- -
- 100%
- +
Je mehr Meilen sich zwischen sie und ihn schoben, desto mehr bemühte er sich, auch gedanklich Abstand zu ihr zu gewinnen. Er hatte noch nie so viel über eine Frau nachgedacht und das sollte auch so bleiben. Sie hatte ihn wahrscheinlich nur so sehr beschäftigt, weil sie blind war. Wäre sie wie alle anderen, hätte er sie nicht weiter beachtet. Obwohl sie auffallend hübsch war. Sehr hübsch.
Mittlerweile fielen ihm beinahe die Augen zu, während Twister auf seiner Decke im Fußraum lag und vor sich hin schnarchte. Es war wohl die bessere Idee, in dieser Nacht ausnahmsweise ein Motel anzusteuern, damit er am nächsten Tag ausgeruht und geduscht vor seinen neuen Arbeitgeber treten konnte, um den Vertrag zu unterschreiben. Ansonsten hatten er und Twister bereits so viele Nächte im Wagen hinter sich, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Obwohl sie auch nicht schlechter geschlafen hatten, als in durchgelegenen Motel Matratzen, in denen sich die Wanzen tummelten.
Er hatte Glück. Nach einigen Meilen durch schier unendlich anmutendes Waldgebiet verhieß ein Leuchtschild eine nächtliche Unterkunft. Er folgte den Hinweisschildern und fuhr auf den Parkplatz.
Das Motel wirkte freundlich, nicht so heruntergekommen wie die meisten dieser Kette. Wenige Augenblicke später besaß er einen Zimmerschlüssel und hatte das letzte Sandwich aus einem Automaten ergattern können. Twister stellte glücklicherweise kein Problem dar, um ein Zimmer zu mieten, und selbst wenn, dann hätte er sicher gerne im Auto übernachtet.
Das Zimmer war nichts Besonderes, aber sauber. Das meiste Gepäck ließ er im Wagen und nahm nur das Nötigste zum Wechseln mit. Die Müdigkeit machte ihn so mürbe, dass er das Duschen verschob, sein Sandwich aß und ins Bett fiel. Twister rollte sich auf der kleinen Matte vor der Tür ein und Leon hätte schwören können, dass er sich genau dort hinlegen würde. Er löschte das Licht, doch statt, dass ihn bleierne Müdigkeit sanft ins Land der Träume schickte, war er plötzlich hellwach. Das Rauschen des wilden Ozeans drang zurück in seine Erinnerung, die Klippen und der Blick über den weiten Pazifik, der Geruch des salzigen Wassers. Dabei musste er an die Käsefabrik denken und an die schreckliche Politesse und - natürlich, er dachte wieder an Eywa. Verflucht, gab es denn wirklich nichts anderes mehr, an das er denken konnte? Er drehte sich verärgert auf die Seite und schlief dann endlich ein.
Nach einer unruhigen Nacht, in der ihn wirre Träume oft aufwachen ließen, fühlte er sich am Morgen wie gerädert. Er machte sich nicht die Mühe, sich an die Träume erinnern zu wollen. Es waren meist Albträume und die waren eine der Begleiterscheinungen seit … Leon ballte die Faust. Verflucht, er wollte nicht in diese Erinnerungen fallen. Er sprang auf und ging schnell unter die Dusche. Das Wasser belebte und vertrieb den Schwachsinn in seinem Kopf. Es blieb noch genug Zeit für ein Frühstück, bevor er seinem neuen Arbeitgeber gegenübertrat. Der Job würde sicher nicht einfach. Körperliche Fitness und der Wille, hart zu arbeiten, waren die Voraussetzungen und das war genau sein Ding. Schmerzen. Der ganze Körper musste sich anfühlen, wie durch den Fleischwolf gedreht. Lahme Muskeln und abends so müde zu sein, dass man kaum mehr in der Lage war, ins Bett zu kriechen. Nur dann hatte das Gehirn nicht mehr genug Strom, um selbstständig denken zu können, weil es ihn sonst immer wieder in Abgründe manövrierte, in die er dann hilflos hineinstürzte.
Er packte seine Sachen zusammen und nachdem er bezahlt hatte, gab er die Adresse der Ölfirma in sein Navigationssystem ein. In ein paar Stunden würde er seinen nächsten Vertrag unterschreiben. Mit ein wenig Optimismus könnte es diesmal ein Job sein, in dem er länger bleiben würde, denn meist war schon während der Probezeit Schluss. Wenn die Kollegen vertraulicher wurden und von privaten Problemen mit Frau und Kindern erzählten. Wenn er zu Grillpartys und Geburtstagen eingeladen wurde. Wenn man Telefonnummern austauschen und sich zum Bowling treffen wollte, dann war für ihn der Zeitpunkt, an dem er sein Bündel schnürte und schnell das Weite suchte. Er konnte diese Annäherungen nur schlecht ertragen, denn das bedeutete, dass sie auch von ihm alles wissen wollten. Es war überhaupt verwunderlich, warum Männer ständig diese Verbrüderung suchten. Am besten noch, wenn sie sich zuerst spinnefeind waren, um dann, durch welche Umstände auch immer, mit kräftigen Schulterklopfern und überschwappenden Bierkrügen in die brüderlichen Arme fielen. Man fand dieses Phänomen in allen Schichten. Wo immer sie geballt aufeinandertrafen, dürsteten sie nach wahren Männerfreundschaften.
Ihn nervte dieses Verhalten. Er hatte keinerlei Interesse an diesen gesellschaftlichen Spielchen. Als er in der Army diente, waren die anderen Soldaten regelrecht süchtig nach tiefen Freundschaften und dieser ständige Gruppenzwang. Einer für alle, alle für einen. Semper Fi – Ewig treu! Am besten noch tätowiert auf den Unterarm. Als er die Army verließ, war das für ihn die größte Befreiung. Leon erinnerte sich dabei an seinen Ausflug in die Welt der Cowboys und musste leise lachen. Einsam am Lagerfeuer zu hocken, war eine Illusion. Auch dort starrten sie nicht wortkarg in die Flammen, sondern sangen christliche Lieder und hielten dabei voller Inbrunst ihre Hüte vor die Brust. Lobet den Herrn für gute Ernte, Regen, Sonne oder ansehnlichen Rinderschiss. Als wenn es einen lieben Gott interessieren würde. Als Leon von dem neu angesetzten Datum der Hinrichtung in den Nachrichten gehört hatte und Jaspers Kontaktversuchen nachgab, die er bis dahin stets ignoriert hatte, machte er sich auf der Ranch sprichwörtlich aus dem Staub. Unterwegs hatte er durch Zufall die Stellenanzeige des Ölkonzerns gelesen und dort angerufen. Da sie dringend Leute brauchten, war ein neuer Job kein Problem, zumal er durch sein Studium sowieso qualifiziert war.
Da war er nun und näherte sich Bakersfield und weil das, was sich nach der Kurve plötzlich seinen Augen bot, so unglaublich war, hielt er an und stieg aus. Er befand sich auf der Straße einer grün bewaldeten Hochebene und der Blick hinunter ins Tal war … gruselig. Das war das einzige Wort, das ihm dazu einfiel. Verbrannte, blasse Erde, soweit das Auge durch den Smog blicken konnte. Eine Armee von Aberhunderten Pumpen. Eine neben der anderen. Wie eine Hautkrankheit verteilten sie sich über die farblose Ebene, in der weder Busch, noch Baum wuchs. Stählerne schwarze Pferdeköpfe, die ständig auf und ab nickten und ihre Stacheln tief und tiefer in den Boden trieben. Hier und da qualmte es, wahrscheinlich handelte es sich um Versickerungsteiche, in denen das Abwasser in der prallen Sonne verdunstete. Der Anblick erinnerte an ein Endzeit Szenario. Der Geruch nach Öl und faulen Eiern, definitiv Schwefel, der in der Brühe suppte, drang in seine Nase. Ein netter, einladender Arbeitsplatz in freundlicher Umgebung sah anders aus.
Leon stieg zurück in den Wagen, in den Twister schnell hineingesprungen war und ihn aus dem Fußraum vorwurfsvoll anblickte.
„Ja ich weiß, es gibt schönere Orte.“
Tillamook kam ihm wieder in den Sinn. Leon wischte den Gedanken beiseite, trat aufs Gaspedal und schon wenig später erreichte er die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Ein typischer Industrie Flachbau, nicht besonders groß, vor dem einige Autos geparkt waren. Auf der gläsernen Eingangstür stand in goldenen Buchstaben:
Wellshare Industries
Oil Company
Kran Field Eastern Valley
Leon ließ Twister im Wagen und betrat das Gebäude. Hinter der Theke eines kleinen Eingangsbereichs telefonierte eine junge Frau und als sie ihn erblickte, winkte sie ihn zu sich. Sie deutete auf einen der Stahlrohrstühle und Leon folgte der Aufforderung, bis sie kurze Zeit später das Telefonat beendete. Er stellte sich vor und nannte den Grund seines Besuchs.
„Mister Marshall, natürlich, Sie werden bereits erwartet.“ Sie kam hinter dem Tresen hervor und er folgte ihr in einen schmalen Gang. An den Wänden hingen Bilder von Pferdekopfpumpen. Was auch sonst? Selbst hier roch es leicht nach Öl. Sie klopfte an eine Tür und nachdem sie ihn angekündigt hatte, durfte er eintreten.
„Mister Marshall“, empfing ihn der Mann hinter dem Schreibtisch. „Wir hatten telefoniert. Ich bin Luiz Hernandez.“ Sie reichten sich die Hände und Leon nahm vor dem Schreibtisch Platz. „Wie Sie bereits wissen, suchen wir dringend Leute. Ihre Aufgabe wäre die Instandhaltung der Pumpen. Dazu gehört das Säubern, Befreien von Dreck, Rost oder Tierkadavern. Sie werden eingearbeitet, müssen jedoch vorab einen Sicherheitskurs absolvieren, der Erste Hilfe Maßnahmen und Brandvorkehrungen beinhaltet. Er dauert nur zwei Tage und wird ohne Prüfung absolviert. Soweit klar?“
„Ja, Sir.“
Hernandez sah ihn einen Moment an, schob seine Kappe mit der Aufschrift der Ölgesellschaft nach oben und wischte mit den Fingerspitzen die Schweißtropfen von der Stirn.
„Sie sehen durchtrainiert aus, hätten Sie Interesse an einem Job auf einer Bohrinsel?“ Er griff nach einem Informationsblatt und ließ es über die Tischplatte zu Leon hinübergleiten. „Offshore können Sie viel Geld verdienen. Zu dem normalen Kurs käme ein Schwimmkurs hinzu, selbstverständlich werden die Kosten von uns getragen. Man frischt dort Ihre Paddelkünste auf, falls Sie von der Bohrinsel fallen.“ Er lachte. „Wie wär’s?“
„Nun …“
„Sagen Sie mir einfach Bescheid“, unterbrach er ihn und winkte mit der Hand ab. Ein weiteres Info-Blatt schwebte in Leons Richtung. „Das sind unsere Vorschriften. Gut durchlesen! Drogen-, Alkohol- und Zigarettenverbot auf dem gesamten Gelände, das sollte klar sein. Noch Fragen?“
Er griff einen weiteren Stapel zusammengehefteter Blätter und schob auch die in seine Richtung. Ohne abzuwarten, ob Leon eventuell tatsächlich Fragen hatte, sprach er weiter. „Das ist Ihr Vertrag. Ich habe ihn bereits unterzeichnet. Ich brauche ihn bis morgen Mittag zurück. Überlegen Sie sich das Angebot mit der Bohrinsel. Sie liegt vor Alaska. Ein harter Job, härter als hier in dieser Hitze, und die frisst einen bereits auf. Es gibt keinen einzigen schattigen Platz hier, während Sie die Pumpen warten oder reparieren. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm. Nur Sand, der Ihnen bei Wind bis in die Arschritze dringt.“ Er lachte. „Beim Gehen fühlt es sich irgendwann an, als hätten Sie Schmirgelpapier zwischen den Arschbacken.“ Er lachte noch mehr und Leon tat ihm den Gefallen, die Lippen zu einem Grinsen zu verziehen. „Alles klar soweit?“
Er stand auf, um ihn zu verabschieden, doch Leon blieb sitzen.
„Haben Sie Unterkünfte?“
Hernandez setzte sich wieder.
„Ja sicher.“ Er schrieb eine Telefonnummer auf einen Zettel. „Melden Sie sich bei Jerome, er wird Ihnen eine Baracke zuweisen. Es sind immer zwei Männer in einer Unterkunft. Hoffen Sie nicht, dass Sie eine für sich allein bekommen. Wir nehmen weder Rücksicht auf ethnische noch religiöse Hintergründe. Hier geht es um Öl, das ist wichtiger als die Tatsache, in welche Richtung jemand betet. Soweit klar?“
Er griff hinter sich in ein Fach, zog ein weiteres Blatt heraus und auch dieses schwebte hinüber zu ihm.
„Die Vorschriften in den Unterkünften. Gut durchlesen. Auch dort gilt: Alkohol-, Zigaretten- und Drogenverbot. Haustiere sind nicht erlaubt, bis auf Geckos und Schlangen. Die haben hier Hausrecht.“ Er lachte wieder.
„Ich habe einen Hund.“
„In Bakersfield ist ein Tierheim. Nette, wirklich sehr nette Leute da.“ Er kritzelte eine Adresse auf einen Zettel, auch den packte Leon zu seinem Stapel dazu. „Verstehen Sie, so ein Tier ist hinderlich. Der eine kommt mit einer Katze, der nächste besitzt einen Hund, ein anderer bringt seinen Affen mit. Wir sind hier kein Streichelzoo. Und es geht auch nicht, dass man nicht zum Dienst erscheint, weil der Hund gekotzt hat. Noch Fragen?“
Leon fühlte sich etwas überrollt.
„Dann sehen wir uns morgen. Denken Sie daran, den Vertrag zu unterschreiben.“
Leon verließ das Büro, ging hinaus und atmete tief durch. Die Sekretärin lächelte ihm zu, als er zu seinem Wagen ging. Er setzte sich hinein und Twister schenkte ihm zu seiner Rückkehr ein leichtes Zucken mit der Schwanzspitze. Das war offenbar das Ende ihrer gemeinsamen Reise. Leon gab die Adresse des Tierheims in das Navi ein und fuhr los. Während der Fahrt musste er feststellen, dass Bakersfield die dreckigste und staubigste Stadt war, die er je gesehen hatte. Manche Leute trugen sogar Atemmasken. Die Käsefabrik kam ihm erneut in den Sinn und der Blick über den Ozean. Was für ein Unterschied zu dem verbrannten Narbengewebe der unendlich scheinenden Ölfelder und ihren gruseligen Pumpen. Vielleicht sollte er tatsächlich über das Angebot auf der Bohrinsel nachdenken. Als er das Tierheim erreichte und mit Twister zum Eingangstor ging, bemerkte er die hübschen Einfamilienhäuser auf der gegenüberliegenden Seite. Zwei davon waren mit gelbem Flatterband abgesperrt und wirkten verlassen. Warnschilder wiesen darauf hin, die Grundstücke nicht zu betreten, da unter den Häusern Gas aus einer defekten Leitung gesickert war.
Was für eine Stadt!
Bevor er den Klingelknopf am Tor drückte, blickte er hinunter auf Twister, der abwartend zu ihm aufsah.

Eywa erwachte und spürte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Das lenkte die heutige Laune doch gleich in die richtige Richtung. Sie tastete mit den Fingerspitzen über ihre Wangen, spürte die Wärme und es fühlte sich an, als könnte sie so die Sonnenstrahlen berühren. Der Duft der Kornfelder drang durch das geöffnete Fenster in ihre Nase und als sie die Hand hob, spürte sie den leichten Wind, der den Vorhang sanft bewegte.
Eywa liebte ihren Onkel Mike und ihre Tante Tessa dafür, dass sie ihr ein Leben auf ihrer Ranch ermöglichten. Nirgends fühlte sie sich wohler und besser aufgehoben als hier, im Kreise der Menschen, die sie akzeptierten, wie sie war. Sie besaß diese kleine Hütte, etwas abseits vom Haupthaus, in der auch ihr Pianino stand. So konnte sie niemanden mit ihren Übungen nerven und spielen, wann immer ihr danach war. Wohlig streckte sie ihre Glieder und atmete tief ein. Der Sommer war einfach herrlich, er duftete himmlisch nach Getreide, Heu und Wildblumen. Wenn nur die Verpflichtungen im Leben nicht wären, dann würde sie noch Stunden unter dem Fenster in der Sonne liegen und den leichten Wind genießen.
Sie gab sich einen Ruck und setzte sich auf, doch so ganz war ihr Körper noch nicht mit ihrer Motivation im Einklang. Eywa musste herzlich gähnen und war nahe dran, sich rückwärts wieder ins Kissen fallen zu lassen. Ihr Pflichtgefühl und vor allem ihre knappe Kasse verhinderten das verlockende Vorhaben, also stand sie auf und ging unter die Dusche. Innerhalb der Wohnung verzichtete sie auf ihren Stock, auch wenn sie dann und wann noch immer gegen die Tischkante lief, oder sich den Zeh stieß. Das verbuchte sie unter Trottelei und war sich sicher, auch sehende Menschen waren ab und an mal trottelig. In ihrem Leben musste leider alles seine Ordnung haben. Wenn die Dinge nicht immer genau dort waren, wo sie hingehörten, fand sie sie nur schwer, oder gar nicht wieder. Vor allem ihre Schlüssel! Die waren offenbar prädestiniert dafür, verlegt zu werden. Darum hatte ihrer einen Anhänger und wenn sie pfiff, antwortete er.
In einer knappen Stunde hatte sie die erste Klavierstunde mit einer neuen jungen Schülerin und sie freute sich sehr darauf. Es würde ihre Haushaltskasse ein wenig aufbessern. Mutter und Töchterchen hatten sie aufgesucht und so, wie Eywa heraushören konnte, war Misses Coffman von dem musikalischen Talent ihrer Jüngsten überzeugt. Das Mädchen dagegen hatte kaum ein Wort gesprochen, darum würde sie heute zunächst versuchen mit kleinen und lustigen Spielchen das Eis zu brechen. Meist verhielten Kinder sich lockerer, sobald die Eltern nicht mehr anwesend waren und dann würde sie herausfinden, ob das musikalische Talent tatsächlich vorhanden, oder der Ehrgeiz der Eltern größer war.
Gerade als sie sich abtrocknete, läutete das Telefon.
„Eywa Green“, meldete sie sich.
„Hier spricht Misses Coffman.“
Nanu, dachte Eywa und hörte am Klang heraus, dass sie etwas bedrückte.
„Hallo Misses Coffman, gibt es ein Problem?“
„Nun ja“, druckste sie herum. „Ich muss die Stunde leider absagen.“
Ein Ziehen ging durch Eywas Magengegend. Nicht schon wieder!
„Fühlt sich Harriet nicht wohl? Ist sie krank?“ Eywa kannte die Antwort längst. Sie war allerdings gespannt darauf, ob Misses Coffman ehrlich genug war.
„Vielleicht ist Klavierspielen doch nichts für sie. Ich werde selbstverständlich für den Ausfall aufkommen.“
„Sparen Sie Ihr Geld, wenn Sie mir dafür den wahren Grund nennen.“
Die Frau räusperte sich. „Es ist mir äußerst unangenehm, aber Harriet hat Angst vor Ihnen. Bitte seien Sie nicht böse, sie ist ja noch ein Kind.“
„Sie hat Angst?“
„Sie hat gefragt, ob das ansteckend sei und sie auch blind werden würde. Oh Gott, Miss Green, es tut mir so leid, aber Sie wollten es wissen.“
Das war mal eine ganz neue Variante. Sie hatte ja bereits einiges erlebt, aber das toppte definitiv alles.
„Machen Sie sich nichts daraus. Ich verstehe das.“
„Was soll ich tun? Sie hat angefangen zu weinen und sagte, Sie hätten immer an ihr vorbeigesehen, das fand sie unheimlich.“
Eywa beendete höflich das Gespräch, nachdem sie versichert hatte, dass es ihr rein gar nichts ausmachte.
„Es sind halt Kinder“, hatte Misses Coffman noch entschuldigend hinzugefügt.
„Ja, es sind halt Kinder“, hatte sie so gefasst wie möglich wiederholt, doch es waren die Eltern, die ihren Kindern beibringen mussten, dass Menschen mit Handicap keine Aussätzigen mit ansteckenden Krankheiten waren. Es lag an den Eltern, ihnen vorzuleben, wie man miteinander umging. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Hand derart in ihr Handtuch verkrampft hatte, dass sie ihre Faust nur unter Schmerzen wieder öffnen konnte.
Sie setzte sich auf den Toilettendeckel und brauchte eine ganze Weile, um das zu verdauen. Ansteckend! Sie atmete tief durch und beschloss, sich davon nicht den Tag verderben zu lassen. Eywa wuschelte mit dem Handtuch durch ihre Haare, nahm ihr Farberkennungsgerät, das immer neben dem Schrank auf dem Regal lag, und suchte ihre Kleidung aus. Nach diesem Schlag in die Magengrube konnte nur ein Ausritt helfen. Auf einem Pferderücken durch die Gegend zu reiten, machte Kopf und Seele wieder frei. Sie nahm Jeans und Stiefel aus dem Schrank, zog sie über, nahm ihren Blindenstock und ging hinüber zum Stall. Dort begegnete sie Benny, der sie wie immer höflich begrüßte. Er war einer der Jugendlichen, die schon früh auf sich selbst gestellt, mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Auf der Ranch ihres Onkels bekamen diese Kinder vom Gericht eine zweite Chance. Sie mussten sich bewähren und lernten Verantwortung zu übernehmen. Auf der Ranch spürten sie die Obhut einer Gemeinschaft, lernten für sich und andere einzustehen, übernahmen Pflichten und bekamen Grenzen aufgezeigt. Das war nicht immer einfach, oft gab es Rückschläge, doch die Arbeit ihres Onkels verdiente höchsten Respekt. Für ihn waren diese jungen Menschen ein Produkt einer kranken Gesellschaft und „Einer muss ihnen verdammt nochmal helfen“, pflegte er zu sagen. Dafür liebte Eywa ihn umso mehr.
Sie wechselte ein paar Worte mit Benny und er half ihr, ihre Stute zu satteln. Da der Junge sie hinausführte, konnte sie bereits im Stall aufsitzen. Wenn sie allein war, konnte sie nur auf der umzäunten Weide reiten, aber die war riesig und es dauerte eine kleine Ewigkeit, sie zu umrunden. Ihr Onkel hatte Cinnamon mit Hilfe eines Freundes zu einem Behindertenpferd ausgebildet. Die Stute kannte ihre Aufgaben und lief stets brav entlang des Zauns, bis sie wieder am Tor angekommen waren. Dort blieb sie stehen und schnaubte sogar manchmal kurz. Dieses wunderbare Pferd gab Eywa für ein paar Momente das Gefühl zurück, ganz normal zu sein. Sich tragen lassen, das sanfte Schaukeln genießen, eins zu sein mit dem Lebewesen unter ihr und der Natur. Da fühlte sie sich schon nach wenigen Minuten um vieles besser. Alle Harriets und Misses Coffmans der Welt konnten sie mal gern haben.
Als die Stute sich kurz schüttelte und Eywa zur Sicherheit nach dem Sattelhorn griff, um nicht herunterzufallen, fuhr ein Stich durch ihr lädiertes Handgelenk. Sie umfasste es mit der anderen Hand und ertastete, dass es sogar noch ein wenig geschwollen war. Sie dachte an diesen jungen Mann, der so nett geklungen hatte. Seine Stimme war ihr unter die Haut gegangen. So sanft und leise. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt gewesen, nicht einfach laut hinausposaunt. Er hatte eine wohltuende Ruhe verströmt und selbstbewusst gewirkt. Offenbar kein typischer Draufgänger, wie die meisten Männer, die ihr aus Tillamook bekannt waren. Sie hatte Empfindungen für ihn gehabt, die sie nicht erklären konnte. Er hatte eine ganz spezielle Wirkung und etwas Besonderes ausgestrahlt. Das hatte sie noch nie in dieser Intensität gespürt.
July hatte gut reden, wenn sie sagte, dass sie sich endlich verlieben sollte. Eywa hatte nicht die Möglichkeit, jemanden umwerfend zu finden, weil er so hinreißende Augen, eine tolle Figur oder schöne Haare hatte. All die visuellen Eindrücke, durch die sich Menschen ineinander verliebten, fehlten ihr. Es musste sich schon jemand intensiver mit ihr befassen, sie ansprechen, sich ernsthaft für sie interessieren. Doch das tat leider niemand. Die meisten scheuten sich, mit ihr zu reden oder gar mit ihr zu flirten und es war ihnen nicht zu verdenken. Niemand wollte eine blinde Frau. Vielleicht dachten die Männer, es wäre eine zu große Belastung, dabei kam sie sehr gut damit klar. Allerdings war Tillamook auch nicht unbedingt mit Junggesellen im heiratsfähigen Alter gepflastert.
Cinnamon furzte plötzlich dermaßen laut in ihre Gedanken, dass Eywa vor Lachen fast vom Sattel fiel.
„Genau!“, rief sie laut und klopfte ihren seidigen Hals. „Scheiß drauf!“
Kapitel 3
Alte Schrecken,
die ihre Zähne blecken.
Sind zum Sprung bereit,
niemals bist du befreit.
Lauf nur fort,
an jeden Ort.
Sie kommen dich holen,
haben deine Seele gestohlen.
Leons Körper fühlte sich an, als hätte keiner seiner Muskeln mehr genug Kraft für die kleinste Bewegung. Er schaffte es nicht einmal, die Augenlider zu heben, so fix und fertig war er. Sein Rücken schmerzte und er war todmüde, obwohl er bereits einige Stunden geschlafen hatte. Und in dieser Sekunde, als sein volles Bewusstsein und seine Erinnerung zurückkehrten, musste er lächeln und sein Lächeln wurde breiter, als er den Ozean roch, die Wellen rauschen hörte, und was noch besser war – als jemand in diesem Moment seine Hand leckte.
Leon öffnete die Augen und sah Twister neben sich auf der Ladefläche seines Trucks sitzen. Er wedelte verhalten mit dem Schwanz und ließ es zu, dass er über seinen Kopf streichelte.
Als die Frau vom Tierheim Twister eine Schlaufe um den Hals gelegt und mit ihm davongegangen war, hatte er sich fest vorgenommen gehabt, nicht zurückschauen, doch er hatte es nicht fertig gebracht und als er sich für einen letzten Abschiedsblick umgesehen hatte, hatte auch Twister sich zu ihm gedreht. Ein letzter Blick aus traurigen Augen hatte ihn tief getroffen und alles, was er in ihnen hatte lesen können, war: Du Idiot!
Und Twister hatte recht. Er war ein Idiot. Sein ganzes Leben hatte er bereits oberflächlich und ohne jegliche Bindung zu irgendwem verbracht. Glücklicher war er dadurch nicht geworden. Im Gegenteil. Er befand sich in einer Art Blase und konnte weder vor noch zurück. Er hatte sich vorgemacht, dass der Hund es nur besser haben konnte als bei ihm, auch wenn es in einem Tierheim war. Doch wie sehr er sich irrte, hatte er an Twisters Reaktion gemerkt, nachdem er der Frau nachgelaufen war und ihn wieder an sich genommen hatte. Als wenn er eine dunkle Ahnung gehabt hatte, was ihm beinahe geblüht hätte, denn als sie zurück zum Auto gingen, war Twister freudig vorweg gehüpft, hatte schwanzwedelnd gewartet, bis Leon ihm die Tür öffnete und sich dann auf seinem Lieblingsplatz eingerollt. Als Leon ebenfalls eingestiegen war, hatte der Hund ihm einen Blick zugeworfen, als wollte er sagen: „Tu das nie wieder.“