschlagen.
›Verschieben wir’s auf morgen!‹
Dieses Motto von Scarlett O’Hara in, ›Vom Winde verweht‹, hatte Mona von klein auf fasziniert und genauso – würde sie dieses kleine Problemchen jetzt auch händeln.
Samstagnacht, drei Uhr dreißig.
Völlig verschwitzt erwacht, fühlte Mona sich bleischwer wie ein feuchter Zementsack. Schlagartig überfiel sie der Gedanke an die Kamera, die sie auf dem Papierberg an der Eingangstür deponiert hatte, direkt neben den schmutzigen Turnschuhen vom verregneten Spaziergang am Rhein. Sie sollte mit jemandem darüber reden. Vielleicht hätte sie doch besser noch angerufen. Womöglich hatte der Dieb noch hinter den Büschen gehockt, nachdem er einen Mann oder eine Frau beraubt hatte. Bei Simone konnte sie eigentlich zu jeder Uhrzeit durchrufen. Aber die lag entweder sektselig schlummernd neben ihrem Holger im Bett oder sie liebten sich gerade unbefangen und hemmungslos in der ersten Nacht, wo die Schwiegermutter abgereist war und nicht vom Nebenzimmer, die Rhabarberohren ausklappte zum großen Lauschangriff. Wen könnte Mona sonst noch…?
Micha fiel ihr ein, doch der war in weiter Ferne und sicherlich mit spannenderen Dingen beschäftigt bei seiner aktuellen Weltreise. Eine große Ehre, als Kameramann beim Dreh dabei zu sein am Fuße des Himalaja Massivs im kleinen, angeblich so glücklichen Königreich Bhutan, zwischen Indien und China gelegen. Die ZDF-Crew war das erste ausländische Fernsehteam, dem der Zutritt vom König gestattet wurde, wie er ihr voller Stolz gemailt hatte. Keine Ahnung, wie es dort mit einer Zeitverschiebung aussah, oder ob er noch wach war? Egal, falls er keine Störung wünschte, würde sich die Mailbox melden. Ihn durfte sie jedenfalls immer anbimmeln mit diesem Tribandhandy fürs Telefonieren nach Übersee. Eh ein Geschenk von ihm und natürlich mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis.
»Michael Berens. Hallo?«
»Micha? Gott sei Dank! Du schläfst noch nicht? Hier ist Mona.«
»Hallo Prinzessin, (SO nannte er sie immer noch!) wo brennt es denn? Ist etwas mit Troll?«
Wegen der beträchtlichen Gebühren bei Auslandsgesprächen spulte Mona die Geschichte hastig herunter.
»Den Notruf – die 110 – kannst du jederzeit anrufen. Mach’s am besten gleich, nicht so lange überlegen, dann hast du es hinter dir. Unangenehme Dinge sollte man nicht auf die lange Bank schieben, vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung dafür«, riet er ihr. Sein Pragmatismus war wirklich manchmal sehr hilfreich, obwohl er sie in ihrer Beziehung oft damit genervt hatte. Sicherlich entsprach es einer Tatsache, dass Mona sich immer zu viele Gedanken machte.
»Meinst du wirklich? Na gut, ich halte dich auf dem Laufenden. Wie läuft’s denn bei euch? Alles okay?«
»Alles paletti! Super, traumhaft gigantisch und ein bisschen hinterm Mond hier. Ich werde dir ausführlich berichten, wenn wir zurück sind. Was treibt Troll, benimmt er sich?«