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Kein Zweifel, es war so herum besser.
Nach dem Dienst fuhr Marit kurz nach Hause, aß einen Bissen und duschte. Dann machte sie sich auf den Weg zu Bernds renoviertem Bauernhaus, das im vergangenen Sommer beinahe einem verheerenden Waldbrand zum Opfer gefallen wäre.
Ihr liefen immer noch eiskalte Schauder den Rücken herunter, wenn sie an dieses absichtlich gelegte Großfeuer dachte. Seither fuhr sie sehr ungern durch größere Waldgebiete. Mutige Polizistin hin oder her, auch sie kannte diffuse Ängste.
Marit bog auf den Hof ein und die Außenbeleuchtung flammte auf. Felix wartete schon am Fenster, rannte hektisch in Richtung Haustür, als sie aufsperrte. Er machte vor Freude einen veritablen Katzenbuckel, rieb sich an ihren Unterschenkeln und hinterließ auf ihrer schwarzen Jeanshose einen breiten Streifen roter Haare. Nachher würde wieder die Fusselrolle zu Ehren kommen.
Während der Kater sich schmatzend seine Wampe vollschlug, setzte sie sich auf einen Küchenstuhl, kramte ihr Handy aus der Handtasche und drehte ein kurzes Video. Das schickte sie über WhatsApp an Bernd.
Wo mag er gerade sein, was wird er machen? Vielleicht sitzt er mit ihr in einem schicken Restaurant … lieber nicht drüber nachdenken, Marit. Das zieht dich nur noch weiter runter.
Kaum hatte der Stubentiger seine Mahlzeit beendet und leckte sich genüsslich die Reste vom Schnäuzchen, nahm sie ihn auf den linken Arm, drückte ihn liebevoll an ihre Brust und versuchte mit der freien Hand, ein Foto von sich und dem Kater zu schießen. Was gar nicht so einfach war, denn dieser verfressene Kerl wog über sechs Kilo und hielt nicht still. Es brauchte mehrere Anläufe, bis sie auch dieses Bild nach Frankreich absenden konnte.
Vielleicht ist es unfair von mir, mich auf diese Weise in Erinnerung zu bringen. Kann sein, dass Julia sich darüber aufregt und ihm die Hölle heiß macht. Ach ja, was soll’s. Wenn ich sowas bleiben lassen soll, muss er es mir halt schreiben. Bislang kamen jedenfalls nur Smileys und lächelnde Katzen-Emojis zurück. Ich weiß, dass er sich über die Fotos freut.
*
01. Dezember 2018, Paris
Nach knapp einer Woche hatte Bernd Mader längst die Schnauze voll. Es fiel immer schwerer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, nur um Julia den Spaß nicht zu verderben.
Für heute stand ein Besuch der Champs-Élysées an. Sie wollte einen Einkaufsbummel unternehmen, den Triumphbogen mit-samt Kreisverkehr anschauen und den Élysée-Palast bewundern.
Am liebsten hätte er verweigert und wäre im Wellnessbereich des Hotels zurückgeblieben. Seine Frau verfügte zwar nach wie vor über ein eigenes Bankkonto, dessen Füllstand er nicht einmal kannte, und neigte auch keineswegs zu Kaufräuschen – aber mit ihr shoppen zu gehen, nervte trotzdem gewaltig.
Nach seiner Erfahrung rannte sie in unzählige Geschäfte, sah sich Unmengen von Klamotten an und hatte an allem was auszusetzen. Einmal stimmte die Stoffqualität nicht, dann wieder das Preis-Leistungs-Verhältnis. Wenn ausnahmsweise mal alles passte und er schon vor Erleichterung aufatmen wollte, kaufte sie meistens doch nichts, verließ seufzend das Ladengeschäft. Mit der Begründung, dass sie ja eigentlich gar nichts Neues brauche. Was für eine öde Zeitverschwendung.
Verstehe einer die Frauen! In diesem Punkt sind sie wohl alle gleich.
Er wusste, weshalb er sie zu Hause nicht mehr in die Innenstadt begleitete, jedes Mal eine andere Ausrede aus dem Hut zauberte, bis sie es aufgab und mit einer Kollegin abschwirrte. Hier jedoch konnte er ihr nicht entkommen. Also ergab er sich klaglos in sein selbstverschuldetes Schicksal und ging neben ihr her, interesselos registrierend, wie sie sich behände von einem Kleiderständer zum nächsten bewegte.
Sie erinnerte ihn hierbei an eine emsige Biene, die in irrwitzigen Flugbahnen über eine duftende Blumenwiese fliegt und sich in dieser Pracht kaum entscheiden kann, wo sie zuerst landen soll.
In einer schicken Boutique namens Madame et Monsieur erstand sie eine Bluse, endlich. Er atmete auf. Während sie an der Kasse stand und bezahlte, sah er gelangweilt aus dem Schaufenster.
Sein allzeit wachsames Polizistenauge gewahrte mehrere Personengrüppchen. Die zumeist jungen Leute waren allesamt mit gelben Warnwesten uniformiert, standen palavernd auf dem Trottoir. Sie gehörten offenkundig zu jener organisierten Bürgerbewegung, welche in der französischen Hauptstadt an den vergangenen beiden Samstagen gegen die Regierung Macron protestiert hatte. Dabei war es zu teilweise heftigen Krawallen gekommen, besonders hier, an der Champs-Élysées.
Heute schien sich also Ähnliches anzubahnen.
Nach ihrer Einkaufstour wollte Julia erst einmal in die Jardins des Champs-Élysées zurück, um dort Fotos zu schießen. Bernd war damit zufrieden, Hauptsache sie schleppte ihn in keine exklusiven Klamottenläden mehr. Ihm war längst nach einem starken Kaffee zumute. Oder nach Harakiri, dachte er sarkastisch.
Sie besichtigten das vergleichsweise recht unscheinbare Palais Borghèse sowie den Amtssitz des französischen Präsidenten und bummelten am historischen Springbrunnen Fontaine de la Grille du Coq vorbei, beschlossen dann ihren kleinen Abstecher über die Avenue de Marigny.
Als sie wieder auf die sonnenbeschienene Champs-Élysées hinaustraten, um ihr weiter in Richtung des Triumphbogens zu folgen, wimmelte es dort mittlerweile vor Gelbwesten.
Parolen skandierend, pilgerten sie die breite Prachtstraße entlang. Erste Böller und Bengalos wurden gezündet.
Bernd beunruhigte der Anblick.
»Wir haben uns offenbar einen schlechten Tag ausgesucht, und bis zum Triumphbogen wäre es bestimmt noch ein viertelstündiger Fußmarsch. Diese Straße ist verdammt lang. Hier scheint gerade ein Mob zu entstehen, sowas kann schnell eskalieren. Wollen wir uns nicht lieber ein Taxi nehmen und gleich zurück ins Hotel fahren?«
»Kommt gar nicht infrage. Jetzt sind wir schon mal hier. Die Leute wollen doch nur friedlich demonstrieren. Ich glaube nicht, dass vor dem Abend irgendetwas Schlimmes passiert, schließlich sieht die Weltöffentlichkeit zu«, winkte Julia ab.
Bernd hatte keine Lust auf Diskussionen, und so gab er klein bei. Doch auf sein Käffchen würde er keinesfalls verzichten.
»Okay, meinetwegen. Aber dann schlagen wir uns für wenigstens zehn Minuten in die Nespresso-Boutique dort vorne, damit ich meinen Koffeinspiegel auf ein erträgliches Level kriege.«
Julia grinste, hakte sich bei ihm unter.
»Geht natürlich klar, du unverbesserlicher Koffein-Junkie. Es wird sowieso Zeit, dass du auf diesem Trip an was Interesse zeigst – und wenn es bloß ein stinknormaler Kaffeeladen ist.«
Während also Bernd, halbwegs glücklich, kurz darauf an seiner Espresso-Tasse nippte, verdichtete sich draußen die Menschenmasse weiter. Der Krach wurde schier ohrenbetäubend.
Schon röhrte ein gepanzertes Wasserwerfer-Fahrzeug vorbei und schwarz uniformierte Polizisten mit Schutzschilden rückten an. Er stürzte den Rest des Heißgetränks auf Ex hinunter.
»Komm, es wird allmählich Zeit. Schieß deine Fotos und dann nichts wie weg hier!«, kommandierte er ungeduldig.
Im Dauerlauf legte das Ehepaar Mader die letzten zweihundert Meter bis zum steinernen Siegesmonument zurück. Eine Horde Polizisten war gerade dabei, das edle Bauwerk mit Absperrgittern notdürftig vor dem heranstürmenden Vandalenheer zu schützen. Graffiti waren unerwünscht, gingen schwer zu entfernen.
Es gelang Julia gerade noch so, ihre heißbegehrten Handyfotos zu bekommen, bevor auch sie ausgesperrt wurde. Bernd trat derweil nervös von einem Fuß auf den anderen. Sein ungutes Gefühl in der Magengrube verstärkte sich sekündlich.
Und dann brach der helle Wahnsinn los. Ehe die Maders sich versahen, wurden sie von der skandierenden Menge mitgerissen. Man hatte offenbar zum Sturm auf den Triumphbogen geblasen. Julia, die fast gestürzt war, verlor zeitweise ihren Gatten aus den Augen. Plötzlich waberten Rauchwolken über den Platz. In einer der Zufahrtsstraßen brannten Barrikaden lichterloh. Sie beobachtete irritiert, wie eine Gruppe junger Kerle Pflastersteine aus dem Trottoir pulte, um sie in Richtung Polizei zu schmeißen.
Sie geriet auf einmal in blinde Panik, bekam Platzangst. Wieder war Bernd aus ihrem Blickfeld verschwunden, ausgerechnet jetzt. Wie aus dem Nichts traf sie zudem ein harter Wasserstrahl, was sie erneut straucheln ließ. Verzweifelt versuchte sie, sich auf die andere Seite des Platzes durchzuschlagen. Ihre Augen brannten wie Feuer und tränten. Vermutlich hatte irgendwer mit Pfefferspray hantiert.
Auf einmal stand sie unvermittelt frei, war nur noch unbeteiligte Beobachterin. Hier, am Rande des Geschehens, konnte sie erstmal durchatmen, die Augen mit einem Taschentuch abtupfen und blinzelnd Ausschau nach Bernd halten. Hoffentlich hatte ihn diese Stampede aus Anarchisten nicht totgetrampelt. Der Tränenfilm auf ihrer Netzhaut verhinderte eine klare Sicht. Alles lag wie im dichten Nebel vor ihr, sie erkannte keine Gesichter.
Julia hatte mit diffusen Angstzuständen zu kämpfen.
»Da bist du ja! Mensch, ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, rief Bernd und marschierte im Stechschritt auf sie zu. Er hielt die Plastiktüte mit der Bluse in der Hand, die sie sich vorhin erst gekauft hatte. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie sie im Getümmel hatte fallen lassen.
Julias Augen waren rot gerändert und tränten wie verrückt. Sie fühlte sich noch außerstande, ihm zu antworten.
»Lass mal sehen … oh, da hat wohl das Tränengas zugeschlagen. Dass du aber auch überall vorne dabei sein musst. Komm, wir gehen erstmal aus der Schusslinie und holen Mineralwasser, damit wir das ausspülen können. Und danach ab ins Hotel, für heute reicht es mir«, schlug Bernd vor. Er griff nach ihrer Hand.
»Okay«, erwiderte Julia kleinlaut und ließ sich bereitwillig von ihm wegzerren. Er wiederum achtete sorgsam darauf, sämtliche Brennpunkte weiträumig zu umgehen, lief mit ihr Zickzack, bis sie in einer Seitenstraße ein kleines Straßencafé erreichten.
Das Auswaschen der entzündeten Augen half nicht allzu viel, also suchten sie noch eine Apotheke auf und besorgten ihr beruhigende Spezialtropfen. Allmählich wurde es besser. Immer noch wirkte Julia jedoch ängstlich, fast wie ein verschrecktes Reh. So verletzlich kannte er seine selbstbewusste Frau überhaupt nicht. Die turbulenten Ereignisse der letzten Zeit hatten ihr robustes Nervenkostüm anscheinend stärker angegriffen als ihm bewusst gewesen war.
»Es ist vorüber, du musst dich nicht mehr aufregen. Du warst nur mitten in den miesesten Pulk geraten. Sowas kann im Unterbewusstsein Urängste erzeugen, und davon können wir Polizisten auch ein Lied singen. Die Enge, Rauch, Feuer, lautes Geschrei … das unüberschaubare Szenario erinnert einen in solchen Situationen an eine Art Kriegszustand – und das Unterbewusstsein reagiert entsprechend darauf.
Aber guck doch mal hin, Julia. Deine Einschätzung vorhin war durchaus richtig. Die meisten Leute wollen tatsächlich nur friedlich demonstrieren, von ein paar gewaltbereiten Hitzköpfen abgesehen«, wollte er sie besänftigen.
Sie verschränkte missmutig die Arme vor der Brust.
»Mir scheißegal, was die machen und wie sie das rechtfertigen. Ich will nur noch hier weg, und das so schnell wie möglich.«
»Okay … also los!«
Einige Querstraßen von der Avenue entfernt erwischten sie endlich ein freies Taxi. Sie hielten es an und ließen sich keuchend in den Fond sinken.
»Ich hätte nie gedacht, dass es in dieser angeblich kultivierten Weltstadt solche asozialen, ja kriminellen Elemente gibt. Was für eine unzivilisierte Horde von Barbaren. Dieses brutale Gerangel hatte mit einer Demonstration beim besten Willen nichts zu tun, mit demokratischer Meinungsäußerung schon gar nicht. Das waren einfach nur verkappte Hooligans«, schimpfte Julia, nachdem sie wieder halbwegs zu Atem gelangt war.
Bernd zog indigniert die linke Augenbraue hoch.
»Siehst du, nun bist du auch in der Realität angekommen. Von wegen ›Stadt der Liebe‹ … es gibt hier etliche Orte, an die man gar nicht erst gehen sollte, erst recht nicht nachts.
Der Park Bois de Boulogne verwandelt sich dann beispielsweise in einen einzigen illegalen Puff. Oder nimm zum Beispiel das berüchtigte Département Saint-Denis, durch das wir auf dem Weg vom Flughafen zur Innenstadt gefahren sind. Dieses heruntergekommene Viertel hat die höchste Kriminalitätsrate der Stadt.
Es gibt etliche U-Bahnstationen, die selbst tagsüber brandgefährlich sind – sowie natürlich das für alle Nicht-Muslime kaum zugängliche Einwandererquartier La Goutte d’Or, eine der übelsten No-go-Areas von Paris, wo rund um die Uhr sogar Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag bereitstehen. Die Zustände dort werden von den Politikern gerne totgeschwiegen.
In all diesen ›Banlieues‹ bekommen selbst die Polizisten Angst, wagen sich kaum hinein. Es gibt in der Stadt also nicht nur Licht, sondern auch sehr viele Schattenseiten und Subkulturen.
Die Gelbwestenproteste sind vergleichsweise harmlos, solange man nicht mittendrin landet. Aber du musstest ja unbedingt den verdammten Triumphbogen von allen Seiten anschauen, anstatt dort rechtzeitig zu verschwinden, wie ich es zu unserer Sicherheit angeregt hatte.«
In Julias grünen Augen stand blankes Unverständnis zu lesen. Sie sah ihren Gatten vorwurfsvoll, wenn nicht sogar ein bisschen zornig, von der Seite an.
»So, du hattest all das vorher schon gewusst. Und warum hast du diese Reise trotzdem für uns gebucht? In jedem Urlaub passiert einem was anderes, wenn man mit dir unterwegs ist.«
Bernd erwiderte vorsichtshalber nichts, war aber heilfroh, dass der Spuk in wenigen Tagen vorüber sein würde. Jetzt freute er sich geradezu auf die Rückkehr in sein Polizeirevier.
*
05. Dezember 2018, Revierkommissariat Wernigerode
Mit gemischten Gefühlen betrat Hauptkommissar Mader seine Dienststelle. Einerseits war er froh, Paris und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten hinter sich gelassen zu haben, doch andererseits fühlte er sich immer noch gestresst, war jetzt erst so richtig urlaubsreif. Der heftige Streit zwischen ihm und Julia am vergangenen Abend hatte ihm den Rest gegeben.
Eine strahlende Marit empfing ihn auf dem Flur, stellte sich ihm in den Weg. Sie schien ihm aufgelauert zu haben.
»Hey, da bist du ja wieder, Chef! Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet.« Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihn herzlich zu umarmen, seinen Körper an sich zu pressen.
Er blieb stehen, blickte skeptisch drein, stöhnte.
»Soso … dann gibt es also einen neuen Mordfall, oder?«
»Ja, das bedauerlicherweise auch. Aber ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Persönlich, so als Mensch, meine ich«, beharrte seine um elf Jahre jüngere Kollegin.
»Geht mir umgekehrt genauso, aber dazu erzähle ich dir später mehr. Ein neuer Mordfall … und ich dachte, der Harz sei eine ruhige, ereignislose Ecke in Deutschland. Dabei sterben hier die Leute anscheinend wie Fliegen.«
»In letzter Zeit haben wir in Sachsen-Anhalt tatsächlich keine sehr gute Statistik. Die Zahl der Gewaltdelikte ist in den letzten drei Jahren gestiegen, während die Wohnungseinbrüche allmählich wieder zurückgehen. Die allerletzten Stückchen ›heile Welt‹ verschwinden, nun ist das Verbrechen auch hier heimisch. Und ich kann deswegen meinen Weihnachtsurlaub knicken. Eigentlich hätte ich in die Sonne fliegen wollen.«
»Nimm‘s leicht, Marit. Die sogenannten Urlaubsfreuden werden ohnehin überbewertet, das kann ich dir aus jüngster Erfahrung verraten«, brummte Mader ironisch.
Ihre braunen Rehaugen versprühten Fragezeichen.
»War es denn nicht schön in Paris?«
»Jein, würde ich sagen. Die Stadt an sich ist ja ganz nett, aber ich war voll im Romantik-Stress. Julia war richtiggehend hyperaktiv, brachte mich mit all dem Sightseeing manchmal bis an die Grenzen meiner Geduld. Ich hasse lange Warteschlangen – und nicht nur die. Mir kann Paris gestohlen bleiben.
Unsere jeweiligen Traumvorstellungen von einer gelungenen Urlaubsreise gingen jedenfalls weit auseinander. Erholen konnte ich mich dabei kaum. Am Ende war dann auch sie unzufrieden, meinte, ich würde ihr mit meinem Starrsinn alles vermiesen und das Verbrechen wie ein Magnet anziehen. Ich erzähle dir später, wie sie darauf kam. Wie ist das eigentlich mit dir, warst du selber schon in Paris?«
»Nee. Und ich will da auch nie hin. Für Städtetrips habe ich wenig übrig und für Frankreich erst recht nicht. Die Sprache ist schrecklich. Ich gehe viel lieber wandern, mache Ausflüge oder möchte am Strand relaxen. Was nun ja dummerweise auch nicht passieren wird.«
Mader legte den Kopf schief, sah sie gespielt vorwurfsvoll an.
»Ah so. Na toll, Madame. Wieso hattest du mir dann zu dieser Reise geraten und behauptet, wenn Julia Paris nicht gefiele, wäre sie keine echte Frau? Bist du etwa keine?«
Marit zuckte mit den Achseln, grinste schelmisch.
»Jedenfalls kein typisches Weibchen. Ich bin Polizistin, da hat man grundsätzlich einen nüchternen Blick auf die Dinge.«
»Auch wieder wahr. Also gut, zurück zum Boden der mörderischen Tatsachen. Was haben wir diesmal?«
»Weibliche Leiche, Alter siebenundzwanzig, gefunden von der Nachbarin im Bett ihrer Mietwohnung. Todeszeitpunkt lag laut Gerichtsmediziner zwischen drei und vier Uhr morgens, genauer kann man es nicht bestimmen. Sie war beim Fund bis zum Hals zugedeckt gewesen. Das Bettzeug könnte also nach dem Tod ihre Körperwärme noch eine Weile gespeichert haben.
Ihre Hände und Füße waren mit stabilen Kabelbindern gefesselt und sie ist, höchstwahrscheinlich mit einem weiteren derselben Sorte, direkt am Fundort erdrosselt worden.
Die Todesursache steht bereits fest. Der Schlag auf den Kopf, der ihr vorher zugefügt wurde, war jedenfalls nicht tödlich.«
»Einbruchspuren?«
»Allerdings, die Wohnungstür ist mit einem Brecheisen aufgehebelt worden. Aber von ihren Nachbarn will keiner was mitbekommen haben. Teils arbeiten diese in Nachtschicht, waren zur Tatzeit nicht zu Hause, teils sind es ältere Leute, die womöglich schlecht hören. Wir müssen diese Leute natürlich nochmal vorladen. Zum Glück gibt es im Haus nur sechs Parteien.«
»Ergo deutet bislang nichts auf eine Beziehungstat hin. Familienmitglieder, Freunde und Bekannte hätten dort klingeln, beziehungsweise aufsperren können, um hineinzugelangen.«
»Richtig. Dasselbe hatte ich mir auch schon überlegt.«
»Ist sie vergewaltigt, ausgeraubt oder misshandelt worden?«
»Nichts von alledem. Es gibt keine Hautpartikel des Täters unter den Fingernägeln. Fremde Fingerabdrücke haben die Kollegen erstaunlicherweise auch nicht sichern können, lediglich ihre eigenen und die der Nachbarin. Offenbar hatte sie momentan keinen Freund. Im Bad stand lediglich eine einzelne Zahnbürste.
Der Täter oder die Täterin muss sie im Schlaf oder Halbschlaf überrascht haben; wobei die brachiale Kraft, mit der ihr die Kehle zugeschnürt wurde, eher auf einen Mann hindeutet, meint der Rainer Müller. Der Kabelbinder hat sich tief ins Fleisch gegraben.
Was das mutmaßliche Motiv für diesen brutalen Mord angeht, tappen wir noch vollkommen im Dunklen. Es existiert weder eine Lebensversicherung, die einen Begünstigten zur Tat verleitet haben könnte, noch wurde ihr Schmuck, Kreditkarten oder Bargeld entwendet. Davon gab es einiges in der Wohnung. Einen Raubmord kann man somit ausschließen.
Feinde soll sie keine gehabt haben. Diese Anne Gräbner wird durchwegs als nette, hilfsbereite junge Frau beschrieben, die jeder gut leiden mochte. Fragt sich bloß, wieso sie dann überhaupt umgebracht wurde. Vielleicht handelt es sich nur um ein Zufallsopfer und der Täter wurde gestört, ehe er seine eigentliche Absicht durchziehen konnte. Es gibt keine Hinweise darauf, was er in der Wohnung gewollt haben könnte.«
»Mist! Und was hatte die Nachbarin dort verloren?«
»Sie wollte Anne angeblich ein Postpaket vorbeibringen, das sie am Nachmittag vor dem Mord an ihrer Statt angenommen hatte. Um diese Uhrzeit war Anne noch auf ihrer Arbeitsstelle im Behindertenheim gewesen. Sie ist … äh, war dort als Ergotherapeutin angestellt.
Später hatte die Nachbarin selbst das Haus verlassen. Sie arbeitet bei einer Putzkolonne. Deshalb war sie erst am nächsten Tag hinübergegangen, um ihr das Paket zu bringen. Sie sah, dass die Wohnungstür einen Spalt offenstand, ging rufend hinein – und fand zu ihrem Entsetzen kurz darauf die Tote. Angela Pfeiffer hat sofort einen Notruf abgesetzt.«
»Der Täter hatte nicht mal die Tür hinter sich geschlossen? Also wollte er vermutlich erreichen, dass sein Opfer schnell gefunden wird«, sinnierte Mader.
»Oder es war ihm schlichtweg egal«, ergänzte Marit.
»Auch möglich. Schön, dann bring mir bitte die Akte – und ein schönes Käffchen. Ich werde mich grob vorinformieren und mir anschließend selbst ein Bild am Tatort machen.
Um zwei treffen wir uns im Besprechungsraum. Sag nachher allen Kollegen Bescheid, ebenso dem Wolters. Wir haben wieder mal die Ehre, unsere bewährte Soko wiederaufleben zu lassen«, verfügte der Hauptkommissar.
Marit rührte sich nicht von der Stelle, wirkte verlegen.
»Ähm … wie soll ich dir das am besten beibiegen … letzteres wird eher nicht passieren. Der Wolters hat sich bereits entsprechend geäußert. Er hält nichts davon, Ressourcen an einen einzigen Fall zu binden. Am besten sprichst du zuerst selbst mit ihm, bevor du den Vorschlag in versammelter Runde bringst.«
Auf Maders Stirn bildete sich eine markante Falte.
»Dann fängt der also auch schon mit Allüren an? Die müssen wir ihm schleunigst abgewöhnen, ansonsten haben wir bald einen zweiten Remmler im Büro hocken. Ich werde daher lieber nicht vorab mit ihm sprechen, dazu hätte ich auch keinerlei Veranlassung. Vielleicht wird die Besprechung nachher tatsächlich richtig peinlich, aber es fragt sich im Zweifelsfall, für wen. Danke jedenfalls für die Vorwarnung.«
»Okay, Bernd … du bist unser Boss und wirst bestimmt am besten wissen, wie man damit umgeht. Die Mordkommission ist Wolters‘ absolutes Steckenpferd, die polizeiliche Königsdisziplin, wie er es neulich nannte. Ich dachte es wäre besser, du wüsstest das, bevor du dich bei ihm in die Nesseln setzt.«
»Das ist mir bewusst, bitte verstehe mich nicht falsch. Aber es ist doch wahr, oder? Die Vernunft muss bei derartigen Meinungsverschiedenheiten siegen. Da kann es kaum schaden, wenn weitere Leute anwesend sind, die ihren Senf dazugeben. Er wird sich an uns anpassen müssen, nicht etwa umgekehrt. Schließlich können wir mit unserer Methode Erfolge vorweisen. Wir haben mithilfe einer Soko sowohl den Brockopathen als auch diesen mordlustigen Krimischreiberling erwischt, verflixt nochmal!«
Marit nickte achselzuckend und entfernte sich. Bernd würde schon noch mitkriegen, wie sehr sich der Neue zu seinem Nachteil verändert hatte.
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Am frühen Nachmittag …
In Anne Gräbners verlassener Wohnung hing ein unangenehm muffiger Geruch. Zwar hatte es sich um einen unblutigen Mord gehandelt und die Tote war bereits nach wenigen Stunden gefunden worden, aber dennoch glaubte Mader, den charakteristischen Duft nach Tod und Verderben riechen zu können. Vielleicht war diese Wahrnehmung aber auch nur seiner Fantasie geschuldet, die er hier am Tatort zu bemühen hatte.
Sein geschulter Blick registrierte jede Kleinigkeit. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Szenario, fast wie ein Film, den er aus den bereits eruierten Einzelheiten zusammensetzte.
Er sah eine schwarz vermummte Gestalt die unversperrte Wohnungstür aufhebeln, sich hektisch im Treppenhaus nach eventuellen Zeugen umsehen, und vollends in die dunkle Wohnung huschen. Geduckt schlich der Eindringling durch die Diele.
Im Schlafzimmer zur Linken lag eine zugedeckte junge Frau, die ihren Oberkörper leicht von der Matratze anhob. Sie schien sich unsicher zu sein. Hatte sie nun ein merkwürdiges Geräusch an der Wohnungstür gehört oder nur geträumt?