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Alle Blicke richteten sich auf den Waldrand. Nur Sekunden später traten die herbeigesehnten Männer fast zeitgleich ins helle Tageslicht, beschirmten ihre Augen mit den Händen. Sie wirkten bei weitem nicht mehr so forsch und mutig wie noch vor zweieinhalb Stunden. Der gesuchte Schafhirte war allerdings nicht unter ihnen.
»Und?«, bohrte die vorlaute Tereza ungeduldig nach. Männer waren ja sowas von maulfaul!
»Nichts. Es sieht danach aus, als wären sie außerhalb des Waldes geblieben. Und bei euch?«
»Spuren gibt es trotz der Regenfälle, sogar jede Menge davon. Niedergetrampeltes Gras, Kot, abgerupfte Kräuter, Brotkrümel
… aber weit und breit kein Hoia, kein Hund und erst recht kein Schaf. Weder lebend noch tot«, antwortete Tereza augenrollend. Die Männer setzten sich ins Gras und wurden mit einer Vesper aus dem mitgebrachten Korb versorgt.
Am späten Nachmittag machte sich die Truppe ergebnislos auf den weiten Nachhauseweg. Mirela musste gestützt werden. Gut fünfundzwanzig Kilometer, die sie über Stock und Stein gewandert waren, steckten den hilfsbereiten Dorfbewohnern in den müden Beinen. Sie mussten die Suche schweren Herzens abbrechen, zu Hause ihre Tiere versorgen.
Tereza sah den wortkargen Männern überdeutlich an, dass sie im Wald auf etwas Unaussprechliches gestoßen sein mussten. Hatten sie womöglich Hoias Leiche gefunden und wollten ihre grausige Neuigkeit nur aus Pietätsgründen noch nicht preisgeben? So unauffällig wie irgend möglich schob sie sich beim Gehen näher an ihren Vater Toma heran.
»Was ist da drin vorgefallen? Mir kannst du es doch sagen!«, gurrte die hübsche Siebzehnjährige mit einem taktischen Augenaufschlag. Der verfehlte seine Wirkung selten, was sie sehr genau wusste. Toma wiederum kannte seine Jüngste. Die würde garantiert nicht locker lassen, bevor sie ihn nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht hatte. So ergab er sich ins Unvermeidliche, blickte sich links und rechts über die Schultern um sicherzustellen, dass sonst niemand zuhörte, und schilderte mit leiser Stimme die Waldbegehung.
»Du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir als Kind von einer kreisrunden Lichtung erzählt habe, auf der zu keiner Jahreszeit jemals Pflanzen wachsen? Diese Stelle wird landläufig Tanzboden des Teufels genannt. Im Winter sieht sie übrigens genauso aus wie jetzt, selbst Schneeflocken meiden sie. Rundherum liegt dann ein Meter Schnee, doch der Kreis bleibt frei.
Wahrscheinlich war noch niemand so dumm, die ebene Fläche zu betreten oder gar näher in Augenschein zu nehmen. Man spürt instinktiv, dass dies ein kapitaler Fehler wäre. Die umstehenden Bäume biegen sich weg, kein Zweig ragt hinein.
Nun, wir sind vorsichtig am Rand dieses unheimlichen Ortes entlang gegangen und haben festgestellt, dass selbst der Wind ihn zu meiden scheint. Nichts rührte sich, man hörte nichts und konnte dort nicht einmal mehr das nasse Gras riechen. Man meint, die Natur halte den Atem an. Und die Lichtverhältnisse passen nicht zur Tageszeit! Obwohl das Sonnenlicht direkt von oben einfallen müsste, wirkt die kahle Stelle düster, was ich mir überhaupt nicht erklären kann.
Wenige Meter weiter fiel Radu dann auf, dass an mehreren Bäumen einzelne Äste verbrannt aussahen und auch so rochen. Dabei kann es in diesem kleinen Wald in letzter Zeit nicht gebrannt haben, denn das hätte man weithin gesehen! Normalerweise fackeln Bäume zudem vollständig nieder, wenn sie einmal Feuer gefangen haben, nicht jeweils nur einzelne Äste, oder? So ähnlich wie die Pappel am Wegrand. Es müsste versengtes Gras zu sehen sein, oder wenigstens Rußspuren … !«
Tereza nickte mit weit aufgerissenen Augen. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, doch sie hielt Wort und wahrte das Geheimnis. Es reichte, dass sie sich durch eigene Schuld nun noch mehr als zuvor ängstigte, aber diese Erfahrung wollte sie den restlichen Frauen nicht auch noch zumuten.
Und tatsächlich, in der folgenden Nacht suchten sie fürchterliche Albträume heim. Schwitzend wälzte sich Tereza kreuz und quer durch ihr Nachtlager. Mehrfach stand sie auf, spähte mit wild pochendem Herzen durch das Fenster ihrer Kammer zur dunklen Silhouette des Waldes hinüber. Glomm dort ein grünliches Licht? Vermutlich nur Einbildung – oder doch nicht?
Das hatte sie nun von ihrer leichtfertigen Neugierde! Dieser verdammte Wald … Tereza nahm sich fest vor, so weit wie möglich vom Schauplatz des Grauens wegzuziehen, sobald sie einen lieben Ehemann gefunden hätte.
In den folgenden Wochen befragten die ratlosen Dorfbewohner jeden, dessen sie habhaft werden konnten, aber durch keines der angrenzenden Dörfer war der Hirte gewandert. Auch der örtliche Polizeiposten fahndete nach dem Verbleib von Hoia Baciu – oder gegebenenfalls seiner Leiche. Vergeblich, der Schäfer war und blieb spurlos verschollen.
Nach einem Jahr wurde für die Polizei ein ungeklärter Vermisstenfall aus der Sache. Für die abergläubischen Einwohner der Dörfer rund um den Wald stand hingegen fest, dass sich die Mächte der Finsternis Hoias bemächtigt hatten und sie ihn niemals wiedersehen würden. Sicher … es kam durchaus vor, dass Personen Verbrechen zum Opfer fielen und man sie beseitigte. Leichname wurden, soweit sie nicht begraben waren, meist von wilden Tieren gefressen. Aber mitsamt einer kompletten Herde? Das war mehr als mysteriös, da mussten einfach Dämonen am Werk gewesen sein – oder gar der Leibhaftige selbst!
Hoias untröstliche Ehefrau Mirela nahm sich vor Einbruch des folgenden Winters das Leben. Sie erhängte sich der Überlieferung nach in einer stürmischen Nacht am Rande des Teufelswaldes.
Valeriu und Radu warnten ihren Kinder und Kindeskinder eindringlich von jenem Waldstück, das Lebewesen spurlos verschwinden ließ. Genau wie die restlichen Bewohner des Landstrichs im Kreis Cluj. Und dennoch kam es vor, dass sich, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, immer wieder törichte Menschen in die Nähe dieses verhexten Ortes wagten. Insbesondere Ausländer trieb die pure Neugierde, welche nicht selten als Forschergeist deklariert wurde, dorthin.
Kapitel 2
Der Nabel des Wahnsinns?
Popeşti/Pfaffendorf, Kreis Cluj, Spätherbst 1954
Das beschauliche Dörfchen Popeşti bestand gerade mal aus fünf bescheidenen Wohnhäusern und einer aus Holz erbauten Kirche, vor welcher ein vergleichsweise riesiges Kruzifix aufgestellt war. Es sollte alle bösen Einflüsse von den Bewohnern fernhalten und das schien auch bitter nötig zu sein.
Im Jahr 1848 hatten sich rumänische Bauern aus dem Landkreis Cluj in der nahen Kleinstadt Luna versammelt, um gegen die Einberufung in die ungarische Revolutionsarmee zu protestieren. Am 12. September desselben Jahres verübte diese Armee, der Geschichtsschreibung nach, unter den Aufständischen ein Massaker. Es forderte dreißig Todesopfer. Unter den Opfern dieser Bluttat war auch ein Bauernsohn aus Popeşti gewesen und seither hielt sich hartnäckig die Mär, dass es in der Gegend spuke.
Aus dieser geschichtlich belegten Begebenheit hatte sich mit der Zeit ein regelrechter Volksglauben entwickelt. Man erzählte sich über Generationen hinweg mit einem gehörigen Schaudern, dass die Seelen der Ermordeten zwischen den Bäumen des nahe gelegenen Baciu-Waldes gefangen seien, dort bis in alle Ewigkeit ruhelos umhergehen müssten. Mit giftgrün schillernden Augen, die aus schwarzen Nebelschwaden leuchteten, machten sie angeblich die Lebenden auf ihre Qual aufmerksam.
Wann immer überlieferte Geschichten lange genug von Mund zu Ohr weitergegeben werden, gelten sie schon nach wenigen Jahrzehnten und Generationen als Legenden. Fakten und subjektive Erinnerungen werden mit zusätzlichen Details angereichert – bis eine in sich stimmige Erzählung entsteht, alle Puzzleteile auf wundersame Weise zusammenzupassen scheinen. Triviale Randereignisse, Theorien und abenteuerliche Schlussfolgerungen von Einzelnen werden mit hinein gewoben, auch wenn sie mit der eigentlichen Story kaum etwas zu tun haben.
Man könnte fast glauben, dass mit jedem Weitergeben ein Stückchen mehr Wahrheit darin enthalten sei, dabei ist eher das Gegenteil der Fall. Speziell das nördliche Rumänien mit seinen schroffen Hügeln, dichten Wäldern und Vampirgeschichten ist von jeher ein Land, in dem solche Legenden nicht nur die Zeiten unbeschadet überdauern, sondern in den Gehirnen quicklebendig bleiben und immer farbiger ausgeschmückt werden. Aus einer Legende kann auf diese Weise Überzeugung, wenn nicht sogar Gewissheit werden.
So geschah es natürlich auch im Falle der ermordeten Bauernschar. Bereits kurz nach diesem furchtbaren Ereignis berichteten nahe Anwohner des Baciu-Waldes von einem unheimlichen Heulen, das vorwiegend des Nachts auftrat. Andere wollten ein diffuses Leuchten wahrgenommen haben. Es strahle zwischen den Bäumen hervor, intensiviere sich und wechsle mehrmals die Farbe von Weiß zu Grün und wieder zurück, wurde erzählt.
Außerdem schworen die Leute Stein und Bein, dass in besagtem Waldstück häufiger Nebel auftrete als anderswo, und dass er undurchdringlicher und dunkler ausfalle. Eine logische Erklärung hatte für diese seltsame Naturerscheinung niemand parat.
In Popeşti wagte kein Einwohner, nach Beginn der Abenddämmerung das Haus zu verlassen. Mehrere Frauen behaupteten hysterisch, mitunter eine gebeugte, durchscheinende Gestalt um die Häuser schleichen zu sehen. Sie bewege ihre Beine nicht, schwebe einfach zehn Zentimeter über dem unebenen Boden. Der Weg dieser Gestalt sei immer der Gleiche: die schnurgerade Dorfstraße entlang, dann einmal um jedes Grundstück herum – und zum Schluss verschwinde der Spuk unversehens hinter der Kirche. Danach sei stets für mehrere Wochen Ruhe.
Zuerst hatte der Gemeindepfarrer in der sonntäglichen Messe wütend gegen diesen gotteslästerlichen Aberglauben gewettert – bis er selbst Zeuge einer solchen Heimsuchung geworden war. Seither hatte man sämtliche Fenster des Dorfes mit blickdichten Vorhängen ausgestattet, damit der mutmaßliche Wiedergänger keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bekam. Einige befürchteten, dass der ermordete Bauernsohn Andraş sich ansonsten an der Bevölkerung des Dorfes rächen könnte – weil man ihm in der Stunde seiner höchsten Not nicht zu Hilfe geeilt war. Die Menschen in Popeşti wähnten sich deswegen kollektiv in einer Art Erbsünde gefangen und gaben diese schwere Last an ihre jeweiligen Nachkommen weiter.
Im Jahr 1954 hielten sich immer noch Reste hiervon im Unterbewusstsein der ortsansässigen Leute, auch wenn Angst und Aberglaube nicht mehr ganz so fest in ihrem Alltag verwurzelt waren. Selbst im höchst provinziellen Popeşti hielt die Moderne allmählich Einzug, nur eben langsamer und inkomplett. Mittlerweile wurden allerdings andere, völlig neuartige Ereignisse mit der alten Geschichte verknüpft. Und wieder schienen sich sämtliche Puzzleteile bestens zusammenzufügen …
*
Sobald an irgendeinem Ort etwas scheinbar Unerklärliches geschehen ist, neigen die Menschen dazu, diesen aus gebührendem Abstand mit Argusaugen zu beobachten, und zwar weltweit und unabhängig vom Kulturkreis. Jeder neuerliche Vorfall, so unbedeutend er auch sein mag, wird entsprechend interpretiert – bis er eben stimmig ins Bild passt.
Die Bevölkerung Nordrumäniens bildete da keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Während jedoch in vergangenen Jahrhunderten hauptsächlich Augenzeugenberichte von grünen Geisteraugen, nächtlichem Frauenund Kinderlachen sowie merkwürdigen Lichtphänomenen die Runde gemacht hatten, ging es jetzt zunehmend um seltsame Wolkenformationen, silberglänzende, fliegende Gegenstände und mutmaßlich böswillige Aktivitäten von Fremden im Baciu-Wald.
Wer oder was diese ominösen Fremden sein sollten, beziehungsweise, was sie dort überhaupt wollten, wusste indes niemand zu deuten. Es kursierten hierüber zwar zahllose Gerüchte, doch tragfähige Beweise fanden sich keine.
Die einzigen Spuren, die in unregelmäßigen Zeitabständen im Waldstück des Teufels gesichtet wurden, waren partiell verkohlte Äste. Allerdings wagten sich meist bloß nichtsahnende Ortsunkundige hinein, was klammheimliche Aktivitäten von ›Fremden‹ sicher problemlos ermöglicht hätte.
An einem wolkenverhangenen, kalten Novemberabend versorgten Dănuţa und Mihai Stanciu gerade ihre Tiere im dem Wohnhaus gegenüber liegenden Ziegenstall, als durch die breiten Ritzen des grob zusammen gezimmerten Bretterverschlags plötzlich grelle Lichtstrahlen ins Innere drangen. Sie schienen irisierend über Boden und Wände zu tanzen.
Beunruhigt sah Mihai hoch, stutzte. Er stieß seine dicke Ehefrau grob in die Seite. Diese beugte sich soeben über die Raufe und hatte daher noch nichts bemerkt. Ihre Leibesfülle ließ jegliche Bewegung zu einem Kraftakt geraten. Mühselig richtete sie sich auf, ächzte und stöhnte dabei.
»Schau mal her! Wo mag dieses außergewöhnlich helle Strahlen bloß herkommen?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und stellte langsam die Heugabel in die Ecke zurück, jedoch ohne hierbei das mysteriöse Scheinen aus dem Blick zu lassen. Mit zusammen gekniffenen Augen verfolgte er, wie sich die langen Finger aus Licht ruckartig durch den Stall tasteten.
Dănuţa streckte den Rücken, warf ihren dicken Zopf über die Schulter zurück und kratzte sich am Hinterkopf.
»Was weiß ich? Der Mond vielleicht? Oder es geht jemand mit einer dieser neumodischen Laternen vorbei, will uns drüben im Wohnhaus besuchen?«
»Was bist du doch für ein dämliches, einfältiges Weibsstück«, schimpfte Mihai abfällig. »Der Mond, pah … man sieht doch auf den ersten Blick, dass sich die Lichtquelle da draußen bewegen muss. Der Einstrahlwinkel verändert sich stetig, sieh halt gefälligst genauer hin! Und würde bloß jemand auf unserem Grund und Boden herumgehen, hätte er mitsamt seiner Laterne schon längst den Stall passiert.«
»Wenn du meinst, Meister Oberschlau«, brummte die Rumänin beleidigt. »Dann geh am besten und finde es heraus, bevor du mir Vorträge hältst. Ich mache derweil hier alles fertig.«
Um die Ehe der Stancius stand es schon seit einigen Jahren nicht mehr zum Besten. Dănuţa genoss daher jeden Augenblick, in dem sie sich nicht mit ihrem grantigen, besserwisserischen Gatten befassen musste. Für einen Augenblick beschlich sie der sehnliche Wunschgedanke, etwas Böses möge für das unheimliche Strahlen verantwortlich sein und sie für immer von diesem respektlosen Blödmann befreien.
Zärtlich strich die Frau über den Kopf eines munteren Zickleins, das sie besonders gerne hatte. Das Tier hob erfreut den Kopf, ließ sich zwischen den Hörnchen kraulen.
»Du bist mein kleiner Liebling, nicht wahr?«, flüsterte die korpulente Mittvierzigerin. Sie hatte nach einer dramatischen Fehlgeburt vor mehr als zwanzig Jahren keine Kinder mehr bekommen können, was sie unendlich bedauerte. Wahrscheinlich hatte diese traurige Tatsache maßgeblich dazu beigetragen, dass der damals total untröstliche Mihail sich emotional von ihr entfernte, bis von der Liebe kaum noch etwas übrig war. Seither stürzte Dănuţa sich ersatzweise auf jegliches kleine Wesen, um es mit ihren Gefühlen zu überschütten – egal ob Mensch oder Tier.
Draußen wurde es plötzlich stürmisch. Auffrischender Wind heulte mit schauerlichen Tönen um den Stall, pfiff unangenehm kühl durch die Ritzen und wirbelte feinen Staub auf. Die Partikel schwebten wie Fischschwärme in den Lichtstrahlen, die den Verschlag noch immer diffus erhellten. Dănuţa musste niesen, zog ihr selbstgestricktes Schultertuch enger um den Leib. Mihail war nun schon seit mehreren Minuten weg, ihr wurde nun doch ein wenig mulmig. Ob sie nachsehen gehen sollte?
Mit zitternden Händen drückte die Frau gegen die Lattentür, bis die Scharniere quietschten. Der Wind entriss ihr die Tür, so dass sie krachend außen gegen den Verschlag knallte. Erschrocken steckte sie zunächst nur den Kopf nach draußen, drehte ihn nach links und rechts. Das grelle Licht blendete ihre Augen so sehr, dass man lediglich undefinierte Formen erkennen konnte; Schatten, die mit dem sich verändernden Einstrahlwinkel chaotisch durch die Landschaft zu wandern schienen.
»Mihai?« Ihr Ruf ging im Tosen des Sturmes unter. Sie wagte sich nun ganz aus dem Bretterverschlag, tastete sich vorsichtig um die Ecke. Was sie dort zu sehen bekam, ließ ihr fast das Blut in den pochenden Adern gefrieren. Fassungslos stand sie auf der Wiese, beschirmte ihre Augen mit dem rechten Unterarm gegen die gleißende Helligkeit. Der Wind zerrte jählings an ihren Kleidern, drohte sie jeden Moment von den Füßen zu werfen. Sie wagte nicht mehr, sich zu bewegen, stemmte sich bloß verzweifelt gegen den Sturm.
Nur wenige Meter vor ihr stand die dunkle Silhouette ihres Gatten, ebenso unbeweglich wie sie selbst. Auch er schien entgeistert auf das Lichtspektakel zu starren, welches offensichtlich zugleich die Quelle der peitschenden Windböen war. Und nicht nur das … Dănuţa spürte ein Kribbeln und Krabbeln am ganzen Körper, am stärksten am Scheitelpunkt des Kopfes und in den Extremitäten. Es schwoll rhythmisch an und ebbte wieder ab, um die Sequenz gleich darauf von neuem zu beginnen.
Konnte es möglich sein, dass die grünlichen Strahlen hierfür verantwortlich waren? Sie pulsierten im selben Muster, tasteten ihren Körper mehrfach von oben bis unten ab. Sie begann gellend zu schreien, als urplötzlich das giftgrüne Leuchten mitsamt dem Kreischen des Windes erlosch und eine unheilvolle Stille zurückließ.
Für wenige Sekunden entstand eine Art starker Sog, dann ein Vakuum, das Mihai und Dănuţa brutal den Atem aus den Lungen presste. Es war indessen vollkommen windstill geworden. Eine Art dunkler Nebel umfing die aufgelöste, japsende Frau, die deshalb den Standort ihres Mannes nicht mehr ausmachen konnte. Panik befiel sie.
Auf einmal verebbten auch Dănuţas Schreie. Jegliches Geräusch erstarb, obwohl sie schon wieder nach Leibeskräften ihre Angst hinausplärrte. Ihr war, als würde ihr der Erdboden unter den Füßen weggezogen. Es gab einen Knall, ein Riss bildete sich in dem finsteren Nebelgespinst und für einen kurzen Augenblick bemerkte sie einen schmutzig wirkenden Regenbogen, in dessen fahlem Licht sich sie und ihr Mihail widerspiegelten. Die Schemen der beiden Körper wirkten durchscheinend, standen auf dem Kopf. Dann war unversehens auch dieses Schauspiel vorbei. Der Nebel wurde dünner, verflüchtigte sich in Nichts.
Verdattert standen die Eheleute in der hügeligen Landschaft, trauten sich kaum vom Fleck zu rühren. Der Spuk war vorüber, hatte nichts Ungewöhnliches zurückgelassen. Beide schlotterten am ganzen Körper, brachten keinen Ton heraus.
Erst die Laute der verschreckten Tiere im Stall führten dazu, dass Mihai Stanciu und seine Ehefrau allmählich in die nüchterne Realität zurückfanden, schließlich aufeinander zugingen und sich erleichtert umarmten. Lange Zeit standen sie, sich fest umklammernd, auf der Wiese.
»Was, um Himmels willen, war das?«, hauchte Dănuţa, inzwischen bibbernd vor Kälte.
»Ich weiß es auch nicht. Aber ich fühle, dass sich etwas verändert hat. Als hätte eine unbekannte, jedoch völlig kompromisslose Macht das Ruder übernommen. Hast du das silbrig glänzende Etwas im Licht bemerkt?«
Seine Frau nickte nur, barg verstört ihren pausbäckigen Kopf an seiner Schulter. Ihr Gehirn weigerte sich strikt darüber nachzudenken, worum es sich dabei gehandelt haben könnte. Mihais Knie fühlten sich immer noch weich an. Er führte seine käseweiße Frau zum Wohnhaus und bemerkte beim Gehen, dass der Raureif von der Wiese verschwunden war.
Von dieser Nacht an lebten die Stancius zurückgezogen, verrammelten täglich vor Einbruch der Dunkelheit alle Fenster und Türen. Sie sprachen mit keinem einzigen Menschen über ihr unheimliches Erlebnis der Dritten Art, weil sie von den weiter entfernt angesiedelten Nachbarn ihres Einödhofes möglichst nicht für verrückt gehalten werden wollten. Grausige Albträume suchten sie jede Nacht heim. Für den Rest ihres gemeinsamen Lebens schwiegen sie und warteten darauf, dass die fremdartige Macht, die ihnen eine schauerliche Kostprobe ihrer Fähigkeiten geschickt hatte, die gesamte Erde übernähme.
Doch das geschah wider Erwarten nicht. Erst auf dem Totenbett erzählte Dănuţa einem Priester, was sie in jener Nacht erbeziehungsweise überlebt hatte. Er schob das wilde Fantasieren auf den halb entrückten Geisteszustand einer Sterbenden.
*
In der Nähe des Baciu-Waldes, 18. August 1968
Bereits am Morgen dieses wunderschönen Sommertages wurden im Kreis Cluj über dreißig Grad Celsius gemessen. Bei solch einem heißen, sonnigen Wetter wollte sich kein Mensch freiwillig in geschlossenen Räumen aufhalten, auch der fünfundvierzigjährige Emil Barnea nicht. Zu seiner Freude hatte der gewissenhafte Techniker sich freinehmen und auch seine Freundin Zamfira Mattea zu einem Tag Urlaub überreden können. Sie arbeitete als Angestellte für eine Wohltätigkeitsorganisation. Begeistert hatte die Vierunddreißigjährige ihren Emil gefragt, ob sie noch zwei lieben Freunden Bescheid geben könne. Ein Autoausflug mit gemütlichem Picknick wäre doch heute genau das Richtige! Das sahen besagte Freunde dann genauso, denn ihnen war es selbst leider noch nicht vergönnt gewesen, ein eigenes Auto zu erwerben. Im Rumänien der 1950-er Jahre waren Privatfahrzeuge noch eine rare Mangelware.
Gut gelaunt fuhr die Gruppe los. Man besichtigte zusammen einige Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte, ging eine Weile in der Innenstadt von Cluj-Napoca bummeln, verdrückte Eistüten und fuhr anschließend ziellos durch die Gegend.
»Ich bekomme langsam Hunger. Wie ist das mit euch?«, fragte Zamfira, drehte sich zum Fond des Wagens um.
»Ebenfalls! Kommt, lasst uns jetzt etwas essen. Ich habe lauter selbstgemachte Leckereien eingepackt, Bier für euch Männer ist natürlich auch dabei!«, lachte ihre Freundin ausgelassen.
»Was für eine aufmerksame Traumfrau mein Schatz doch ist«, schwärmte ihr Begleiter strahlend. Er faltete andächtig die Hände und erntete einen forschen Nasenstüber.
An einem Waldstück, in der Nähe der Landstraße von Cluj nach Bukarest, stiegen die Freunde aus, gingen plaudernd und scherzend wandern. Ein lauschiges Plätzchen auf einer kleinen Lichtung kam alsbald in Sicht, perfekt für eine Rast. Es empfahl sich heute, weitgehend im Schatten der Bäume zu bleiben, denn es war vollkommen windstill und die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Die Temperatur war mittlerweile auf sechsunddreißig Grad angestiegen.
Gut gelaunt machte sich Emil auf, nach trockenem Feuerholz für ein Lagerfeuer zu suchen. Die anderen bereiteten derweil das Picknick vor. Die Vögel sangen und er dachte bei sich: ›Was für ein perfekter Tag! Es könnte wirklich nichts Schöneres geben, als mit seiner Geliebten und den besten Freunden Spaß zu haben. In letzter Zeit habe ich dermaßen viel gearbeitet, dass ich es mir ausnahmsweise erlauben kann.‹
Zamfiras helle Stimme riss ihn gegen 13.30 Uhr aus seinen angenehmen Gedanken. Sie klang sehr aufgeregt.
»Emil! Bitte komm schnell her! Das musst du gesehen haben! Oh Gott … was könnte das nur sein … ?«
Barnea ließ das Bündel Zweige fallen und eilte zur Lichtung zurück. Schon aus einiger Entfernung bemerkte er, dass Zamfira und seine Freunde allesamt wie gebannt in den Himmel starrten. Gleich darauf bemerkte er es auch. Himmel noch mal … so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen! Etwas metallisch Glänzendes schwebte langsam über die Lichtung hinweg und das vollkommen geräuschlos. Das Ding reflektierte das Sonnenlicht, wirkte wie komplett mit Silber überzogen. Die vier Ausflügler verfolgten das unbekannte Flugobjekt atemlos mit den Augen,
keiner sprach ein Wort.
Plötzlich kam Bewegung in Emil. Er stürzte zu seiner Tasche, zog seine Kamera hervor, maß mit zitternden Fingern die Belichtung und stellte die ungefähre Distanz zum Zielobjekt ein. Dann riss er sich zusammen, atmete aus und drückte ruhig auf den Auslöser. Da die Maschine – oder worum auch immer es sich da handelte – sehr langsam flog, blieb sogar Zeit für einen zweiten Schnappschuss.
Während des Fotografierens bemerkte er, dass die Helligkeit des Objekts sich stetig veränderte. Das daraus hervorströmende Licht schien rhythmisch zu pulsieren. Plötzlich stieg es in rasender Geschwindigkeit steil nach oben und Barnea bekam gerade noch Gelegenheit, weitere zwei Male auf den Knopf zu drücken. Dann geriet die unbekannte Maschine außer Sicht. Das gesamte Ereignis hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.