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In diesem Moment sprang der Täter die Frau an. Für sie schien er aus dem Nichts zu kommen. Der immer noch schlaftrunkenen Frau blieb keine Zeit zum Schreien. Sie strampelte und schlug so ziellos wie panisch um sich, während ihr der Täter mit einer Hand den Mund zuhielt.
Er zog ihr sein mitgebrachtes Brecheisen über den Schädel, verursachte damit eine stumpfe Verletzung am Vorderkopf. Sie war bewusstlos. Er fesselte ihr sicherheitshalber Hände und Füße und erwürgte sie danach mit einem Kabelbinder, sodass sie aus ihrer Ohnmacht nie mehr erwachen sollte. Dann deckte er sie zu und huschte auf leisen Sohlen davon. Sein Brecheisen nahm er wieder mit.
Die realitätsnahe Szenerie in Maders Gehirn fiel schlagartig in sich zusammen. Mehr Details kannte er noch nicht. Alles weitere wäre bloße Spekulation gewesen, er aber musste sich an Fakten halten. Rückschlüsse konnte man jedoch schon einige ziehen.
Wahrscheinlich trug er bei der Tat Handschuhe und hatte seine Unterarme mit einem Kleidungsstück bedeckt. Ansonsten hätte man unter Anne Gräbners Fingernägeln Hautpartikel gefunden. Eine Beziehungstat ist eher unwahrscheinlich. Das schätzen die Kollegen völlig richtig ein. Annes Gesicht wurde nämlich nicht mit Kissen oder Ähnlichem verhüllt, was andernfalls höchstwahrscheinlich der Fall gewesen wäre.
Man kennt das aus einschlägigen Fällen. Ein Mörder kann seinem Opfer nach der Tat normalerweise nicht ins Gesicht schauen, wenn er eine emotionale Verbindung zu ihm hat. Ob Liebe oder Hass ist dabei egal. Aber hier war das wohl nicht der Fall. Zumindest die Augen hat er ihr nach der Tat geschlossen, steht im Bericht des Rechtsmediziners.
Da dieser Mörder nichts gestohlen und scheinbar auch keine persönlichen Ressentiments gegen Anne gehabt zu haben scheint, muss es um etwas ganz anderes gegangen sein. Wir haben somit ein Mordmotiv, das nicht so leicht zu durchschauen geht.
Na, mal sehen … vielleicht ergeben sich Hinweise bei den Befragungen aus ihrem Umfeld. Schon seltsam, dass der Täter wirklich gar nichts am Tatort zurückgelassen hat. Kein einziges Haar, das einen DNS-Abgleich erlaubt hätte. Entweder trug er eine Mütze oder er ist Glatzkopf – oder er hat einfach Glück gehabt, sinnierte Mader.
Er zog seine Latex-Handschuhe über und stöberte noch eine Weile planlos in Anne Gräbners Schränken, aber ohne was Signifikantes zu finden. Auf dem Küchentisch stand noch das ungeöffnete Postpaket, das die Nachbarin gebracht hatte. Es stammte von einem Internet-Klamottenversand. Mader zog ab, schließlich musste er rechtzeitig zur Besprechung zurück im Revier sein.
Im Hinterkopf dachte er schon über einen passenden Namen für die Soko nach, die er wiedereinzurichten beabsichtigte. Ihm wollte jedoch nichts Treffliches einfallen und deswegen beschloss er, seine Kollegen nach Vorschlägen zu fragen.
Eine halbe Stunde später postierte er sich vor der großen Magnettafel, auf welche Marit bereits das grässliche Tatortfoto des Opfers gepinnt und die bislang bekannten Daten vermerkt hatte. Alles schien wie gewohnt abzulaufen.
Nahezu zeitgleich trudelten nun seine geschätzten Kollegen Marit Schmidbauer, Steffen Beckert, Fred Jablonski, Verena Kant und ebenso Revierleiter Thomas Wolters ein. In diesem Moment hätte Mader sich in seinem Element so richtig wohlfühlen können, wäre da nicht Marits nebulöse Ankündigung gewesen.
Sie hatte die Lage bedauerlicherweise zutreffend eingeschätzt. Nach dem ersten Briefing ging es um die Einrichtung der Soko – und Mader stieß sofort auf kategorischen Widerstand.
»Kommt keinesfalls infrage. Ich möchte nicht, dass fünf meiner besten Ermittler mit geistigen Scheuklappen durch die Gegend laufen, sich wochenlang nur auf einen einzigen Fall konzentrieren und dafür alles andere stehen und liegen lassen. Dafür sind wir wegen Sparmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte zu unterbesetzt. Nein, meine sehr verehrten Herrschaften, es ist heutzutage Multitasking angesagt.
Es ist ja nicht so, dass dies zurzeit unsere einzige Baustelle wäre. Zum Beispiel ist ein gewisser Rainer Klimroth heute in Deutschland eingetroffen, der ja ebenfalls in Ihre Zuständigkeit fällt, wie Sie sich sicher erinnern werden. Argentinien hat ihn bewundernswert zügig an Deutschland ausgeliefert. Er fährt gerade in die Justizvollzugsanstalt Halle ein, wo er in der Untersuchungshaft zeitnah befragt werden muss.
Schließlich ist unser Fall Feuersbrunst keineswegs abgeschlossen. Uns fehlen noch etliche Zusammenhänge, ohne die wir bei der Staatsanwaltschaft keine Chance auf eine Anklage bekämen. Die Beweislage ist viel zu dünn, weist eklatante Lücken auf. Das BKA ermittelt, wie Sie ebenfalls sehr genau wissen, nur in Richtung der internationalen Konzerne weiter, nicht jedoch in Bezug auf unsere lokalen Korruptionsgenies. Diese geldgierige Bande dürfen wir schon selber dingfest machen.
Klimroths Komplizin Michaela Thomeier konnten wir, abgesehen von der vorsätzlichen Brandstiftung an ihren eigenen Apartments selbstverständlich, nichts Gravierendes nachweisen. Entweder kennt sie das Verbindungsglied zwischen Megastroi, der Hotelkette Living Dreams und ihrem alten Freund Klimroth tatsächlich nicht – oder sie schweigt wie ein Grab. Mal sehen, vielleicht ist unser ehemaliger Baureferent gesprächiger.
Das ist aber immer noch nicht alles. Wir müssen vor Ort ein paar Befragungen für die Kripo Leipzig durchführen. Die Familie eines mutmaßlichen Serienvergewaltigers lebt drüben in Derenburg. Wir haben die Ehre, bei Vernehmungen und Hausdurchsuchungen behilflich zu sein.«
Sein Raubvogelblick fixierte jetzt explizit Mader.
»Tut mir leid. Sie werden sich ein bisschen umstellen müssen. Je weniger Sie sich dagegen sträuben, desto einfacher wird es.«
Der Angesprochene schüttelte den Kopf, wirkte immer noch leicht amüsiert. In diesem Moment hätte er sich nicht eingestehen können, dass Wolters‘ Argumente eingängig klangen.
»Ah ja, und wie stellen Sie sich das in der Praxis vor? Soll jeder von uns in Eigenregie irgendwas ermitteln, und zwar immer nur dann, wenn er glaubt, gerade Zeit zu haben?«, fragte er süffisant.
»Jetzt werden Sie bloß nicht albern! Ich weiß selber, dass die Chance, einen Täter zu erwischen, in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat am größten ist.
Selbstverständlich sollen Sie weiterhin als Team zusammenarbeiten, nur eben viel … flexibler. Mal mit weniger Leuten, mal mit zusätzlichen Beamten, je nach Bedarf und Notwendigkeit. Mader, ich muss mich blind darauf verlassen können, dass Sie diese Umstellung hinkriegen. Verstehen Sie das bitte, auch ich bin gewissen Zwängen unterworfen. Wir müssen einfach in der Lage sein, auf mehreren Hochzeiten zur selben Zeit zu tanzen.
Höchstens in Krimis wird gemütlich ein Fall nach dem anderen abgearbeitet. Die Harzer Schwerverbrecher halten sich bedauerlicherweise nicht an unseren Terminkalender.«
Damit erhob sich der Revierleiter von seinem Stuhl, empfahl sich höflich und verließ eiligen Schrittes den Besprechungsraum. Zurück blieb ein konsterniertes Häuflein Beamter.
»War das sein voller Ernst?«, überlegte Marit laut.
»Ich fürchte ja. Wir müssen uns unbedingt was einfallen lassen. Keine Soko … der hat doch ein Rad ab. Es gibt noch mehr Beamte in dieser Dienststelle, die er mit den ach so dringenden anderen Aufgaben betrauen könnte.
Da will zweifellos jemand das Rad neu erfinden, bloß um sich auf unsere Kosten mit einem individuellen Führungsstil profilieren zu können. So sieht das jedenfalls für mich aus. Vermutlich sind ihm die Vorschusslorbeeren anlässlich seines Dienstantritts zu Kopf gestiegen. In der Zeitung war die Rede von einem jungen, dynamischen Kriminalisten-Talent. Reine Schikane, was er da abzieht«, grummelte Mader angefressen.
Nun erhob sich auch er, löste den Rest der Versammlung auf. Das Gehörte wollte jetzt in der Abgeschiedenheit seines Büros erst einmal verarbeitet werden.
Nach dieser Besprechung setzte sich Thomas Wolters in seinen Chefsessel, starrte für ganze fünf Minuten die Wände an. Er war mit sich selbst uneins, ob sein Vorgehen tatsächlich das richtige gewesen war. Er hatte sich bei den Leuten der Mordkommission soeben keine Freunde gemacht, das war ihm voll bewusst.
Nie hätte er sich bei Übernahme des Postens träumen lassen, welch negative Begleiterscheinungen so eine Revierleiterstelle mit sich brachte.
Zumindest in diesem Punkt hatte sein Amtsvorgänger durchaus Recht behalten. Die Hauptverantwortung für die Sicherheit der Menschen aus dieser Stadt übernehmen zu müssen, drückte stärker als angenommen. Er schlief neuerdings sehr schlecht. Aber ob Remmlers ›wohlmeinende‹ Insider-Tipps zur Personalführung tatsächlich das Gelbe vom Ei waren, blieb noch dahingestellt. Sie schienen ihm ein wenig zu radikal zu sein.
Sie müssen sich in einigen wichtigen Punkten gegen den Willen Ihrer Leute durchsetzen, sich deutlich von allen Kolleginnen und Kollegen abheben und unpopuläre Entscheidungen treffen, auch wenn es schwerfällt. Vermeiden Sie das Duzen. Und vor allem: Seien Sie kein Wendehals, bleiben Sie bei Ihren ursprünglichen Ansichten, solange es irgendwie möglich ist. Sonst spielen die Mitarbeiter Katz und Maus mit Ihnen, versuchen wie Kinder, ihre Grenzen über Diskussionen und offenen Ungehorsam auszutesten.
Polizisten sind naturgemäß fast alle Alphamännchen und -weibchen, das bringt der Job mit sich. Schließlich ist da Durchsetzungsvermögen gefragt. Es würde niemand lange zögern, wenn es darum ginge, Ihnen das Zepter aus der Hand zu reißen. Und wenn das Kind in puncto Respekt erst einmal in den Brunnen gefallen wäre, dann hätten Sie zukünftig einen sehr schweren Stand bei denen. Führen und fordern lautet das Geheimrezept, hallten Remmlers Ermahnungen in seinen Ohren nach.
Und das waren während seiner mehrwöchigen Einarbeitungszeit beileibe nicht die einzigen dieser Art geblieben.
Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Weisheiten auf Mader und Konsorten höchstens bedingt zutrafen. Doch wenn er sich nicht blamieren wollte, musste er dem steinigen Pfad zunächst folgen, den er überstürzt eingeschlagen hatte. Er nahm sich vor, künftig wenigstens ein klein wenig netter zu sein.
Das konnte schließlich nie schaden.
*
Zur selben Zeit in Hauptkommissar Maders Büro …
Viel Zeit zum Grübeln blieb dem Hauptkommissar indes nicht. Fred Jablonski klopfte am Türrahmen, wollte ohne ausdrückliche Einladung hereinhuschen.
»Bitte nicht jetzt, Freddie. Wir reden später drüber. Ich müsste das Ganze erst sacken lassen und mir was überlegen, okay?«
»Ähm … ich will gar keine Nachlese zur Besprechung betreiben. Ich habe vielmehr brisante Infos zu unserem neuen Fall, die womöglich das Tatmotiv ans Licht bringen könnten. Die interessieren dich doch?«
Mader sah skeptisch vom Schreibtisch hoch.
»Wie denn das so schnell? Setz dich hin, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Auch einen Kaffee?«
»Nee danke. Ich bin schon nervös genug. Jetzt im Nachhinein könnte ich mich ohrfeigen, weil ich nicht reagiert habe. Andernfalls könnte die Frau Gräbner womöglich noch leben. Ich wollte die verrückte Geschichte, die du dir gleich anhören wirst, vorhin lieber nicht vor versammelter Mannschaft auspacken. Der Wolters hätte mir sonst vielleicht einen Strick draus gedreht.«
Der hagere Deutschpole wirkte überaus angespannt, als er zu berichten begann. Dem Kollegen war deutlich anzumerken, dass ihn schwerste Schuldgefühle quälten. Offenbar trug er sie seit Tagen in sich, hatte bislang noch niemandem davon erzählt.
»Es müsste in der letzten Dienstwoche von Remmler gewesen sein, kurz vor dessen Ausstandfeier. Da kam der Kollege Kögel bei mir vorbei, hatte eine junge Dame im Schlepptau. Die wollte er mir mitsamt ihrer Story aufs Auge drücken. Sie hieß – und genau das ist mein Punkt – Anne Gräbner.«
Maders Augen weiteten sich.
»Und was wollte sie? War sie bedroht worden?«
»Keineswegs, sonst wäre ich auf diese Sache selbstverständlich angesprungen. Sie hielt ein altes, staubiges Tagebuch mit Textilüberzug fest umklammert. Es hatte angeblich ihrer Oma gehört, welche drei Monate zuvor verstorben war. Anne hatte ihr Haus geerbt und diese persönlichen Aufzeichnungen beim Entrümpeln in einer der Holztruhen gefunden. Und wie es halt so ist, interessierte sie sich brennend für das Tagebuch, nahm es als Bettlektüre mit nach Hause. Omas alte Familiengeheimnisse … hätte wohl jeder von uns so gemacht.«
»Garantiert«, nickte Mader. Er hatte selbst ausgiebig auf dem Dachboden des Bauernhauses in Elend gestöbert, nachdem er es von seiner Großmutter geerbt hatte. Gefunden hatte er hierbei allerdings nur kaputte Möbel und einen Stapel vergilbter Fotos aus der DDR-Zeit.
»Anne war außerordentlich an der Familiengeschichte interessiert, auch weil sie beide Eltern früh verloren hatte. Doch schon nach einigen Seiten musste sie feststellen, dass ihr der Inhalt des Büchleins den Schlaf raubte. Bei ihren Vorfahren war längst nicht alles eitel Sonnenschein gewesen. Sie hat mir ein paar der krassesten Passagen daraus vorgelesen.
Eines kann ich dir sagen. Wer da allen Ernstes glaubt, in den Fünfzigern sei die Welt hier auf dem Land noch einigermaßen in Ordnung gewesen, der irrt. Die Zwillingsschwester ihrer Großmutter hatte sich einiges Schlimme von der Seele geschrieben.
Ursula Gräbner beschrieb detailliert, wie sie ständig beobachtet und angetascht worden war. Der Typ, den sie nur als ›Er‹ bezeichnete, hatte sie regelrecht bedrängt, ihr auch damit gedroht, dass alle Leute im Ort erfahren würden, was für eine liederliche Person sie sei, wenn sie ihn weiterhin nicht ranlasse. In den prüden Fünfzigern wäre das wohl einer Katastrophe gleichgekommen.
Der Kerl, den man heute als Stalker bezeichnen würde, wurde derart zudringlich, dass sie nach Jahren der Verfolgung sogar über Selbstmord nachdachte. Das alles hat sie einzig und allein ihrer Schwester anvertraut. Und dem allwissenden Tagebuch natürlich.
Ich habe auf die Schnelle natürlich nicht alles durchlesen können, aber Anne ist felsenfest davon ausgegangen, dass dieser obskure Typ die Schwester ihrer Großmutter eines furchtbaren Tages sogar vergewaltigt hat.
Und jetzt halt dich fest, Bernd: Ursula war eines Tages spurlos verschwunden. Die enttäuschten Eltern gingen davon aus, dass sie mit einem Mann ins Ausland durchgebrannt ist. Zur selben Zeit hielt sich nämlich ein attraktiver italienischer Taschenspieler im Dorf auf, der sämtlichen Mädchen die Köpfe verdrehte. Und der verschwand am selben Tag, Hals über Kopf.
Diese Passagen hat wohl Violetta später hinzugefügt, man erkannte das an der abweichenden Handschrift. Sie führte Ursulas Tagebuch quasi fort. Aber zurück zu ihrem Verschwinden, welches zeitlich mit dem Abgang des Taugenichtses zusammenfiel.
Zufall oder nicht?
Violetta, die ihre Zwillingsschwester extrem gut kannte, hat niemals glauben können, dass sie sie, ihre engste Vertraute, ohne jeglichen Abschied verlassen hätte können. Die beiden waren recht dick miteinander, so wie die meisten eineiigen Zwillingsschwestern. Annes Oma verdächtigte von Anfang an diesen Unbekannten aus dem Tagebuch, glaubte, dass er ihr was Furchtbares angetan hatte. Sie erzählte wohl auch ihrer Familie davon, flehte ihren Vater an, mit dem Verdacht zur Polizei zu gehen.
Aber das wurde alles nur als einfältiges Gerede abgetan. Ursula wurde nie als vermisst gemeldet. Im Gegenteil, man hat Violetta unter Androhung von Hausarrest sogar einen Maulkorb verpasst. Ursula wiederum hatte zuvor aus lauter Scham geschwiegen, den Eltern niemals von den übergriffigen Avancen dieses schmierigen Kerls erzählt.«
»Wie alt waren die Mädchen damals?«
»Siebzehn, also minderjährig.«
»Und nirgends stand der Name des Verdächtigen?«
»Nein, leider. Anne hat eigens danach gesucht. Scheinbar hatte Violetta Angst vor Repressalien. Irgendwo erwähnte sie, dass sie ihr Tagebuch gleich nach den täglichen Einträgen unter der Matratze verstecken müsse, damit niemand es finden könne und womöglich das Schloss aufbräche. Ihr Vater war scheinbar ziemlich dominant, ein echter Despot. In den frühen Fünfzigern hatte die Emanzipation ja noch nicht stattgefunden. Damals behielten Familien ihre Töchter fest im Griff, dies wurde auch im Tagebuch in etlichen Texten deutlich. Der unbefleckte Ruf ging über alles.«
Mader überlegte einen Augenblick. Er setzte im Hinterkopf die Puzzleteile zusammen, die Jablonski ihm gerade serviert hatte. Sie waren zweifellos richtungsweisend.
»Ist schon logisch. Und ausgerechnet Anne Gräbner wollte die Versäumnisse nachholen und nach Jahrzehnten aufklären lassen, ob Ursula damals tatsächlich einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen war. Deswegen ist sie hergekommen.
Das Ganze finde ich allerdings, gelinde gesagt, ausgesprochen seltsam. Diese Violetta hätte schließlich gleich nach Eintritt ihrer Volljährigkeit selbst eine Anzeige erstatten können. Wieso hat sie es niemals getan? Hat sie doch nicht, oder?«
Jablonski seufzte betreten.
»Sie war offenbar bedroht worden, nur so macht es Sinn. Aber nicht nur sie. Anne Gräbner ist nämlich in erster Linie zur Polizei gekommen, weil sie sich seit dieser unseligen Erbschaft beobachtet, manchmal sogar verfolgt fühlte.
Außerdem hatte tags zuvor irgendein Fremder über Facebook Kontakt mit ihr aufgenommen. Der wollte ihr unbedingt Omas vergammeltes Häuschen abkaufen. Deshalb war Anne die Sache richtig unheimlich geworden. Sie hat den Verkauf mit höflichen Worten abgelehnt – und ekelhafte Kommentare dafür geerntet. Wenn es sich noch ein schönes Haus in einer tollen Wohngegend gehandelt hätte … aber das ist wohl nicht der Fall.
Kollege Kögel wusste nicht so recht, was er mit den Informationen anfangen sollte, deshalb hat er die Gräbner zu mir gebracht. Schließlich hatte sie einen Mordverdacht geäußert, auch wenn es sich gegebenenfalls um eine sehr lange zurückliegende Tat handeln hätte müssen.«
Sein Chef schüttelte grinsend den Kopf.
»Ach, ich verstehe. Immer schön die Verantwortung weiterreichen, sobald es möglich erscheint. Apropos … wären wir überhaupt zuständig gewesen, um welches Dorf handelte es sich?«
»Das stand im Tagebuch nirgendwo vermerkt. Natürlich, wenn du in irgendeinem Kaff wohnst und dem Tagebuch täglich über dein Leben erzählst, erwähnst du den Namen nicht extra. Es ist schließlich sonnenklar, welches gemeint ist. Tagebücher sind vom Zweck her nicht für die Augen Dritter bestimmt.«
»Anne wird doch gewusst haben, woher ihre eigene Großmutter stammte«, warf Mader nachdenklich ein.
»Bestimmt. Aber ich habe sie nicht danach gefragt. Sie hatte es eilig, musste zur Arbeit. Ich bat sie, mir das Tagebuch zu überlassen, damit ich mir in Ruhe einen Überblick verschaffen könnte. Das wollte sie keinesfalls tun. Sie drückte es wieder an sich – und ging. Zum Kopieren blieb keine Zeit.
Nach ein paar Tagen rief ich sie dann an und teilte ihr schweren Herzens mit, dass wir die Sache nicht weiterverfolgen werden. Es handle sich um alte Kamellen, um bloße Vermutungen einer alten Frau, die man nicht mehr befragen könne. Außerdem gebe es gar keine Tote und keine ungeklärte Vermisstenanzeige.
Schau mich bitte nicht so missbilligend an, Bernd. Diese Auskunft war nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich fand die Story durchaus interessant genug, um ein paar Ermittlungen anzustellen. Aber ich beging den Kardinalfehler, mit dem Chef zu reden.
Der wies mich an, die Sache augenblicklich fallen zu lassen, sie lohne den Aufwand nicht. Die Gräbner sei sicherlich bloß wegen des Todes ihrer Angehörigen seelisch durch den Wind und bilde sich ein, beobachtet zu werden. Sowas komme bekanntlich vor, wenn man eine Zeit lang wenig schlafe und sich gedanklich mit dem obskuren Totenreich befasse.
Trauerfeiern hinterlassen oft nachhaltige Eindrücke im Unterbewusstsein, ohne dass man es selber mitbekommt, meinte Remmler.
Falls an ihren Befürchtungen doch was dran sei, solle Anne halt den Notruf wählen, wenn es wieder soweit wäre. Für über sechzig Jahre alte Hirngespinste eines einst jungen Dings aus dem letzten Jahrhundert könne man die aktuellen Fälle nicht einfach unbearbeitet liegenlassen. Jedenfalls nicht ohne konkreteren Grund oder eine unmittelbare Gefährdung.
Seine Argumente klangen recht eingängig, auch wenn ich Anne trotzdem gerne geholfen hätte, die Geister der Vergangenheit loszuwerden. Aber ich musste die Füße stillhalten.
Ich hätte mit dieser Angelegenheit natürlich danach noch zu dir gehen können, aber ich wollte dich damals keinesfalls zusätzlich belästigen. Du hattest dich gerade sehr auf deinen wohlverdienten Urlaub in Frankreich gefreut. So akut schien mir Annes Problem nun auch wieder nicht zu sein.«
»Nett von dir, Freddie. Und wahrscheinlich hätte ich dir sogar dasselbe gesagt wie Remmler. Nachdem sie nicht mal jenes Tagebuch rausrücken wollte … dich trifft jedenfalls keine Schuld an ihrem gewaltsamen Tod. Niemand konnte aufgrund dieser vagen Sachlage ahnen, dass Anne Gräbner wenig später ermordet werden könnte. Wer weiß, ob es da überhaupt einen Zusammenhang gibt. Eines ist aber sicher:
Wir brauchen dieses vermaledeite Tagebuch!«
»Genau damit gibt es ein Problem. Wir haben am Tatort nämlich keines gefunden. Das rückt Annes abenteuerliche Geschichte nun doch in ein anderes Licht.«
»Mist! Also los, worauf warten wir – ab in die Karlstraße. Wir müssen in der Wohnung unseres Mordopfers jedes nur denkbare Versteck filzen, auch in Großmutters leerstehendem Häuschen. Du kommst mit, weißt ja zumindest, wie das verschollene Tagebuch ausgesehen hat«, verfügte Mader stöhnend.
»Dann sollten wir vorher beim Nachlassgericht vorbeifahren, um die Adresse der geerbten Liegenschaft herauszukriegen. Die hatte sie mit keiner Silbe erwähnt«, ergänzte Jablonski und setzte sich in Bewegung.
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