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»Guten Tag! Sind Sie auch so aufgeregt wie ich? Dieser Zug erklimmt gleich einen Berg von über tausend Metern Höhe und das ohne Zahnradtechnik. Bei uns an der Nordsee ist alles platt, selbst die Sprache, ha ha. Fahren Sie zum ersten Mal da hinauf?« Neugierig war er also auch noch. Konversation war aber gerade das, was Mader im Augenblick nicht gebrauchen konnte. Er wollte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen.
»Ja«, antwortete er kurz angebunden und drehte seinen ganzen Oberkörper demonstrativ in Richtung Fenster. Sein Nacken war immer noch steif und schmerzte bei jeder Bewegung. Die norddeutsche Nervensäge seufzte, schien aber zumindest über Anstand zu verfügen und hielt die Klappe. Der Mann widmete sich seinem Reiseführer. Manchmal hilft ein Wink mit dem Zaunpfahl eben doch.
Ein Pfiff ertönte, der Zug fuhr ruckelnd los. Eine monströse Dampfwolke verhüllte den Bahnsteig, ließ die Welt da draußen für einen Moment verschwinden. Der Zug rumpelte über eine Weiche, tuckerte, vorbei an einem Zirkuszelt und Betriebsanlagen der Bahn, durch das malerische Städtchen hinaus aufs Land, eine grauweiße Fahne hinter sich herziehend.
Die Natur war im Tal gerade dabei, sich ihr schönstes Kleid überzustreifen. Frisches Grün bildete einen wunderbaren Kontrast zum dunkleren Nadelwald soweit das Auge reichte und in den Gärten blühten Obstbäume. Droben am Endbahnhof würde das ganz anders aussehen. Hie und da hatte auch hier die Forstwirtschaft hässliche Narben in den Märchenwald geschlagen, doch im Großen und Ganzen schien die Natur im Harzgebirge noch intakt zu sein. Pittoreske Häuser flogen vorbei.
Mit jedem Meter, den der Zug sich Richtung Gipfel schraubte, schienen die Wolken dunkler, die feinen Nebelschwaden dichter zu werden. Noch erlaubten sie flüchtige Blicke über angrenzende Hügelketten, jedenfalls da, wo der Wald sich lichtete. Es gab vier kurze Aufenthalte an den Bahnhöfen Hasserode, Steinerne Renne und Drei Annen Hohne. Anschließend gelangte der Zug nach Schierke, wo er eine Viertelstunde auf die Weiterfahrt wartete. Hier oben war ganz schön Betrieb, gleich mehrere Dampfzüge und Triebwagen mussten sich die eingleisige Strecke teilen. Überall lauerten Fotografen, um die blechernen Relikte aus einer anderen Zeit im Bild festzuhalten.
Die Lok setzte schnaufend zum Endspurt an, mühte sich die letzten Anhöhen hoch. Es wurde zunehmend schwieriger, die Dampfwolken der Eisenbahn von den wabernden Nebelschwaden zu unterscheiden, man konnte nicht mehr viel von der Umgebung erkennen. Die Vegetation neben der Strecke veränderte sich zusehends; sie glich hier oben eher derjenigen in den Höhenlagen der Alpen. Keine Spur mehr von Frühlingserwachen.
Ein weiterer Zug dampfte vor dem Erreichen des Bahnhofes in umgekehrter Fahrtrichtung vorbei; die etwas größere Lok zog sechs Waggons in Cremeweiß und Weinrot, von denen einer ein buntes Graffito mit der Aufschrift ›Faust‹ trug. Eindeutig ein Tribut an Goethe, der sich hier oben gerne aufgehalten hatte, wie er sich vage aus dem Schulunterricht erinnerte.
Maders innere Anspannung stieg direkt proportional zu den Höhenmetern, gipfelte in nervöser Unruhe. Gleich sollte er sein Ziel erreicht haben. Aber was würde ihn hier erwarten?
*
Brocken, stand schlicht und unverschnörkelt auf dem Schild am tristen, dunklen Steingebäude. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen an. Kurz darauf stand Mader zwischen plaudernden, noch orientierungslos wirkenden Touristen auf dem Bahnsteig.
Gerichtsmediziner Müller zog eine Mütze über seine Bowlingkugel mit Ohren, tippte ihm von hinten auf die Schulter.
»Kommen Sie, ich weiß wo wir hinmüssen.«
Mader setzte sich in Bewegung, folgte den drei anderen Ermittlern. Schemenhaft tauchte ein Turm aus der grauen Nebelsuppe auf, dazu ein paar flachere Gebäude. Aber für die Bebauung des steinübersäten Plateaus hatte Mader momentan keinen Blick. Sein innerer Fokus richtete sich ausschließlich auf berufliche Fakten, die er gleich zu sehen bekommen sollte.
Ihm platzte fast der Kragen, als er den Menschenauflauf gewahrte, der sich um den mutmaßlichen Tatort gruppierte. Die vier Männer vom Schierker Bauhof waren zwar dageblieben und taten ihr Möglichstes, konnten sich aber mehr schlecht als recht gegen die Schaulustigen durchsetzen.
Unter Verwendung beider Ellbogen bahnte sich Mader einen Weg durch die lästigen Gaffer und stieg behände über ein kniehohes Holzgeländer, das den moosigen Bodenbewuchs vermutlich vor dem Zertrampeln schützen sollte. Auf dem unwirtlichen Plateau schienen sich bei jedem Wetter massenhaft Besucher zu tummeln, was ihn ziemlich erstaunte.
Einer von der Spusi zog das unvermeidliche Plastikband aus der Jackentasche und machte sich hektisch daran, endlich eine offizielle Absperrung anzubringen.
»Hier gibt es nichts mehr zu sehen, bitte halten Sie Abstand!«, brüllte der Kommissar in die Menge. Anschließend konnte er die letzten Meter bis zur blutigen Bescherung auf dem Hexenaltar antreten, deren Anblick ihm in der kommenden Nacht den Schlaf rauben sollte. Es gab Horrorszenarien, an die man sich als Polizeibeamter selbst nach vielen Dienstjahren noch nicht gewöhnt hatte. Und dies war eines davon.
Die natürliche Steinformation sah aus, als habe ein Riese mit voller Absicht brettflache Felsen aufeinandergetürmt. Am oberen Ende lagen zwei der Platten nebeneinander, bildeten eine leichte Schräge. Auf der Nahtstelle lag ein splitternackter Frauenkörper aufgebahrt, oder vielmehr ein Torso mit unversehrtem Kopf. Verkrustetes Blut verklebte die hellblonden langen Haare, die, wie ein seidener Fächer ausgebreitet, einen Kontrast zum dunkleren Granit des Felsens bildeten. Das Opfer mochte Mitte vierzig gewesen sein, der Leib war schlank und zierlich.
Arme und Beine fehlten. Der Täter musste den Körper gleich hier an Ort und Stelle zerteilt haben. Hierauf ließ das viele Blut schließen, das rundum von den Felsschichten des Hexenaltars wie dunkelrote Tränen heruntergelaufen und schließlich, unten am Fuße der Formation, in den mit niedrigem Gras bewachsenen Boden gesickert war.
Hoffentlich ist sie schon tot gewesen, als er oder sie ihr das angetan hat. Ansonsten muss das arme Ding unbeschreibliche Qualen erlitten haben …
»So eine Schweinerei! Dies ist das Werk eines Wahnsinnigen. Hat man die Arme und Beine der Frau gefunden?«, wollte Mader von einem der Zeugen vom städtischen Bauhof wissen. Der nickte stumm, zeigte seitlich am Hexenaltar vorbei in den Nebel. So käsig wie der junge Mann aussah, hatte ihn der Fund wohl ziemlich mitgenommen.
Mader schoss zunächst mehrere Fotos vom Tatort, dann folgte er gemessenen Schrittes der angegebenen Richtung. Bereits nach wenigen Metern blieb er verdutzt stehen, kratzte sich am Kopf. Hier musste ein Psychopath der Sonderklasse am Werk gewesen sein, kein Zweifel.
Wenigstens können wir in diesem Fall gleich nach einem Mörder suchen, brauchen uns nicht mit der Frage aufzuhalten, ob es sich womöglich um Selbstmord gehandelt haben könnte, dachte der Kommissar ironisch.
Sexuelle Motive sind nicht auszuschließen, die komplette Kleidung fehlt
… aber vielleicht hat er sich so auch bloß mit dem Zerteilen leichter getan, sinnierte der erfahrene Beamte. Die spätere Obduktion würde sicher Informationen dazu erbringen.
»Müller, sobald Sie da vorne fertig sind, kommen Sie bitte zu mir herüber. Mit diesen Teilen hier dürfte unser Opfer zu vervollständigen sein. Aber Vorsicht, damit Sie nirgends hineintreten!«, rief Mader dem Gerichtsmediziner durch den Nebel zu.
Auf einem relativ ebenen Stück der Wiese hinter dem Hexenaltar standen zehn große Plastikschüsseln im Kreis, von der Sorte, wie man sie zum Waschen von Hand, oder im Garten bei der Beerenernte verwendet. Metallischer Blutgeruch lag in der Luft, erzeugte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Zum Glück hatte er noch nicht gefrühstückt.
Genau in der Mitte dieser akkuraten Anordnung aus identischen Schüsseln war wiederum ein Steinkreis von ungefähr einem Meter Durchmesser angelegt, welcher, aufgrund der allzu symmetrischen Abstände zwischen den Steinen, nicht natürlichen Ursprungs zu sein schien. Schwarz verkohlte Äste legten die Vermutung nahe, dass hier jemand vor kurzem ein kleines Lagerfeuer angezündet hatte.
Aber ist sowas hier überhaupt erlaubt, hätte das nicht anderen Besuchern der Walpurgisfeierlichkeiten auffallen müssen? Was ist mit dem Wirt des Brockenhotels, der war doch sicher die gesamte Zeit vor Ort?
Vielleicht kursieren im Internet Fotos aus dieser Nacht, in den sozialen Netzwerken oder auf You Tube. Heutzutage findet sich doch jeder Blödsinn im Netz, was für polizeiliche Ermittlungen gar nicht so übel ist. Falls meine Leute bei ihren Recherchen nachher fündig werden sollten, sähe man die genauen Wetterverhältnisse und womöglich hat jemand sogar zufällig das Leuchten des Feuerscheins aufgenommen.
Mader ging kopfschüttelnd in die Hocke, schnupperte wie ein Spürhund. Falls ihn nicht alles täuschte, hatte das Feuer tatsächlich erst in der vergangenen Nacht gebrannt. Zwar fühlte sich der Boden darunter nicht mehr warm an, doch das war bei diesen Temperaturen und dem rauen Wind, der unablässig übers Plateau fegte, kein Wunder.
Die Schüsseln beherbergten blutige Klumpen, dazu die Hände und Füße des Opfers. Die vier Gliedmaßen der bedauernswerten Toten schienen demnach nicht etwa ordentlich tranchiert, sondern dilettantisch auseinandergesägt worden zu sein, vermutlich in großer Eile. Es fanden sich keine glatten Schnittkanten.
Mal abwarten, ob das Müller genauso sieht. Ein Metzger oder Chirurg scheint unser gestörter Killer also schon mal nicht zu sein, grübelte Mader und fotografierte das ekelerregende Szenario, wie üblich, von sämtlichen Seiten gleich mehrfach.
Die beiden Kerle von der Spurensicherung waren noch eifrig beim Torso zugange, sie packten soeben einen zerbrochenen Reisigbesen ein. Den hatte Mader vorhin im Vorübergehen zwar liegen sehen, jedoch noch nicht bewusst mit dem Tatort in Verbindung gebracht.
Jetzt aber dämmerte ihm, dass der Mörder wohl ein Meister der Inszenierung sein musste. Er hatte ganz bewusst eine Kulisse aufgebaut, das Opfer hingebungsvoll in Szene gesetzt. Aus welchen Motiven heraus oder zu welchem Zweck, das mussten sie nun in akribischer Kleinarbeit herausfinden. Dies hier sah wie eine Art krankes Abendmahl aus und die Zahl elf schien dabei eine tragende Rolle zu spielen.
Zehn Schüsseln und dazu der Torso – das machte summa summarum elf … damit schieden religiöse Motive vermutlich aus. Sonst hätten es zwölf Teile sein müssen. Aber sicher konnte man bei Psychopathen halt auch nie sein, vorschnelle Schlussfolgerungen verboten sich grundsätzlich. Vielleicht hatte dieser Wahnsinnige sich in seiner Erregung nur verzählt.
Hatte es mehrere Mittäter gegeben, ließ sich die Anzahl der Schüsseln vielleicht auf diese Weise erklären? Doch war es wirklich denkbar, dass sich sage und schreibe elf Personen an diesem Verbrechen beteiligt hatten?
Eine Sekte, Teufelsjünger … was weiß ich, welche Gestörten hier meinten, in der Nacht zum ersten Mai eine Frau opfern zu müssen … ich werde die Kollegen fragen müssen, ob sie hier in der Gegend schon mit Kulthandlungen von Satanisten zu tun hatten. Das ist der Nachteil, wenn man als Zugereister keine Ahnung von der hiesigen Volksseele hat.
Und welche Rolle spielte der kaputte Besen? Sein Gehirn weigerte sich, das Naheliegende in Erwägung zu ziehen. Eine beim Fliegen abgestürzte Hexe, die von ihren skrupellosen Artgenossinnen verspeist wird … eine solchermaßen alberne Idee schien ihm selbst für die kranke Fantasie eines oder mehrerer Psychopathen überzogen zu sein.
Kommissar Mader unterdrückte aufkommende Übelkeit, entfernte sich ein Stück weit vom blutigen Menschenfrikassee. Er wollte sich in der näheren Umgebung nach den Klamotten des Opfers umsehen, denn schließlich war die Frau in dieser Kälte sicher nicht unbekleidet hierhergekommen, bevor sie auf ihren Mörder getroffen war.
Er fand nichts dergleichen, obwohl er sein Suchgebiet immer mehr ausweitete. Der Irre musste die Kleidung mitgenommen und woanders entsorgt, oder als Trophäe behalten haben – was dann doch wieder für einen Einzeltäter gesprochen hätte. Bei dieser gestörten Sorte Mensch musste man mit allem rechnen.
Mader stieß, einige Meter vom Tatort entfernt, unverhofft auf eine verwitterte Schautafel aus Holz, die den Touristen die Sehenswürdigkeiten des Brockenplateaus erläutern sollte. Genauer gesagt, wäre er im Nebel fast dagegen geprallt. Er studierte die Aufschrift:
Hier im Bereich der Teufelskanzel und des Hexenaltars verbrachte Goethes Dr. Faust die Walpurgisnacht. Die Walpurgisnacht ist die Nacht zum 1. Mai, in der Hexen ganz Deutschlands den Winter vertreiben, indem sie mit ihren Reisigbesen den letzten Schnee vom Brocken fegen.
Nun ja, diese Hexe würde jedenfalls nie wieder irgendwo fegen. Aber die Symbolhaftigkeit der Tatumstände konnte man kaum übersehen. Ein direkter Bezug zur Walpurgisnacht schien Mader nach alledem mit hinreichender Sicherheit zu bestehen. Diese Erkenntnis machte die Sache allerdings nicht einfacher.
Er las weiter, auf der Tafel fand sich nämlich auch ein Reim:
Die Hexen zu dem Blocksberg ziehn, die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün, dort sammelt sich der wilde Hauf, Herr Urian sitzt oben auf.
Herr Urian? Wer, zum Teufel, war Herr Urian? Er würde später eine Menge an Informationen aus dem Internet googeln müssen, um bei der ersten Dienstbesprechung nicht gleich als völliger Depp dazustehen. Zudem musste er schleunigst eine Sonderkommission ins Leben rufen, um schnelle Fahndungserfolge vorweisen zu können.
Um sich die Reaktionen der Presse auf die blutige Brockensensation vorzustellen, brauchte es nur wenig Vorstellungsvermögen. Dieser höchst mysteriöse Fall würde zweifellos bundesweit Beachtung finden, was natürlich ihn und seine Leute noch zusätzlich unter Erfolgsdruck setzte. Eine zügige und lückenlose Aufklärung dieses außergewöhnlich abscheulichen Verbrechens tat not, keine Frage.
An diesem Fall würde sich seine weitere Karriere entscheiden, das war Mader sonnenklar. Dieser Punkt war für sein Ego nicht minder von Bedeutung, er konnte als ehrgeizig gelten und wollte nicht vor einem Haufen verschworener Provinzler kapitulieren. Er war damals aus purem Idealismus zur Polizei gegangen – und der wollte, nein, musste auch heute noch unverändert befriedigt werden. Ein Bernd Mader war eben keineswegs der Typ Polizist, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte.
Katastrophe oder goldene Chance zur Bewährung im Revierkommissariat Wernigerode? Bislang wusste Mader noch nicht, wie er diesen ersten und zugleich sehr komplexen Mordfall in seiner neuen Wahlheimat einschätzen sollte.
Eine seiner Befürchtungen hatte sich damit jedenfalls erledigt. Er würde in dieser beschaulichen Ecke Deutschlands keine ruhige Kugel schieben und sich langweilen müssen, wie seine Dresdner Kollegen grinsend prophezeit hatten.
*
2. Mai 2016
Das Revierkommissariat Wernigerode lag im Sonnenschein, nur ein paar harmlose Schönwetterwolken schoben sich wie eine Schafherde über den blassblauen Himmel. Auf dem Nicolaiplatz tummelten sich rund um den Göbelbrunnen, den eine riesige Steinkugel zierte, schon am frühen Vormittag eine Menge Leute. Vermutlich hatten viele Arbeitnehmer frei genommen und den Feiertag Christi Himmelfahrt dazu genutzt, sich in dieser Woche einen Urlaubstag einzusparen.
Die Temperaturen sollten heute über fünfzehn Grad hinaus klettern, und so rüstete sich die angrenzende Gastronomie für sonnenhungrige Gäste, indem die Außentische eilig abgewischt und für das Mittagsgeschäft einladend hergerichtet wurden. Eine flinke Bedienung verteilte gerade cremefarbene Sitzpolster auf den hellbraunen Korbstühlen.
Bernd Mader konnte die Frühlingsidylle nur durch sein Bürofenster betrachten. An Urlaub brauchte er wegen des Brockenmordes nicht im Traum zu denken. Dabei hätte er den für seine Renovierungsarbeiten benötigt und sich das Städtchen Wernigerode gerne etwas näher angeschaut. Auf der Fensterbank lag ein Farbprospekt, den das Revier im vergangenen Jahr anlässlich eines Jubiläums zum Tag der offenen Tür hatte drucken lassen. Das Dienstgebäude war auf der Titelseite abgebildet und auf Seite zwei gab es Erläuterungen für auswärtige Besucher:
Mit ihren rund dreiunddreißigtausend Einwohnern hat die Stadt Wernigerode eine überschaubare Größe, bietet aber dennoch Vielfalt. Die zahlreichen Fachwerkhäuser verleihen dem Stadtkern einen historischen Anstrich und es gibt sogar ein neugotisches Märchenschloss zu bestaunen. Es thront markant über dem Stadtbild und ist schon aus der Ferne gut zu erkennen. Durch die günstige Lage auf der Regenschattenseite des Harzes ist die Stadt begünstigt; es fällt verhältnismäßig wenig Regen und gelegentlich profitiert sie von Föhnwetterlagen, ähnlich dem Voralpenland.
Das heutige Revierkommissariat befindet sich in einem Gebäudekomplex auf dem Gelände des ehemaligen Nicolaihospitals, das beim großen Stadtbrand 1851 vernichtet worden war. Das denkmalgeschützte, dreigeschossige Hauptgebäude wurde an seiner Stelle im klassizistischen Baustil mit einfachem, funktionalem Fachwerk errichtet.
Bis zum Jahr 1873 hatte sich direkt davor noch die Nicolaikirche befunden, die aber komplett abgerissen wurde. Noch heute sind deren einstige Grundrisse im Pflaster des heutigen Nicolaiplatzes zu erkennen.
»Stimmt, von außen sieht die Dienststelle gut aus. Aber innen ähneln sich wahrscheinlich alle Polizeibehörden. Kaltes Neonlicht, unmoderne Büromöbel … ich wollte, man würde für die Sicherheit der Bürger ein wenig mehr Steuergelder locker machen. Finanzminister Schäuble soll sich seine heilige ›schwarze
Null‹ sonst wohin stecken«, brummte Kommissar Mader. Momentan weilte er alleine im Zimmer und in solchen Momenten verfiel er oft in sarkastische Selbstgespräche.
Er riss sich aus seinen negativ angefärbten Gedankengängen, trat vom Fenster zurück und griff missmutig nach seiner frisch angelegten Fallakte, die bis dato lediglich einen Bericht und ein paar Fotos enthielt. In fünf Minuten musste er sich im Besprechungsraum einfinden und sich über die ersten Ermittlungsergebnisse der Spurensicherung aufklären lassen.
Bei dieser Gelegenheit konnte er auch gleich die Sonderkommission ins Leben rufen. Er würde einige ausgewählte Beamte ausschließlich auf den mysteriösen Brockenmord ansetzen und sie von ihren übrigen Pflichten befreien, damit sie sich ungestört darauf konzentrieren konnten. In Dresden war sowas gang und gäbe, meistens mit effektiven Ergebnissen gesegnet gewesen.
Sein Vorgesetzter Walter Remmler hatte zwar bei der Berichterstattung heute Morgen die Stirn ob dieses Ansinnens gerunzelt, aber er hatte ihn von der Notwendigkeit überzeugen können. Jener Chef würde bei der Besprechung höchstpersönlich anwesend sein; vermutlich wollte er sich ein schärferes Bild von seinem Neuzugang aus der Großstadt machen. Das sorgte bei Mader im Vorfeld für eine gewisse Anspannung.
Er musste jetzt los. Die stark profilierten Sohlen seiner Boots erzeugten auf dem lindgrünen Linoleumboden Knarzgeräusche, als er über den Flur zum Besprechungsraum eilte. Er trat nichtsahnend ein – und viele Köpfe fuhren herum, Augenpaare hefteten sich, unverhohlen neugierig, auf ihn. Dem Anschein nach waren alle anderen Teilnehmer bereits vollzählig eingetroffen.
Scheinen durch die Bank von der überpünktlichen Sorte zu sein, meine werten Kolleginnen und Kollegen. Muss ich mir unbedingt merken.
Er postierte sich vor der großen Magnettafel, die die gesamte Rückseite des Raumes einnahm und begann unverzüglich damit, über die bislang bekannten Fakten zu referieren. Er pinnte Tatortfotos auf die noch schneeweiße Fläche und schrieb routiniert ein paar Bemerkungen darunter. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch die Reihen seiner Kollegen, als die Fotos mit den Schüsseln dran waren.
»Nach diesen ersten Erkenntnissen müssen wir davon ausgehen, dass der Täter … sagen wir mal, psychisch nicht gesund ist. Der Sinn seiner sorgfältigen Inszenierung verschließt sich mir bislang noch, aber die Darstellung weist auf einen Zusammenhang mit der Walpurgisnacht hin.«
Gemurmel machte sich breit, manch einer tuschelte mit seinem Sitznachbarn. Auf Maders Stirn bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.
»Leute, bitte! Wenn es zum Fall etwas zu sagen gibt, würde ich es ebenfalls gerne erfahren. Über das heutige Mittagessen in der Kantine können Sie sich auch nach der Besprechung unterhalten«, rügte er, nur halb im Scherz.
Eine der eifrigsten Schwätzerinnen meldete sich zu Wort, eine junge Frau von vielleicht Anfang dreißig. Sie besaß eine süße Himmelfahrtsnase und braune Kulleraugen, trug ihr langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden.
»Ja?«
»Marit Schmidbauer, ich bin Ihnen bislang noch nicht vorgestellt worden. Wir … ähm … haben uns gefragt, ob Sie mit den Sagen und Legenden dieser Gegend hier schon genauer vertraut sind. Weil Sie doch nicht aus dem Harz stammen … «
»Sie meinen diesen Hexenblödsinn? Ich habe davon gehört. Ob der zerbrochene Besen überhaupt zum Tatort gehört oder einfach nur von einer Feiernden dorthin geworfen wurde, müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete Mader in abfälligem Tonfall.
Die Schmidbauer verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Dann wissen Sie also auch, was es, jedenfalls der Sage nach, mit den Schüsseln auf sich hat?«, fragte sie trotzig.
»Nein, aber Sie anscheinend. Dann mal raus mit der Sprache«, sagte Mader, jetzt etwas freundlicher. Er durfte es sich mit der Belegschaft keinesfalls gleich zu Beginn verderben.
»Also gut. Ich gebe eine Geschichte wieder, die bei uns in der Region bereits jedes Kleinkind kennt. Klar, es ist nur eine Sage, aber sie scheint auf frappierende Weise zu unserem Tatortszenario zu passen. Eventuell könnte das ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass der Täter aus der näheren Umgebung des Brockens, zumindest aber aus dem Harz stammt. Also:
Jährlich findet in der letzten Nacht des Aprils eine schauerliche Zusammenkunft auf dem Brocken statt. Der Teufel höchstpersönlich lädt seine Hexenund Zauberdiener zum wichtigsten Hexensabbat ein. Daher nennt man den Berg auch Blocksberg.
Sobald Mitternacht vorbei ist, kommen von allen Himmelsrichtungen die teuflischen Bundesgenossen auf ihren Untieren, Mistforken und Besen herbeigeritten. Sind alle beisammen, tanzt die Gesellschaft unter lautem Jauchzen bis zur Erschöpfung um ein loderndes Feuer. Anschließend begibt sich der Regent der Unterwelt zur Teufelskanzel, von wo er über Gott, dessen Lehre und die Engel lästert. Danach lädt er die Anwesenden zu einem teuflischen Mahl, das auf dem Hexenaltar zubereitet wird.
Das Mahl besteht nur aus einer einzigen, scheußlichen Zutat. Jene Hexe, welche zuletzt den Brocken erreicht, muss wegen sträflicher Vernachlässigung der teuflischen Etikette nach einer letzten glühenden Umarmung mit dem Höllenfürsten sterben. Dann wird ihr in Stücke gerissener Körper in die Hauptschüsseln des Festessens verteilt und den Gästen vorgesetzt.
Sobald sich der Morgen ankündigt, bricht die Schar der Hexen überhastet in alle Windrichtungen auf. Die Menschen, die rund um den Brocken wohnen, schützen sich in diesen Tagen, indem sie drei Kreuze an Haustüren und Ställen anbringen. Die bösen Geister sollen so auf ihrem Hinund Rückflug von Zaubereien an Unschuldigen abgehalten werden.«
Anstelle einer Äußerung drehte sich der Kommissar zur Magnettafel um, schrieb die Worte Hexensabbat: zerbrochener Besen, 11 Portionen Hexenfleisch neben die Tatortfotos. Um die Zahl 11 zog er schwungvoll einen roten Kreis. Danach wandte er sich wieder Marit Schmidbauer zu.
»Ich muss sagen, Ihre Theorie klingt insoweit logisch. Aber wieso ausgerechnet elf? Ist diese Zahl mythologisch belegt?«