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„Wenn sie ihn mitnehmen“, hatte sie gesagt, „dann richten Sie sich darauf ein, dass Sie nun einen Hund besitzen.“
Sie sollte recht behalten, denn seit über einem Jahr hatte sich niemand gemeldet. Wer nun dachte, Twister und er wären sofort ein Herz und eine Seele, der dachte falsch. So ganz war der Hund nicht davon begeistert, ihn als sein Herrchen zu akzeptieren, und auch er hatte zunächst gehofft, ihre Zweckgemeinschaft wäre eine zeitlich begrenzte Beziehung mit respektvoller Distanz. Doch nach und nach hatten sie sich damit abgefunden, Leon sogar eher als der Hund, dass sie es wohl miteinander aushalten mussten. Twister liebte das Autofahren und seinen Stammplatz im Fußraum. Er war oft kaum zu bewegen, den Wagen zu verlassen, als hätte er diesen zu seiner Schutzzone erwählt. Manchmal fragte er sich, ob es das Richtige für den Hund war. Ob es nicht besser wäre, eine Familie für ihn zu finden. Vor kurzem hatte Twister tatsächlich erst seine Pfote und dann die Schnauze auf Leons Oberschenkel gelegt und ihn mit freundlichem Blick angesehen. Das war das Netteste, was er je getan hatte. Das Eis war seither zwar gebrochen, doch da sie offenbar beide nicht zu Gefühlsausbrüchen neigten, beschränkten sich ihre gelegentlichen Zuneigungsbeweise auf ein leichtes Tätscheln oder ein Wippen mit der Schwanzspitze.
Nun waren sie also unterwegs nach Tillamook. Irgendeinem Nest, auf ihrem Weg zu den Ölfeldern in der Nähe von Bakersfield. Hoffentlich war dieses Dorf wenigstens so groß, dass es eine Drogerie besaß und die Einwohner Tillamooks ebenfalls gelegentlich unter Migräne litten. Als er das Ortsschild passierte, breitete sich plötzlich der Gestank von Käse im Wagen aus. Leon öffnete angewidert das Fenster und bedachte Twister mit einem vorwurfsvollen Blick, doch der Geruch verstärkte sich, als die Luft in den Wagen strömte. Twister hielt die Nase in die Höhe, dann schubbelte er mit der Pfote über die Schnauze und nieste zweimal kräftig. Ihm schien der Käsegeruch auch nicht zu liegen. Der Übeltäter war schnell ausgemacht, sie näherten sich einer riesigen blauen Fabrikhalle, auf deren Wänden in monumentalen gelben Buchstaben ‚Tillamook Cheese Factory’ geschrieben stand. Mit einer Käsefabrik hatte er am Rande des Pazifiks nicht gerechnet. Eine Fischfabrik vielleicht, aber Käse? Entschädigt wurde er jedoch von der grandiosen Aussicht, die sich eröffnete, als er die Fabrik hinter sich ließ. Die Straße führte am Rande der Klippen vorbei und der Blick über den unendlich scheinenden Pazifik war atemberaubend. Ungezähmt und wild preschten die Wellen mit roher Gewalt gegen die hunderte Meter hohe Felsküste, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wehe dem, der dort unten in Seenot geriet.
Leon nutzte die Gelegenheit, um kurz anzuhalten und den Geruch von Käse aus den Lungen zu verjagen. Er ließ Twister sein Geschäft verrichten und legte ein paar Schritte Richtung Steilwand zurück. Schilder warnten vor zu nahem Herantreten an die Abbruchkante, also blieb er stehen und füllte seine Lungen mit kühler Seeluft. Wo die Gischt der brechenden Wellen in die Höhe stieg, war es dunstig, doch weiter hinaus legte sich der Schleier und gab den Blick auf tiefblaues Wasser frei.
In diesem Moment hatte er unerwartet ein seltsames Gefühl im Bauch und er musste darüber nachdenken, was es bedeuten könnte. Er forschte in seinem Inneren und empfand so etwas wie Frieden. Als fiele etwas von ihm ab. Das war ihm fremd, so seltsam das klingen mochte, doch er kannte dieses zufriedene, geradezu glückliche Gefühl nicht. Es war wohl irgendwann verloren gegangen. Ohne es zu wollen, atmete er erneut tief ein, als hätte seine Lunge einen eigenen Impuls. Als schlüge sein Herz, ohne sein Dazutun plötzlich schneller. Was mochte die Ursache dafür sein? Der Blick auf den Pazifik? Den kannte er zur Genüge, er war nicht das erste Mal am Meer. Es war ein Gefühl, als wäre er endlich dort angekommen, wo er nie hinwollte. Wie wenn man etwas fand, was man nie gesucht hatte. Leon schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken und beobachtete Twister. Auch der verhielt sich anders als sonst. Statt nur schnell das Bein zu heben und gleich wieder auf seinen gewohnten Platz im Wagen zurückzukehren, schnüffelte er an den Wildblumen, trabte mit fröhlich erhobener Rute über die ausgestreckten Wiesen und schien ihren Stopp ausgiebig zu genießen.
Das Pochen in Leons Schläfen erinnerte ihn jedoch schmerzlich an sein eigentliches Vorhaben und so rief er Twister zu sich und setzte seine Fahrt fort. Sie erreichten Tillamook und erstaunlicherweise gab es eine richtige Einkaufsmeile mit Geschäften, einer Tankstelle und einem Restaurant. Das hatte er dem Miniaturpunkt auf der Landkarte mit dem lustigen Namen nicht zugetraut, doch es kam ihm sehr gelegen. Er könnte seine Tablette einnehmen, etwas essen, tanken und dann würde ihn nichts mehr stoppen auf dem Weg nach Bakersfield. Er hatte noch eine Woche Zeit, seinen neuen Job anzutreten, und wollte sich nach einer Unterkunft umsehen, auch wenn er dafür etwas spät dran war. Das Treffen mit Jasper war schuld, dadurch war er einen Umweg gefahren. Er hätte sonst längst etwas finden können, doch nun drohte ihm die vorrübergehende Unterkunft in einer Arbeiterbaracke. Er hoffte, dass Twister dort kein Problem darstellte.
Mit Schwung parkte er in der einzigen freien Lücke unmittelbar vor dem Drugstore und besorgte sich schnell eine Packung Schmerztabletten. Als er zum Wagen zurückkehrte, hörte er Twister aufgeregt bellen. Eine Ordnungshüterin tippte mit wichtiger Miene sein Kennzeichen in ihr Erfassungsgerät und als er sie erreichte, zückte sie ihr Mobiltelefon und machte Beweisfotos.
„Ist das denn wirklich nötig?“, sprach er sie freundlich an. „Ich war nur zwei Minuten weg.“
„Sir, Sie parken auf einem Behindertenparkplatz. Das sollte Ihnen aufgefallen sein.“
„Hören Sie“, er bemühte sich seiner Stimme einen verständnisvollen Klang zu verleihen. Auf ein Ticket hatte er nun wirklich keine Lust. „Selbst wenn nun ausgerechnet in diesem Augenblick ein Mensch mit Handicap parken möchte, so war ich doch sofort zur Stelle und hätte ihm Platz machen können.“
„Es ist ein Behindertenparkplatz, Sir. Sind Sie gehandicapt?“
„Nein.“
„Das sollte die Antwort auf Ihre Aussage sein.“
Es hatte offenbar keinen Zweck, darum blieb er jetzt still. Sie tippte minutenlang auf ihrem Gerät herum und machte dann erneut Bilder. Ihm riss allmählich der Geduldsfaden.
„Fällt Ihnen auf, dass Sie mich mittlerweile länger aufhalten, als meine Parkzeit gedauert hat?“
Sie warf ihm stumm einen abschätzigen Blick zu, zückte einen Block und schrieb auf diesem weiter. Dann riss sie mit Schwung das oberste Papier ab und überreichte es ihm.
„Hundertachtundzwanzig Dollar?“, rief er fassungslos.
„Da Sie keinen Hydranten oder wichtige Einfahrten blockieren, will ich mal nicht so sein.“
„Wa…“ Ihm blieb der Rest seiner Worte im Halse stecken, als sie sich auch schon umdrehte und mit ihren dicken X-Beinen davonwatschelte. Er sah ihr sprachlos hinterher, als es neben ihm ohrenbetäubend hupte und er zusammenzuckte.
„Ist das Ihr Wagen, Sir?“, krähte eine sehr zierliche und sehr kleine ältere Dame mit Sonnenhut aus dem Seitenfenster. „Sie haben keinen Aufkleber! Ist das Ihr Wagen, dann fahren Sie ihn weg! Los!“ Dafür, dass sie so winzig war, war sie offenbar sehr herrisch.
Leon schnaubte, warf ihr einen wütenden Blick zu, setzte sich in seinen Wagen und fuhr aus der Parklücke. Der erste Impuls war, diese Stadt so schnell wie möglich zu verlassen, doch er hatte Hunger und sein Wagen brauchte Benzin. Also entschied er sich trotz des nervigen Erlebnisses, seinen Aufenthalt auszudehnen.
Nachdem er getankt hatte, fuhr er zurück zu dem Diner, den er zuvor entdeckt hatte. In einiger Entfernung fand er einen geeigneten Parkplatz und achtete diesmal peinlich genau darauf, ob er dort parken durfte. Noch mit leichtem Zorn im Magen und reißenden Schmerzen im Kopf, lief er hinüber zum Restaurant. Twister blieb im Wagen zurück, denn er hasste nichts mehr, als seinen geliebten Platz im Fußraum zu verlassen. Da es Leon nie lange an einem Ort hielt, hatte auch der Hund den Wagen zu seinem Zuhause erwählt.
Im Schnellschritt lief Leon an den Geschäften entlang zum Restaurant. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass sich die Tür eines Geschäfts öffnete und bevor er sich versah, prallte er mit jemandem zusammen. Beim dem heftigen Zusammenstoß hatte er für Sekunden das Gefühl, dass sein Kopfschmerz explodierte, und er taumelte kurz. Er fing sich jedoch schnell wieder, seine Kontrahentin dagegen hatte weniger Glück. Sie war unsanft auf ihrem Hintern gelandet.
„Können Sie nicht aufpassen?“, schnauzte er ungehalten. Die schlummernde Wut in ihm und seine Migräne ergaben keine gute Mischung. „Machen Sie gefälligst die Augen auf!“
Er rieb sich den Arm an der Stelle, an der sie zusammengeprallt waren, und warf einen Blick auf die Gestalt, die auf dem Gehsteig saß. Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Als er die junge Frau musterte, breitete sich dasselbe Gefühl in ihm aus, das er zuvor an den Klippen erlebt hatte. Ein unglaublich warmes und wundervolles Empfinden. Verwirrt versuchte er es zu analysieren, doch es verpuffte leider zusammen mit dem kräftigen Typ, der plötzlich aus dem Laden stürzte und ihn anpflaumte.
„Herrgott, können Sie nicht aufpassen?“
„Ich?“, fragte er entrüstet und sah dabei zu, wie der Kerl der jungen Frau auf die Beine half. Das hätte ihm allerdings auch einfallen können, dachte er etwas beschämt.
„Ist alles in Ordnung?“, wollte der Typ von der jungen Frau wissen. Er war offensichtlich Verkäufer in dem Laden, denn er trug ein Shirt mit der Aufschrift ‚Tillamook Musicstore’ und ein Namensschild, auf dem ‘George‘ stand. Leons Blick fiel wieder auf die blonde Schönheit, die sich mit schmerzverzerrtem Blick das Handgelenk hielt.
„Ich glaube, es ist verstaucht.“
„Sehen Sie, was Sie angerichtet haben?“, ranzte George ihn erneut an. Leon wurde innerlich ungehalten, auch wenn es ihm leid tat, dass sie sich offenbar verletzt hatte. Gerade als er sich rechtfertigen wollte, tauchte neben ihm eine weitere junge Dame auf und stieß ihn auf ihrem Weg unsanft beiseite.
„Eywa, oh mein Gott, ist alles in Ordnung?“
„Mein Handgelenk …“
„Verflucht, konnten Sie nicht aufpassen?“, herrschte der blonde Feger ihn an.
„Aber …“
George warf ihm einen vernichtenden Blick zu. So langsam fand Leon das Ganze etwas übertrieben. Sie waren nur zusammengeprallt, er hatte sie nicht umgebracht. Doch als der Typ sich nach einem weißen Stock bückte und ihn der aufregenden Schönheit in die Hand gab, wurde ihm siedend heiß klar, warum die beiden ihn so hart angingen. Die Traumfrau war blind.

July ließ sich weder davon abbringen, sie zu stützen, obwohl sie versicherte nichts an den Füßen zu haben, noch davon, sie zu einem Arzt zu bringen.
„July, es ist nur verstaucht. Ich benötige keinen Arzt.“
„Sorry, aber ich habe gesehen, wie du gefallen bist. Dieser Idiot!“
„Er konnte sicher nichts dafür und hör auf mich zu stützen, bitte.“
„Wir sind am Auto. Du kannst einsteigen“, entgegnete July nur knapp und es klang beleidigt. Eywa streckte die Hand aus und ertastete erst die Wagentür, dann den Griff. Sie zog daran, setzte sich jedoch nicht hinein, sondern blieb neben dem Wagen stehen.
„Sei nicht sauer, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich immer so für mich einsetzt, aber du hättest ihn nicht derart zerfleischen müssen.“
July war schon auf dem Weg zur anderen Seite des Wagens, ihre Schritte kehrten jedoch zurück und sie blieb vor ihr stehen.
„Immerhin will er nun für deine Arztrechnung aufkommen. Ich denke nicht, dass er das getan hätte, wenn ich freundlich zu ihm gewesen wäre“, rechtfertigte sie sich.
„Er klang sehr höflich, im Gegensatz zu George und dir.“
„Können wir jetzt losfahren?“, drängelte sie.
„Ich will nicht zum Arzt, sag mal hörst du mir nicht zu?“
„Herrgott Eywa und wenn es etwas Schlimmes ist? Du bist Pianistin! Lass Doktor Malcom sich das wenigstens mal ansehen.“
„Meine Mutter war eine Pianistin, eine Weltklasse Pianistin, ich besitze lediglich ein altes Pianino.“
„Auf dem du Unterrichtsstunden für Kinder gibst.“
„Nur, wenn ihre Eltern davon überzeugt sind, dass eine Behinderte ihren Kindern etwas beibringen kann.“
„Eywa!“
„Stimmt doch. Sobald der kleine, hochtalentierte Nachwuchsstar daheim die verkehrten Töne trifft, geschieht das natürlich nicht mangels Talent oder Fleischwurstfingern, sondern die Blinde ist schuld.“
„Hat wieder einer deiner Schüler abgesagt?“ Julys Stimme klang mitfühlend.
„Was denkst du?“
Sie hörte sie seufzen.
„Komm, wir gehen etwas trinken.“
„Endlich wirst du vernünftig.“ Eywa gab der Tür Schwung und sie fiel zurück ins Schloss. Sie hörte das Klacken des automatischen Türverrieglers, dann schob July den Arm unter ihren und hakte sich ein. Wenig später betraten sie Joe’s Diner und setzten sich an den Tresen auf die gemütlichen Barhocker.
„Na Mädels, wie immer?“, begrüßte sie Joes tiefe Stimme.
„Für mich Wasser“, entgegnete July und pappte Eywa ihre schwere Handtasche auf den Schoß. „Halt mal, ich muss aufs Klo.“
„Und was möchtest du trinken, Eywa?“
„Überrasch mich mit einem deiner legendären Cocktails. Und spar nicht mit dem Alkohol.“ Sie klang frustriert.
„Hat wieder einer abgesagt?“
Eywa winkte ab, was sie sofort bereute, denn es war das lädierte Handgelenk.
„Nimm’s nicht tragisch“, hörte sie ihn sagen. „Dein Cocktail kommt sofort!“
Eywa ließ Julys Handtasche vorsichtig an ihrem Bein entlang zu Boden sinken und hielt den Henkel mit dem Fuß.
„Darf ich Sie einladen?“
Ihr Herz machte einen Satz, und was für einen! Sie hatte nicht viel von ihm hören können, die meiste Zeit hatten July oder George ihn angekeift, doch seine Stimme erkannte sie sofort wieder.
„Sie sind es …“
„Ja, der Zusammenstoß.“
„Oh …“ Himmel, sie sprühte ja vor Geisteswitz.
„Ich habe den Moment genutzt, in dem Ihre Schwester verschwunden ist.“ Sein Ton klang leicht erschreckt und Eywa musste lachen.
„Normalerweise ist sie nicht so rabiat“, erklärte sie. „Aber sie ist nicht meine Schwester.“
„Sie sehen sich sehr ähnlich.“
„Meine Cousine.“
„Ah, verstehe.“
Na Gottseidank schien auch er etwas beklommen zu sein.
„Sie sind fremd hier, oder?“
„Ja, ich bin nur zufällig in der Stadt. Darf ich mich vorstellen, mein Name ist …“
Joe unterbrach ihn leider, als er ihr das Getränk in die Hand schob.
„Bitteschön, Eywa. Lass ihn dir schmecken. Und was kann ich Ihnen bringen, junger Mann?“
Aus Nervosität nahm Eywa einen viel zu großen Schluck ihres Cocktails. Joe hatte, wie gewünscht, nicht mit dem Alkohol gespart und sie hätte beinahe angefangen zu husten, als das scharfe Getränk ihre Kehle herunterlief. Gerade noch konnte sie den Reiz unterdrücken.
„Nur Wasser, danke.“
Leider kehrte July in diesem Moment zurück.
„Sie schon wieder“, sagte sie, doch es klang bei Weitem versöhnlicher.
„Wie geht es Ihrem Handgelenk?“, fragte er, ohne auf July einzugehen.
„Nicht der Rede wert.“
„Das sehe ich anders“, warf July dazwischen, „aber leider ist sie stur wie ein Esel und möchte nicht zum Arzt.“
Eywa empfand ihre Anwesenheit und den Ton, mit dem sie ihn anging, als störend. Sie hätte gerne mehr von ihm erfahren, sie war neugierig geworden. Vor allem seine Stimme hatte es ihr angetan. Zu gerne hätte sie gewusst, wie er aussah und ob seine Erscheinung zu dieser sanften Stimme passte. July würde ihr das sicher später verraten.
„Sie ist eine großartige Pianistin und wenn sie nicht mehr spielen kann …“
„July, bitte!“
„Ich komme selbstverständlich für alles auf.“
„Sie können sicher nichts dafür und außerdem ist alles in Ordnung“, versuchte sie die Schärfe aus der Situation zu nehmen. „Sie wollten mir Ihren Namen verraten.“
„Leon Marshall und es tut mir wirklich leid.“
„Ihre Gestik kann sie nicht sehen, Mister Marshall“, warf July ein. „Wenn Sie auf ihr Handgelenk deuten, kann sie es nicht bemerken. Sie müssen es ihr schon sagen. Wie auch Kopfschütteln, oder nicken.“
„Verzeihung! Man ist leider so eingefahren in seinen Gewohnheiten.“
Er tat Eywa leid, weil ihre Cousine ihren leicht schnippischen Unterton offenbar nicht ablegen konnte. Sie fürchtete, July könnte ihn verjagen, bevor sie mehr von ihm erfahren konnte. Sie fand ihn nämlich sehr interessant. Joe stellte derweil das Wasser für ihn auf den Tresen und er bedankte sich höflich.
„Nun“, sagte er, „ich möchte nicht weiter stören.“
Bevor Eywa ihm antworten konnte, kam überraschend die Wende von July.
„Sie stören doch nicht. Wie wäre es, wenn wir das Kriegsbeil begraben?“
Eywa ärgerte sich, denn July war ihr zuvorgekommen und mehr noch, ihr Ton wurde plötzlich zuckersüß.
„Das würde mich freuen“, gab er zurück.
„Wie gefällt es Ihnen in unserem schönen Tillamook?“, wollte July wissen.
Er lachte leise und Eywa gefiel der tiefe Klang. Er erzählte, dass er in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes einen deftigen Strafzettel kassiert hatte, dass es in diesem Hafenstädtchen überraschend nach Käse, statt nach Fisch roch, und er bedauerte noch einmal seinen Zusammenprall mit ihr.
„Diese Stadt und ich werden wohl keine Freunde“, schlussfolgerte er über seinen ersten Eindruck. July kicherte. Tatsächlich, sie kicherte wie ein Teenie!
„Dann sind Sie auf der Durchreise?“
Das hatte Eywa ihn auch fragen wollen, doch July war erneut schneller. Es grummelte in ihrer Magengegend, denn sie fühlte sich ausgeschlossen.
„Das stimmt, ich bin auf dem Weg nach Bakersfield.“
„Zu den Ölfeldern?“
„Ja richtig. Ich habe dort einen Job angenommen.“
„Ein Ölwurm“, sagte July und ihre Stimme war hell und vibrierte leicht. Sie lächelte offenbar, während sie mit ihm sprach. Eywa kannte die verschiedenen Timbres in Stimmen. Wer blind war, musste gut hören können und hier war es ganz offensichtlich, sie flirtete mit ihm! „Das soll ein ziemlich harter Job sein. Wenn Sie keine Lust mehr darauf haben, kommen Sie her. Hier werden immer starke Männer gebraucht.“
„Für die Käsefabrik?“
July lachte glockenhell und Eywa kam sich sehr deplatziert vor.
„Nein, aber auch die suchen immer Arbeiter. Meine Familie besitzt hier eine …“
Eywa erhob sich.
„Wo willst du hin?“
„Mir die Nase pudern.“ Sie verpasste es, die Enttäuschung aus ihrer Stimme zu nehmen und war verärgert über sich. Nun wirkte es, als wäre sie eifersüchtig. Um Himmelswillen. Warum reagierte sie so verspannt, anstatt July den Spaß zu gönnen?
„Ich begleite dich.“
Eywa wollte verneinen, doch das hätte sie noch zickiger erscheinen lassen.
„Ich muss sowieso los“, sagte der Mann. „Es war nett, euch beide kennenzulernen und Eywa, rufen Sie mich an, wenn es Probleme gibt. Meine Nummer haben Sie ja.“
July hatte seine Nummer, sie nicht. „Ihre Cousine kann für Sie anrufen“, schob er schnell hinterher, weil ihm das offenbar auffiel.
„Sie werden es nicht glauben, Mister Marshall, aber ich bin durchaus fähig zu telefonieren, ja mehr noch, ich bin sogar in der Lage zu essen, ohne mich zu bekleckern, zu trinken, mich allein anzuziehen, oder mich zu unterhalten, ohne dass andere für mich antworten müssen.“
„Eywa!“
Gottseidank, July stoppte sie, sonst wäre es vermutlich noch schlimmer geworden. In diesem Moment war sie froh, sein Gesicht nicht sehen zu können. Ein sehr peinlicher Auftritt und nun wurde es höchste Zeit, zu verschwinden. Den Weg zu den Toiletten kannte sie. Blieb nur die Hoffnung, dass nichts im Weg stand. Als hinter ihr die Schwingtür der Toiletten hin und her pendelte, lehnte sie sich an die Wand und fragte sich, was mit ihr los war. Sekunden später trat July zu ihr. „Alles ok?“
„Ich hatte einen scheiß Tag.“
„Wegen dem Schüler?“
„Mit dem fing es an.“
„Sollen wir heimfahren?“
„Ist er weg?“
„Ja, er ist weg.“
„Ok, lass uns fahren.“
Bis zum Auto sprachen sie kein Wort und auch auf den ersten Meilen blieb es still zwischen ihnen.
„Sag mal“, unterbrach July die Stille. „Fandest du ihn irgendwie … nett?“
„Mach dich nicht lächerlich.“
„Wieso? Du bist eine junge Frau, du hast Gefühle, du bist wunderschön.“
„Ich bin behindert.“
Wieder blieb es eine Weile still, doch diesmal war es Eywa, die das Gespräch wieder aufnahm. Vor allem, weil ihre Neugier sie nicht ruhen ließ. „Wie sah er denn aus?“
„Er sah sehr gut aus, wirklich, so richtig gut. Er war groß, sehr sportlich, breite Schultern …“
„Jaja. Ich meine sein Gesicht.“
„Sehr attraktiv, würde ich behaupten. Kurze dunkle Haare, aber einen langen Schopf, der ihm in die Stirn fällt, männliche Züge, schöne Lippen …“
„Du verstehst nicht. Ich möchte wissen, wie seine Mimik war, der Ausdruck seiner Augen, sein Lächeln, seine Ausstrahlung.“
„Also gut. Er wirkte zurückhaltend, beinah schüchtern. Kaum zu glauben bei der attraktiven Erscheinung. Er hat übrigens sehr oft zu dir rüber gesehen. Wenn er lächelt, zieht er dabei nur einen Mundwinkel leicht nach oben und es bilden sich kleine Fältchen um seinen Mund. Außerdem hat er wirklich schöne Zähne. Seine Augen sind braun oder grün, konnte ich nicht genau erkennen, aber mit ungewöhnlich dichten Wimpern und eine lange rote Narbe zieht sich von seiner Schläfe hinunter bis zur Wange. Vielleicht hatte er mal einen Unfall.“
„Schade, dass wir ihn nicht mehr wiedersehen.“
„Ja, schade. Er war wirklich nett.“
Kapitel 2
Dunkles Herz in großer Not.
Jeden Tag der Schatten droht.
Deine Seele ist so blind,
sie keine Liebe in sich find‘.
Und du mehr und mehr erkennst,
dass du in den Abgrund rennst.
Knapp neunhundert Meilen lagen zwischen Tillamook und Bakersfield. Eine Strecke, die er sonst in sich versunken hinter sich brachte. Er fuhr meist vor sich hin, hörte Musik, bis er sie nicht mehr hörte, weil sie irgendwann in seinen Ohren mit den Fahrgeräuschen und seinen Gedanken verschwamm. Bis er nicht mehr sagen konnte, wie weit er gefahren war, was er gedacht hatte, oder welches Lied sie gespielt hatten. Stumm hatte er bislang seine Linien quer durch die Staaten gezogen, mal hier, mal dort, meist Nirgendwo. Heute aber hatte er jede Menge nachzudenken und es trübte seine Stimmung, dass das schöne, seltsame Gefühl, das er erstmals oben auf den Klippen empfunden hatte, schwächer und schwächer wurde, je mehr Strecke zwischen ihm und Tillamook lag. Er hätte es gerne länger festgehalten. Dasselbe Gefühl, als er diese Frau zum ersten Mal gesehen hatte. Er spulte immer wieder ihr Bild vor sein inneres Auge, um es zu festigen und nicht mehr zu verlieren.
Ihre kurzen strohblonden Haare, mit noch helleren Strähnchen passten so ganz wunderbar zu ihrer leicht gebräunten Haut. Ihre schlanke Figur fand seine Bewunderung, ihre langen Beine hatten ihn kurz den Atem anhalten lassen und er war voller Respekt darüber, wie sicher sie sich trotz ihrer Erblindung bewegte. Warum auch immer, aber zuerst hatte er gedacht, es wäre ein abgekartetes Spiel und sie wollten ihn hereinlegen. Dass sie ihm die Blindheit nur vorspielte, vielleicht, um daraus Kapital zu schlagen. Heutzutage war alles möglich und er traute niemandem. Immer wieder hatte er verstohlen in ihre bernsteinfarbenen Augen gesehen, weil es ihm so unmöglich schien, dass sie ihn nicht sah. Er hatte noch nie Kontakt mit einem blinden Menschen gehabt und er musste zugeben, dass er völlig befangen gewesen war. Es war ein seltsames Gefühl, jemandem gegenüber zu stehen, dem es offensichtlich völlig egal war, wie man aussah. Ob man modische Klamotten trug, ob man die neueste Frisur hatte, ob man ausgeschlafen war oder einem ein Pickel auf dem Kinn wuchs. Selbst seine Narbe wäre ihr egal. Seltsam, und so schrecklich es klingen mochte, aber ihm hatte das gefallen. Er hätte nicht den Gockel herauskehren müssen, um sie zu beeindrucken, wenn er denn gewollt hätte. Es wirkte beruhigend auf sein Inneres, auch wenn es einen leichten Beigeschmack hatte, in dieser Form über ihr Handicap nachzudenken.