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»Klar, wie immer. Viele Grüße von ihm. Danke für deinen Rat und bis bald. Ciao.«
»Ciao Bella und viel Glück beim Anrufen.«
Oh yeah! Derart aufgekratzt und die Superlative überschlugen sich ja fast, dachte sie verwundert, war es wirklich so toll dieses Land? Troll blickte sie an, als wollte er sagen:
›Mach nicht so einen Bohai mitten in der Nacht, es ist schließlich Schlafenszeit!‹
*
Etwas nervös drückte Mona die Tasten des Telefons.
»Notruf hier. Wer spricht?«, meldete sich eine sonore Stimme.
»Hier ist Mona Blume und ich habe heute Abend eine blutige Digitalkamera gefunden, als ich mit dem Hund Gassi war.«
Sie sprach zwar sehr schnell, aber der Mann hatte alles verstanden.
»Geben sie mir bitte ihre Anschrift und beschreiben sie den Ort, wo und wann sie das Fundstück entdeckt haben. Moment, ich habe hier eine Monika Blume, Augustinerstraße 29. Sind sie das?«
»Ja, klar. Entschuldigung, aber alle nennen mich nur Mona.«
Die Studentin beschrieb detailliert den Platz nahe der Zitadelle, den Part des Hundes und die Uhrzeit. Sogleich folgte die nächste Frage.
»Wo befindet sich die Kamera momentan?«
»Ich hab sie mitgenommen.«
»Wir kümmern uns darum, sie hören von uns.«
Ihre Bürgerpflicht war getan und den klebrigen Fotoapparat würden sie sicher morgen abholen. Damit dürfte der Fall für sie erledigt sein, dachte Mona blauäugig und kuschelte sich wieder ins noch warme Bett.
Sonntagmorgen, 26. Juni
Pustekuchen! Um sechs Uhr klingelte es Sturm. Troll sprang auf, trabte an die Tür und bellte, so laut er konnte.
»Ruhig, Troll!« Obwohl es Mona sehr recht war, wenn er bei jedem Klingeln heftigst Laut gab, denn die lästigen Zeugen Jehovas hatte er irgendwann auf diese Art nachhaltig vertrieben, scheinbar für immer.
»Ja«, grummelte sie in die Sprechanlage.
»Hier ist die Polizei. Wir haben einige dringende Fragen, öffnen sie die Tür und sperren sie den Hund weg.«
Mona eilte zum Fenster und schaute hinunter. Tatsächlich, vor dem Haus warteten zwei uniformierte Polizisten in grünen Jacken, khakifarbenen Hosen, mit weißgrünen Helmen und Funkgeräten in den Händen. Schnell wickelte sie den geblümten Kimono übers Schlafshirt und betätigte den Türöffner. Troll schob sie vorher ins Bad, wo er weiter ausgelassen kläffte, knurrend und kratzend dabei seine Krallen in der Tür verewigte, als die Beamten mit gezückten Ausweisen die Wohnung betraten.
»Wo ist die Kamera, wo genau lag sie? Was haben sie gesehen? Bitte jedes kleinste Detail angeben, auch wenn es ihnen nicht wichtig erscheint. Ist ihnen jemand begegnet? Warum haben sie uns nicht sofort verständigt…«
So viele Fragen – wegen eines ordinären Taschendiebs?
Mona versuchte alles penibel zu beantworten und erkundigte sich dann leicht echauffiert nach dem Grund dieses, in ihren Augen, maßlos übertriebenen Zwergenaufstands.
»Darüber dürfen wir keine Auskunft geben. Nur so viel, wir haben dort eine weibliche Leiche gefunden und brauchen ihre Zeugenaussage. Kommen sie heute um acht Uhr dreißig ins Polizeipräsidium am Valenciaplatz zwei. Das Beweisstück nehmen wir mit.«
OH Gott! Eine tote Frau lag da oben, wo sie nachts entlang spaziert waren. Mona lief es eiskalt den Rücken herunter. Die Beamten verabschiedeten sich und gingen mitsamt der ekligen Kamera die Treppe hinunter. Ihre vollschlanke Nachbarin, Frau Liane Liderlich, geborene Frommhold, aus einem Altmainzer Clan stammend, wie sie sich vorstellte, als Mona einzog, war leider ebenfalls schon wach. Sie blickte neugierig und verschlafen hinter der spaltbreit geöffneten Tür hervor.
»Ah Frolleinche, wat’s dann los – Bollizei?! Honn se ebbes ausgefresse?«
Sie verzog das flache Mondgesicht zu ihrem typischen, breiten Pharisäerlächeln. Die Studentin bezeichnete es so, weil die Hausmeistergattin schon einige Male erfundene Gerüchte über sie in der Nachbarschaft verbreitet hatte, ihr aber nichtsdestotrotz – stets bigott und katzenfreundlich ins Gesicht lachte. Schrappnelda! Die hatte ihr gerade noch gefehlt!
Das Hausmeisterpaar Liane und Benno Liderlich
Madame hörte, sah und wusste alles, und was sie nicht wusste, das wusste sicher ihr Göttergatte Benno, ein dürrer, meist griesgrämig dreinschauender, langer Lulatsch mit strohig zottigem Schnauzbart. Seines Zeichens Hausmeister ihres Wohnhauses, wie auch im nahe gelegenen Kolpinghaus, wo er die manchmal aufsässigen Lehrlinge dort tüchtig
» …aufmische dut und dafür noch Geld kassiere dut!«
Mit geschwellter Brust hatte Liane derart geprahlt, als sie Mona zu Anfang in die gute Stube bat, um ihr stolz die, mit winzigen Kreuzstichen in rotem Garn gestickten und gerahmten Erbbilder aus Familienbesitz an der Wand zu präsentieren, welche ihren alten Stammbaum als Rhein-Adel in der ›Vilzbach‹ belegten.


Benno Liderlich wirkte ständig unzufrieden, wahrscheinlich wusste er selber nicht so genau, warum. Vielleicht war er schlichtweg ein Frauenhasser, seine Angetraute natürlich ausgenommen. Augenscheinlich ein waschechter Misanthrop und knottriger Miesepeter, über dessen Eignung zu einem Job in dieser katholischen Einrichtung, wo der Umgang mit unterschiedlichsten, auch körperbehinderten Jugendlichen vonnöten war, konnte die Studentin nur spekulieren.
Mona Blume mochte er offensichtlich nicht, so bärbeißig, wie er in ihrer Gegenwart stets agierte. Er verkörperte für Mona, das absolute Kontrastprogramm zur aufdringlichen Leutseligkeit seiner besseren Hälfte. Sprichwörtlich flogen Gegensätze ja geradezu aufeinander, bei diesen beiden traf der Spruch scheinbar ins Schwarze. ›Dick und Doof‹ liegen wieder auf der Lauer oder ›Waldorf und Stadler‹, die zwei Balkongreise der Muppetshow, hatte Micha des Öfteren bemerkt, weil ihre Köpfe stets prompt am Fenster auftauchten, wenn er zu ungewöhnlichen Zeiten ging oder kam aufgrund seines Dienstplanes.
Du kannst mich mal, Liane!
»Nein, Frau Liderlich, sonst hätten SIE es schon gehört!« Rumms! Die Tür fiel laut ins Schloss. Heute war es Mona völlig schnuppe, falls die scheinheilige Nachbarin pikiert war. Ansonsten bemühte sie sich ja immer freundlich zu sein, auch wenn sie das zänkische Albtraumpaar eigentlich nicht ausstehen konnte. Warum musste man in einem Mietshaus zwangsläufig auf irgendeine Weise und meist noch hautnah, am Leben anderer Bewohner teilnehmen? Ob man wollte oder nicht! Mona befreite erst Troll aus seinem gekachelten Gefängnis. Ihre Knie waren butterweich, die Beine gaben nach und sie musste sich erst einmal hinsetzen. Augenblicklich war ihr die Situation der letzten Nacht, so richtig bewusst geworden. Ein gemeiner Mord im katholischen Mainz und sie unmittelbar in der Nähe des Tatorts. Die knackenden Geräusche im Gebüsch. Vielleicht hatte der Mörder sie beobachtet…? Er hätte sie ja auch…!
Deswegen war der Hund kaum zu bändigen. Simone hatte Mona mal gefragt, ob sie keine Angst hätte, wenn Troll nachts noch raus musste. Bislang hatte sie das stets verneint, obwohl ihr bekannt war, dass dieser im Ernstfall keine große Hilfe wäre, weil er nicht schussfest war, wie es beispielsweise für Polizeihunde Vorschrift war. Michas Hund litt an einer Art Knalltrauma, seit er als Welpe einen Unfallcrash im Auto miterlebte, wo er von der Rückbank zur Windschutzscheibe geschleudert wurde. Seit jener Zeit erfasste den relativ großen Kerl eine panische Angst bei lautstarken Geräuschen und er verkroch sich schutzsuchend unterm Tisch oder besprang den nächsten, erreichbaren Schoß. Sie musste sich anziehen. Der Hund schlabberte währenddessen laut seine Schale leer, danach richtete er die braunen Knopfaugen auf Mona.
»Ja, ich weiß schon, die volle Blase drückt! Bloß wohin?«
Der gewohnte Platz auf der Zitadelle war ihr gründlich verleidet, aber am Rheinufer, hinter dem Malakoffkomplex, wuchsen auch grüne Büsche. Die Straße lag noch menschenleer. Durch die Holzstraße, an der Fachhochschule vorbei, unter dem Sandsteintor hindurch… Weiter kamen sie nicht, Troll hatte bereits eine geeignete Ecke zum Pieseln gefunden. Schnell retour, um halb neun sollte Mona bei der Polizei antreten, obwohl heute Sonntag war. Vielleicht gab es einen Kriminaldauerdienst für Mordfälle?
*
Die Studentin hatte das hochgeschlossene Kleid gewählt, um einen seriösen Eindruck zu hinterlassen. Sie zog die Jacke darüber, es war noch ziemlich frisch draußen und ging los. Was die dort noch von ihr wollten, sie hatte doch schon alles erzählt.
Gedankenverloren steuerte sie ihr Auto an, bestieg gewohnheitsmäßig die Treppe zur Weissliliengasse. STOPP! Sperrschilder quer vor dem Stufenende bis an die Ampel. Alles war weiträumig abgesperrt und überall agierten grüngekleidete Polizeibeamte mit Schäferhunden. Ihren fahrbaren Untersatz konnte sie wohl die nächsten Tage vergessen. Normalerweise erledigte sie alles Erreichbare zu Fuß, nur bei größeren Entfernungen nahm sie das Auto. Obwohl sie auch das Semesterticket der Uni hätte nutzen könnte, das im gesamten Rhein-Main-Verbund Gültigkeit besaß. Mona drehte auf dem Absatz um und lief zurück. Wo gab es einen Bus zum Valenciaplatz am Sonntagmorgen? Jetzt bedauerte sie, sich im Netz der Stadtwerke nicht auszukennen. Egal, am Höfchen befanden sich einige Haltestellen, da würde schon einer dabei sein.
Im ersten der gläsernen Wartehäuschen hatte sich das altstadtbekannte, obdachlose Männerpaar auf dem fleckigen Schlafsack häuslich eingerichtet mit zahlreichen Bierflaschen. Daneben war ein Einkaufswagen geparkt, vollgepackt mit der armseligen Habe. Sie belallten sich gegenseitig höchst unflätig wie immer, sonst war niemand zu sehen. Leider auch kein Bus, denn alle Stationen der rechten Seite waren verlegt wegen des Stadtfestes.
Als Mona die Ersatzhaltestelle, Ecke Quintinsstraße erreichte, war die richtige Linie gerade losgetuckert, wie ihr der Fahrplan verriet, und die nächste kam erst in einer halben Stunde. Shit! Keine Muße dort zu warten, also ‚per pedes’ quer durch die Stadt. Auf den letzten Metern vorm Präsidium überholte sie der Stadtbus, spärlich besetzt mit zwei Männern und dem Fahrer.
Sonnenklar, dass sie mit ihm zur gleichen Zeit eingetroffen wäre. Ihr Fuß schmerzte jetzt aufs Übelste, denn sie hatte sich zwei Blasen erlaufen an Ferse und dickem Zeh von den schicken Riemchensandalen, deren maximale Laufweite nur für einen Hin- und Rückweg zum Taxi, Theater oder Restaurant angelegt waren. So hinkte sie etwas, als sich die Glastür öffnete.
»Sind sie Monika Blume?«, fragte der uniformierte junge Polizist mit den lustigen Sommersprossen, der dahinter postiert war.
»Sie werden schon erwartet.«
Zügig ging er voraus und Mona folgte ihm langsam und fußlädiert in den ersten Stock. Am zweiten Zimmer links klopfte er kurz.
»Herein«, ertönte es kraftvoll von drinnen. Er öffnete die Tür, verkündete hinein:
»Frau Blume wäre jetzt da.«, und dirigierte sie mit einer kurzen Handbewegung ins Zimmer, dann schloss er sie hinter ihr. Zwei intensiv kornblumenblaue Augen taxierten Mona von Kopf bis Fuß. Bevor sie überhaupt einen Ton herausbrachte, stellte der dazu gehörige Mann oberlehrerhaft fest:
»Sie sind eine halbe Stunde zu spät! Ist Ihnen das klar?«
Klar war ihr das klar! Sonnenklar! Blödmann! Konnte sie etwas dafür, wenn seine Kollegen ihr Auto blockierten und der Bus vor ihrer Nase davonfuhr.
»Ich weiß und es tut mir auch echt leid, aber der Stadtbus…« Er ließ sie nicht ausreden.
»Nun gut, jetzt sind Sie ja endlich eingetroffen! Nehmen Sie dort Platz, wir haben unsere Zeit nicht gestohlen. Und nun geben Sie mir Ihren Personalausweis. BITTE!«
Sie konnte sich wahrhaft etwas Schöneres vorstellen, als den Sonntagmorgen hier zu verbringen. Falls er Stress hatte mit der Liebsten, musste er es nicht an ihr auslassen.
*
»Ihre Personalien haben wir, 1989 in Bonn geboren, fünfundzwanzig Jahre alt, ledig, wohnhaft Augustinerstraße 29 und Studentin an der Johannes-Gutenberg-Universität. Seit fünf Jahren mit Erstwohnsitz in Mainz gemeldet. Korrekt so?«
Sie sagte nichts, sondern nickte nur zustimmend. Jawohl, Herr Lehrer und Körpergröße einssiebzig, einundsechzig Kilo und neunzig-sechzig-neunzig, haha!
»Welches Fach?«, schob er noch hinterher.
»Kunst«, antwortete sie nur knapp. Damit kannst DU sicher nicht so viel anfangen. Warum fühlte sie sich von diesem maskulinen Typ nur so provoziert? Vielleicht, weil sie nicht mit solch einem jungen und attraktiven Kommissar gerechnet hatte. Normalerweise stellte sich jeder einen solchen Mann doch so vor, wie damals dieser ›Derrick‹ oder ›Inspektor Barnaby‹, oder?
ER war schätzungsweise dreißig bis fünfunddreißig, vielleicht einsachtzig groß (er saß), schlank, dunkelhaarig und dann diese blauen Augen… eigentlich optisch ein richtiger Traumtyp, aber eben ein Bulle und momentan wohl nicht in blendendster Stimmung.
»Was hatten Sie an der Zitadelle zu suchen? Um diese Uhrzeit? Waren Sie alleine? Wo genau haben Sie die Kamera gefunden? Warum haben Sie das Beweisstück nicht dort belassen und uns gleich verständigt?! Haben Sie am Tatort irgendjemand gesehen oder etwas gehört? War Ihnen nicht klar, dass Sie eventuell wichtige Fingerabdrücke verwischen könnten, durch Ihr unüberlegtes Handeln, indem Sie die Kamera einfach mit nach Hause nahmen?«
Ein Stakkato von Fragen prasselte auf Mona nieder und riss sie aus ihren Gedanken. Sie fühlte sich so gemaßregelt, wie damals in der Teeniephase, als ihre Mutter sie öfter ins Gebet nahm, wegen der quer durchs Zimmer verteilten, schmutzigen Wäschestücke. Trotzdem beantwortete sie alles in chronologischer Reihenfolge und begründete ihre spontane Aktion damit, dass sie das Teil am Montag im Fundbüro abgeben wollte. Auch, dass sie das Blut erst später entdeckt hatte und natürlich nicht im Traum daran dachte, dass so etwas passiert sein könnte. Langsam hellte sich seine Miene etwas auf und er wirkte gleich viel sympathischer. Das verlieh Mona den Mut nach der toten Frau zu fragen und wie sie zu Tode kam. Er zögerte einen kurzen Moment, dann meinte er:
»Sie können darüber morgen in der Zeitung lesen. Nur so viel, es handelt sich quasi um eine Kollegin von uns. Eine Politesse, die dort ihren Dienst ausübte, und sie ist erstochen worden.«
»OH Gott«, entfuhr es Mona, »das ist ja furchtbar! Weiß man denn schon etwas über den Täter?«
»Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, aber wir sind jetzt fertig für heute. Falls wir noch etwas von Ihnen brauchen, wissen wir ja, wo wir Sie finden. Sie haben nicht vor, in den nächsten Wochen ins Ausland zu reisen?« Er wollte ihr nichts sagen, außerdem erschien ihr seine letzte Frage total überzogen.
»Wieso nicht verreisen? Verdächtigen Sie mich etwa, Herr Kommissar? Total absurd.«
»Ich bin erst Kommissars-Anwärter und ansonsten müssen wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu tun.«
Ein echter Rausschmiss in amtlichem Tonfall. Prima! Sie erhob sich vom Stuhl, ergriff ihren Rucksack vom frisch poliert wirkenden Boden und ging zur Tür.
»Auf Wiedersehen.«
»Wiedersehen«, antwortete er, ohne noch einmal von seinem Schreibtisch aufzusehen, als Mona sie schloss.
Vor dem Präsidium empfing sie so gleißendes Licht, dass sie schnell ihre schwarze ›RayBan‹-Sonnenbrille auf die Nase schob. Inzwischen war es halb zehn, die Sonne illuminierte die Stadt so strahlend, als wäre in der Nacht niemals etwas Schauerliches geschehen. Nur, auf einer eiskalten Pathologiebahre der Uniklinik lag eine tote Politesse, deren Mörder noch frei herumlief. Wirklich keine beruhigenden Aussichten! Wegen der inzwischen offenen Fußblasen nahm Mona sich jetzt die Zeit auf den Bus zu warten, der auch zwanzig Minuten später eintraf. In Gedanken ließ sie das Verhör noch mal Revue passieren. Dieser Kommissar in spe, mit diesen blauen Augen, hatte sie irgendwie irritiert. Gab es nicht mal ein Lied darüber? Sie glaubte, sich zu erinnern. Bei der Neuen Deutschen Welle… ›Spliff‹, oder? Ja, genau und ›Anett Humpe‹ war die Sängerin.
»Deine blauen Augen machen mich so sentimental, so blaue Augen…« Ihre ältere Schwester hatte den Song damals tagelang kratzend heruntergenudelt auf dem alten Kassettenrekorder, wegen des frechen Bäckersohnes Kurt Kälble mit den wasserblauen Augen, der Mona immer dicke Kletten in die Zöpfe gedrückt hatte. Dieser barsche Ton am Ende, absolut entbehrlich! Ob dieser Namenlose, sie konnte sich jedenfalls keiner Vorstellung erinnern, mit seinen Lieben auch so rüde umsprang?
Am Höfchen erwachte so langsam das Leben. Auf den dampfenden Holzkohlengrills der Bratwurstbuden brutzelte bereits eine Lage Rindswürste. Mona wusste aus dem städtischen Programmheft zum Fest, dass um elf Uhr die erste Veranstaltung auf der Ballplatzbühne beginnen sollte. Eine Lesung des neuen Stadtschreibers von Mainz. Vielleicht war sie das Ziel des anschwellenden Menschenauflaufs? Momentan reizte sie das Johannisfest überhaupt nicht. Man fand schließlich nicht jeden Tag, das Beweisstück für ein Verbrechen.
Zuhause träumte Troll lang hingestreckt auf seiner Decke. Wunderbar, scheinbar keinerlei Pieselalarm. Eine Mütze voller Schlaf würde auch ihr gut tun, nach dieser Nacht und dem Morgen. Ein Blick in den Spiegel und die leicht bläulichen Ringe unter den Augen bestätigten ihr Vorhaben. Also, ab in die Koje, aber dieses Mal ohne Handy oder Uhr zu stellen.
*
Fünfzehn Uhr zeigte der Radiowecker.
Mona hatte geschlagene vier Stunden durchgeschlafen und eine Menge Nonsens geträumt. Sie erinnerte sich sogar bruchstückhafter Details.
Ihr hohlwangiger Nachbar Bodo hatte seine Liane zusammen mit einem fetten Stallhasen erstochen, weil sie ständig alles in sich hineinschaufelten und für ihn nur das Nachsehen blieb. Danach hatte er beide, mittels Häcksler zerkleinert und im blauen Sack hinter den Schweinehälften der Metzgerei versteckt. Durch einen Trick gelangte er in die Werkstatt, wo er die Reste heimlich zum Verwursten unter die Zutaten der Fleischbütten mengte. Nach Auffliegen der Bluttat landete er natürlich prompt im Gefängnis, und weil dann die Wohnung zur Disposition stand, zog umgehend der grantige Polizist mit den schönen Augen, zusammen mit Verona Felsendorf-Puth und fünf rotzfrechen Kids dort ein…
Wie es weiterging oder endete, wusste sie nicht mehr. Ach du Schande, was für ein Hillbilly-Schwachsinns-Traum! Die Wohnung hatte sich so aufgeheizt, obwohl alle Fenster offen standen. Von der Straße drangen Gemurmel, Kinderlachen und Musik herauf. Mona war völlig verschwitzt, das Shirt klebte ihr auf der nackten Haut. Der hechelnde Hotdog quer über ihren Füßen machte es wahrlich nicht besser, sondern blies muffigen Schlafgeruch direkt zu ihrer empfindlichen Nase. Sie schob Troll leicht unsanft zur Seite, sie musste sofort unter die Dusche. Das lauwarme Wasser würde ihre Lebensgeister wieder auf Trab bringen. Frisch geduscht im Sessel lümmelnd fiel Mona der Künstlermarkt am Rheinufer ein, den sie sich dieses Jahr noch nicht zu Gemüte geführt hatte, und auch, wen sie deswegen anrufen könnte.
Genau! Angie. Sie teilten die Vorliebe für Flohmärkte, vielleicht verspürte sie ja Lust, sie zu begleiten. Tja!
»The person, you ‘ve called, is temporary not available«, flötete Mona sofort, ohne zu klingeln, die konservierte Frauenstimme der Mailbox ins Ohr. Pech! Das Handy war abgeschaltet. Schade. Manchmal beneidete Mona Angie ein bisschen um die federnde Leichtigkeit, das Leben so locker zu genießen. Na ja, jedenfalls mit ihr, konnte sie heute wohl nicht rechnen.
Angelika Strobel (genannt Angie, ehemalige Kommilitonin)
Eine witzige Person. Immer gut drauf, immer viel zu tun, ständig neu verliebt und irgendwelche Dates, weiblicher Hansdampf in allen Gassen und Mittelpunkt jeder Party. Gemeinsam hatten sie drei Semester lang Kunst an der Uni studiert, bevor Angie die Lust verlor und schnell Kohle verdienen wollte. Keiner verstand sie, die gesegnet war mit hohem kreativem Potential, doch sie scherte sich nicht um die Meinung anderer oder ihre künstlerische Begabung und nahm kurz entschlossen, den vakanten Job in einem exklusiven Dessousladen der Altstadt an, mit dem sie immer noch zufrieden schien. Schafften sie es mal, gemeinsam etwas zu unternehmen, war es meist sehr lustig und immer beschlossen sie beim Abschied, es baldmöglichst zu wiederholen. Dabei blieb es dann auch. Es sei denn, Mona rief an. Dabei war sie sicher, dass es kein böser Wille Angies war. Ihr letztes Treffen lag fast drei Monate zurück. Die ehemalige Studienfreundin erinnerte Mona an einen schillernden Schmetterling. Mal hier oder dort naschen und schnell wieder weiterflattern. Von klein auf, auch bei den Eltern den Part des Enfant terrible ausfüllend, machte Angie keinen Hehl aus oft wechselnden Affären. Erzählte laut und sehr offenherzig über heiße Erlebnisse mit OneNight-Stands, Quickies&Co. Zweifellos sehr amüsant zum Zuhören, aber manchmal war es Mona echt peinlich gewesen, obwohl sie rein gar nichts damit zu tun hatte. Doch Angie selber? Fehlanzeige! Besonders, wenn sie von speziellen Vorlieben des aktuellen Lovers mit dem supergroßen…
»Dingsbums oder ihren multiplen Orgasmen« schwärmte und die Leute am Nachbartisch die Ohren spitzten oder die Stirn runzelten. Entweder, weil sie es anstößig fanden oder sich nähere Details erhofften nach diesem Auftakt, und sich dann umdrehten, weiter weg oder näher heran rückten.
»Nur der Neid der Besitzlosen«, kommentierte Angie dann meist kaltschnäuzig, als Krönung auch noch halblaut, dieses Schwanken zwischen verschämter Neugierde oder empörter Pikiertheit. Durchaus möglich, dass sie gestern Abend wieder einen Typ kennengelernt hatte und heute frisch verliebt, den ganzen Tag über mit ihm Bett und Tisch auf maximale Belastbarkeit testete, wie sie es wohl des Öfteren praktizierte.
Bei Timo könnte sie vielleicht noch anklingeln. Aber leider war auch er nicht zu Hause, nur der Anrufbeantworter quakte. Sie sprach ihm zur Identifizierung,
»Viele Grüße von Mona! «, darauf, weil er es ebenso wenig mochte wie sie, wenn später beim Tüttüt-Abhören, das Rätseln um den Anrufer losging.
Timo König (Kommilitone und Studienfreund)
Timo König, ein sympathischer Kommilitone und inzwischen guter Freund, war seit acht Monaten ebenfalls Solist im Beziehungsreigen. Nach der dramatischen Trennung von Exlover Damian, der ihn im Jahr zuvor während der Love-Parade im Berliner Tiergarten, erst angerempelt und dann angetörnt hatte. Er hatte ihn Mona in bunten Farben geschildert, bevor beide kurze Zeit später, Arm-in-Arm am Rheinufer ihren Weg kreuzten.
Doch das ungleich buntere Berliner-Original mit grünlila Strähnen im Haar und in fetzige Hauptstadtklamotten gewandet, hinterließ damals bei Mona eher den Eindruck eines personifizierten Vorwurfs gegenüber Timo. Seine tief gekränkt wirkende Mimik erschien ihr absolut nicht stimmig zum schrillen Paradiesvogeloutfit. Den Grund für das endgültige Zerwürfnis vertraute ihr Timo nach Ende der Zweisamkeit dann ausführlichst, aber unter absoluter Geheimhaltungsstufe an. Mona musste sich dabei ernsthaft zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Dieser Damian hatte ihm einige heiße Dessous aus seinem siebziger Jahre Lieblingsladen ›Engelke‹ in der Berliner Kantstraße, als Geschenke offeriert. Neben einem Lederkorsett mit ausgesparter Öffnung für eventuelle Brustwarzenpiercings, auch drei, extra auf Timos Größe maßgeschneiderte, französische Ouverthöschen in Lilaviolett, Ochsenblutrot und Blauglitzerschwarz.
Jedes Mal, sobald Timo die Wohnung allein verlassen wollte, bestand Damian darauf, dass Timo eines dieser delikaten Teile auf der Haut tragen sollte, um ihm näher zu sein. Als Timo sich weigerte und auch nicht auf dessen Intimrasur- oder Piercingwünsche einging, sah Damian darin einen eklatanten Liebesverrat, der zunehmend eskalierte. Zur Rettung ihrer maroden Beziehung waren sie am Ende zusammen in Damians Heimat nach Berlin, auf seinen besonderen Wunsch hin sogar getrampt; hatten im originellen Hutladen in der Giesebrechtstraße, Kaffee getrunken; in der ›Disco 90 Grad‹ zu heißen Rhythmen getanzt und waren durch originelle Kneipen im Nikolaiviertel gezogen. Gemeinsam teilten sie sich eine riesige Schweinshaxe in der Rekonstruktion des angeblich ältesten Wirtshauses, ›Zum Nussbaum‹ (erste Version von 1507); waren dann weitergezogen zum Haus des betrunkenen Froschs, ›Zum Paddenwirt‹, und am Ende, ebenfalls volltrunken in der Kneipe, ›Zur letzten Instanz‹, gelandet, wo scheidungswillige Paare sich angeblich immer beim Bier versöhnten. Ihnen beiden war die Aussöhnung leider trotzdem nicht geglückt.