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Die vier Freunde waren baff vor Faszination. Sie blieben etwa weitere zwei Minuten wie angewurzelt stehen, keiner wagte sich zu rühren. Befanden sie sich hier womöglich in Lebensgefahr?
Mit offenen Mündern suchten sie weiterhin den Himmel nach dem Objekt ab, doch das obskure Schauspiel war offensichtlich vorbei. Anschließend packten sie schweigend ihre Siebensachen zusammen und verließen hektisch den Wald, denn er war ihnen nicht mehr geheuer.
Der Schock über diese unerklärliche Beobachtung saß dermaßen tief, dass niemand sprach. Schweißgebadet, mit leichenblassen Gesichtern, saß die Gruppe wenig später im Auto. Die Vesper blieb unangetastet im Kofferraum liegen.
»Ihr habt es aber auch alle gesehen, oder? Ich bin doch nicht verrückt geworden!«, war das Einzige, was Zamfira mit herausgedrehten Augäpfeln von sich gab. Sie wirkte kleinlaut. Ihre drei Begleiter nickten nur mechanisch und Emil startete fahrig den Motor des Dacia, nachdem er ihn zweimal abgewürgt hatte. Die Heimfahrt verlief bedrückend stumm.
*
Am schnellsten erholte sich Emil Barnea von den Ereignissen dieses Nachmittags. Als ehemaliger Militärangehöriger kam er mit Außergewöhnlichem eher klar als seine Freundin oder die beiden jüngeren Bekannten. Letztere hatten ihn bereits eindringlich gebeten, sie vollständig aus der ominösen Sache herauszuhalten. Er dürfe nirgends namentlich erwähnen, dass sie es gewesen seien, die dieses Ding ebenfalls gesehen hatten.
Nach einigen Tagen konnte Barnea sich endlich dazu überwinden, den ORWO-Film aus seiner FED 2-Kamera entwickeln zu lassen. Er war sich selbst nicht mehr sicher, ob er tatsächlich ein nicht identifizierbares Flugobjekt abgelichtet hatte. Vielleicht hatten sie im Wald aufgrund der Hitze nur überreagiert, waren einer Spiegelung von irgendwas zum Opfer gefallen. Einer Art Fata Morgana – oder so. Die dichten Wälder Transsilvaniens waren schließlich bekannt dafür, dass sie Angst erzeugen konnten. Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.
Knapp zwei Wochen später hielt er die Ausdrucke in Händen und fragte sich beunruhigt, was er hiermit nun anfangen sollte. Das fliegende Objekt war auf den Fotografien gestochen scharf zu erkennen, doch er wusste ziemlich genau, wie die Leute über abstruse Erzählungen dachten – und natürlich über diejenigen, welche mit solchen Geschichten über verhexte Wälder daherkamen. Er wollte sich nicht zum Gespött machen.
So wandte er sich nach dessen Urlaubsrückkehr an den rumänischen Ingenieur Florin Gheorghita, weil er wusste, dass der sich brennend für solche Phänomene interessierte. Mehrmals hatte er bereits UFO-Sichtungen untersucht. Barnea kannte den Mann von früher, hatte bereits zwei Jahre lang auf einer Baustelle mit ihm zusammengearbeitet.
Er zeigte ihm die ersten drei Fotos, auf denen das fragliche Objekt relativ groß abgebildet war. Gheorghita stellte daraufhin eigene Ermittlungen an und rekonstruierte die Flugbahn. Diese stimmte mit den Zeugenangaben von Emil und Zamfira, sowie den Fotos überein. Der Ingenieur blieb aber dennoch skeptisch. Auch er hatte einen Ruf zu verlieren.
Eines der Fotos wurde dennoch am 18. September 1968 in einigen Zeitungen der Region abgedruckt, und zwar zusammen mit einem durchwegs sachlich gehaltenen Augenzeugenbericht von Barnea. Nicht jeder nahm das gelassen auf.
Der Direktor des Observatoriums in Cluj fühlte sich daraufhin leider berufen, eine Gegendarstellung in die Welt zu setzen. In Unkenntnis dessen, dass nur ein einziges Objekt mehrmals fotografiert worden war, behauptete er kurzerhand, es habe sich garantiert um eine Ansammlung von Wetterballons gehandelt. Barnea sei bestimmt nichts als ein ignoranter Alkoholiker, der sich wichtigmachen wolle und habe die Fotos gefälscht. Wohlgemerkt – Wetterballons waren während der fraglichen Zeitspanne in der gesamten Region Cluj-Napoca nicht aufgestiegen, was sich hinterher leicht beweisen ließ.
Die Sache stieß bei einem Fotoreporter aus Cluj auf Interesse. Er und ein weiterer Fotograf einer Presseagentur aus Bukarest gingen der Sache auf eigene Faust nach und prüften die Fotografien akribisch auf Echtheit. Sie fanden keinen Hinweis auf irgendeine Trickserei. Sogar ein großes Fotolabor untersuchte sie auf Ungereimtheiten – ebenfalls ergebnislos.
Weitere Zeitungsveröffentlichungen, und zwar aller drei Fotos, zogen schier endlose Debatten in der Öffentlichkeit nach sich. Emil Barnea und seine Freundin wurden vom Staatsfernsehen interviewt. Ersterer wurde sogar auf neurologische Auffälligkeiten untersucht, allerdings fand sich hierbei nichts Außergewöhnliches. Aber wie hätten die beiden bekannten Augenzeugen zweifelsfrei beweisen sollen, dass sie die Wahrheit sprachen, nichts hinzugefügt oder weggelassen hatten?
Zum Schluss nahmen sich Techniker der Universität Cluj der Sache an, untersuchten die Fotografien sehr lange und fertigten sogar maßstabgerechte Modelle der abgebildeten Flugscheibe an. Jeder Schatten war in Übereinstimmung mit den beschriebenen Manövern vorhanden, man sah die Reflektionen der Sonne und sogar die Eigenbeleuchtung des Objekts. Eine geschickte Fälschung schien auch nach ihren Schlussfolgerungen ausgeschlossen zu sein.
Das UFO hätte demnach einen Durchmesser von mehr als dreißig Metern haben müssen. Es sei in sechshundert Metern Höhe erst langsam Richtung Nordost, zum Schluss in südwestlicher Richtung davon geflogen und hierbei leicht gesunken, hielten die Techniker in ihrem Abschlussbericht fest.
Zweimal traf sich Emil Barnea mit dem rumänischen Ufologen Ion Hobana, einmal 1968 und einmal 1970. Dieser fand in Befragungen heraus, dass weder Emil Barnea noch seine Freundin Zamfira Mattea viel über UFOs wussten und die Geschichte somit wohl kaum erfunden haben konnten, um sich interessant zu machen. Zu dieser Zeit wurden in Rumänien schließlich auch noch keinerlei Bücher über UFOs verkauft.
Hobana hielt das Ereignis über dem Baciu-Wald für eine der wichtigsten UFO-Sichtungen überhaupt. Die vierte Fotografie reichte Barnea ihm und seinem Bekannten Gheorghita mit erheblicher Verspätung nach. Auf diesem war das mutmaßliche Fluggerät wegen der erheblich größeren Entfernung viel kleiner festgehalten, es verschwand gerade in einer Wolkenbank.
Der Name Emil Barnea sollte für immer mit dieser Sichtung in Verbindung stehen, später massenhaft durch eine Erfindung namens Internet geistern und, über Jahrzehnte hinweg, weiterhin für Diskussionsstoff bei Skeptikern und Ufologen sorgen. Aber das konnte er damals natürlich nicht voraussehen.
Kapitel 3
Zeitloses Mädchen
Kreis Cluj, 29. April 1975
»Mama, wann gibt es endlich Abendessen? Ich habe schon einen Bärenhunger«, rief die fünfjährige Marta über den Gartenzaun. Der kleine Wirbelwind hopste fröhlich den schmalen Feldweg entlang, der unmittelbar an das Grundstück des recht kleinen, etwas baufälligen Hauses grenzte. Bei jedem Hüpfer flogen ihre braunen Zöpfe in die Höhe.
Ihre Mutter lächelte, richtete sich stöhnend auf. Sie hatte im Gemüsebeet schon den ganzen Vormittag lang Unkraut gejätet. Beide Hände ins schmerzende Kreuz gestützt, antwortete sie:
»Das wird noch gut eine Stunde dauern. Ich muss das hier erst fertig machen, sonst erstickt mir die Queckenplage meine jungen Salatpflänzchen. Iss derweil einen Apfel, oder geh noch ein bisschen auf die Wiese spielen. Das Wetter ist heute so schön. Man mag gar nicht glauben, dass es in der vergangenen Woche kalt war und geregnet hat!«
»Au ja, mach ich. Ich hole gleich meinen Ball!«, lachte Marta vergnügt und verschwand im Schuppen. Anna Ionescu blickte ihr versonnen nach. Ihr ging das Herz auf. Was für ein aufgewecktes Kind! Und so hübsch anzusehen mit ihrem herzförmigen Gesichtchen, den Sommersprossen auf der Stupsnase und seinen großen, braunen Rehaugen. Es bereitete der stolzen Mutter viel Freude, der Kleinen ausgefallene Kleidchen zu nähen. Heute trug sie ihr Lieblingskleid. Jenes zartgelbe mit den großen, weißen Margeriten am ausgestellten Saum, das sie erst am vergangenen Wochenende fertiggestellt hatte.
»Aber bleib in Rufweite! Mach dich nicht schmutzig und geh keinesfalls in den verwunschenen Wald, hörst du?«, rief Anna ihrer Tochter noch hinterher. »Ja ja, Mama«, tönte es fröhlich über die Wiese – und schon war das quirlige Mädchen über den Hügel und außer Sicht.
Anna war fest überzeugt, dass Marta sich zuverlässig von diesem verfluchten Waldstück fernhalten werde. Schließlich hatte sie sämtliche Märchen, in denen Kindern irgendetwas Schlimmes zustieß, kurzerhand an genau diesen Schauplatz verlegt. Die kleine Maus liebte Schauergeschichten über Hexen, verschleppte Prinzessinnen, Zwerge und böse Schwiegermütter. Es grenzte an ein Wunder, dass sie danach allabendlich, selig wie ein Engel, mit ihrem Stoffbären im Arm einschlief.
Als Annas Ehemann dieses Häuschen am Ortsrand von Baciu vor einigen Jahren geerbt hatte, war sie alles andere als begeistert gewesen, hier einzuziehen. Alleine schon in einer Ortschaft leben zu müssen, die nach einem spurlos verschwundenen Schäfer benannt war, jagte ihr auch nach acht Jahren noch eiskalte Schauer über den Rücken. Aber sie hatte damals ihm zuliebe zugestimmt. Er hatte im Grunde ja recht – man brauchte nur den merkwürdigen Wald zu meiden. Der Boden dieser Gegend war fruchtbar, das Haus in einem noch annehmbaren Zustand. Was wollte man mehr? Nun ja, sie konnte und wollte das Kind nicht einsperren. Marta musste wie alle anderen Kinder lernen, dass der Wald tabu war. Dann wäre dieser Wohnort so sicher wie jeder andere auch.
Und doch … immer wieder tauchten haarsträubende Geschichten auf. Mal war in der Nachbarschaft die Rede von verwirrten Wanderern, die jede Orientierung verloren hatten, mal wurden nachts grüne Lichter beobachtet, die geisterhaft zwischen den Bäumen zu schweben schienen. Im vergangenen Herbst gar hatte der alte Ciprian beim Pilze suchen am Waldrand angeblich fünf metallische Zylinder entdeckt, die kreisförmig aufgestellt gewesen waren. Realität oder Einbildung? Wie auch immer … diese Entdeckung musste den Achtundsiebzigjährigen so sehr aufgeregt haben, dass er einen Tag später an einem Schlaganfall verstarb.
Während Anna nachdenklich jätete, übte sich ihre kleine Tochter im Weitwerfen. Sie stellte sich dazu auf einen Felsblock, hob den Ball über den Kopf und versuchte, ihn über die mit einem Stock gekennzeichnete Markierung zu befördern. Hurra, wieder ein neuer Rekord!
Ein wenig außer Atem gekommen, legte Marta ihren Stock gut einen halben Meter weiter in Richtung des Waldrandes. Immer wieder schielte sie mutig dorthin. Zwischen den Bäumen sah es doch eigentlich ganz normal aus, überhaupt nicht gefährlich. Jetzt, am späten Nachmittag, war der verhexte Ort in ein warmes goldgelbes Licht getaucht, das ließ ihn wunderschön aussehen. Zartgrüne Blätter knospten an den Bäumen, Vögel sangen.
Marta stellte sich wieder auf ihrem Felsen in Position, holte tief Luft und strengte sich ganz besonders an. Weit flog der Ball, viel weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie jauchzte vor Freude, beschirmte ihre Augen gegen die tief stehende Sonne und suchte aufmerksam die Wiese ab. Verflixt – wo war der knallrote Ball mit den weißen Punkten bloß gelandet? Wenn er im Gras lag, sah er immer wie ein großer Fliegenpilz aus. Aber sie konnte nichts dergleichen erkennen.
Zehn Minuten später standen dem Mädchen Tränen in den großen Augen. Ihr geliebtes Spielzeug war beim besten Willen nicht auffindbar, obwohl sie die Umgebung sorgfältig abgesucht hatte. Tante Baba hatte ihn ihr zu Weihnachten geschenkt. Ob sie vielleicht lieber nach ihrer Mutter rufen sollte? Aber Mama hatte doch schon so viel Arbeit und musste nachher noch kochen …
Wieder ein großer Schritt Richtung Waldrand. Nichts geschah, auch der Ball blieb verschwunden. Mittlerweile grummelte Martas Magen. Sie blieb stehen, drehte grübelnd ein Zopfende um ihren rechten Zeigefinger.
Da, was war denn das? Sie kannte diesen wunderschönen Anblick seit dem letzten Sommer, als die Familie Oma Ionescu in den Bergen besucht hatte. Ein Strauch mit dicken, roten Himbeeren leuchtete zwischen zwei schlanken Birkenbäumen hervor! ›Hmmm … diese Beeren schmecken sooo lecker … man muss nur aufpassen, dass kein Würmchen darin wohnt, bevor man sie in den Mund steckt‹, erinnerte sich das Kind.
Marta lief beim Gedanken an die fruchtigen Köstlichkeiten augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Ihr Bäuchlein zwickte, als wolle es sie zum Naschen auffordern.
Ach, was sollte da schon passieren? Von hier aus konnte sie schließlich den kleinen Hügel noch sehen, der direkt gegenüber ihrem Elternhaus lag. Wenn sie kurz dorthin ginge, wäre sie ja eigentlich noch nicht im Wald, sondern nur an dessen Rand … und da – genau vor dem Himbeerstrauch lag auch der gesuchte Ball! Martas Entschluss stand fest. Sie würde ihn holen gehen, schnell ein paar der saftigen Beeren pflücken und dann wie der Wind zurück nach Hause laufen.
Dass Waldhimbeeren normalerweise erst Ende Juli/Anfang August reif werden, konnte die Kleine natürlich nicht wissen. Und genau diese kindliche Sorglosigkeit wurde ihr jetzt zum Verhängnis.
*
Anna Ionescu trat aus dem Gartentürchen, formte ihre Hände zu einem Trichter. »Marta! Komm endlich, es gibt heute deine Lieblingsnudeln!«
Keine Antwort.
›Ach, dass dieses lebhafte Kind über dem Spielen aber auch immer völlig die Zeit vergessen muss!‹, dachte die junge Mutter schmunzelnd. Die Sonne ging schon unter, schickte die letzten Strahlen über den kleinen Hügel. Es wurde allmählich höchste Zeit, dass Marta zurückkehrte. Kopfschüttelnd erklomm Anna die sanfte Anhöhe, die einen weiten Rundumblick zuließ. Ein kühles Lüftchen ließ sie frösteln.
Sie erwartete eigentlich, ihre Tochter inmitten der Wiese sitzen zu sehen, versunken einen bunten Blumenkranz flechtend. Das Mädchen war geschickt in solchen Dingen. Manchmal suchte sie nach vierblättrigen Kleeblättern, die sie hinterher in einem dicken Buch presste um das Glück für die Ewigkeit zu konservieren. Oder sie rupfte mit Feuereifer einen Strauß Wiesenblumen, verschenkte ihn mit einem Küsschen. Besonders die dottergelben Schlüsselblumen hatten es ihr schwer angetan.
Anna erstarrte vor Schreck. Die Wiese lag still und verlassen in der hereinbrechenden Dämmerung, kein Kind war weit und breit zu sehen! Sie schrie, so laut sie nur konnte. »Martha! Bitte mein Schatz, tu mir das nicht an. Komm heraus, zum Versteckspielen ist es zu spät. Es wird bald dunkel!«
Doch kein schokoladenbrauner Haarschopf tauchte zwischen den Gräsern auf, kein Kinderlachen erklang. Immer hysterischer rief die Näherin nach ihrer Kleinen – vergebens. Ein Schwarm Krähen ließ sich lärmend am Waldrand nieder, als wäre es ein böses Omen.
Die letzten Sonnenstrahlen verblassten gerade am Horizont, als die besorgte Mutter wie von Sinnen Richtung Wald hastete. Erste Nebelschwaden quollen daraus hervor. Sie färbten sich im Zwielicht graugelblich, was der Szenerie einen schaurigen Anstrich verlieh.
Anna schickte in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl sie nur pro forma dem katholischen Glauben angehörte.
›Oh Gott, lieber Gott, bitte hilf uns! Mach, dass sie nicht da drin ist!‹ Aber wo hätte sie sonst nach ihrer Marta suchen sollen? Sie verspürte keine Angst um ihr eigenes Leben, wollte einfach nur ihr geliebtes Kind wieder in die Arme schließen. So betrat Anna das vermaledeite Waldstück, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
»Marta, bist du da irgendwo? Hast du dich verirrt, mein Liebling? Falls du mich hören kannst, bleib bitte stehen und antworte mir. Dann weiß ich, wo du bist und kann dich sofort holen kommen. Du musst keine Angst haben, ich werde nicht mit dir schimpfen! Wir gehen heim und essen Nudeln mit Tomatensoße«, schrie die aufgelöste Mutter zwischen die Bäume.
Nichts. Keuchend bahnte sich Anna einen Weg durch Sträucher, über moosige Wurzeln und am Boden liegendes Totholz. Da sich niemand freiwillig in diesem Waldstück aufhielt, gab es darin natürlich keine angelegten Spazierwege. Mehrfach schlug die Fünfundzwanzigjährige hin, riss sich dabei die Knie auf, zerkratzte sich Gesicht, Arme und Beine. Sie bemerkte es kaum. Schluchzend arbeitete sie sich Meter für Meter voran, ziellos und verzweifelt.
Da! Ein helles Kinderlachen … nein, mehr ein Kichern! Anna stoppte abrupt, ihr blieb schier die Luft weg. »Marta!!! Wo bist du? So sag doch was!«
Es kam keine Antwort. Immer wieder rief Anna den Namen ihrer Tochter in die grauschwarze Dunkelheit, doch der Wald schien ihre Stimme zu dämpfen. Es war vollkommen windstill, ein fahler Vollmond ging über den Baumwipfeln auf; außer dem Knistern und Knacken der Zweige, auf die Anna beim Gehen trat, war überhaupt kein Geräusch mehr zu hören. Längst hatte sie die Orientierung verloren.
Jäh schoss der jungen Frau ein schrecklicher Gedanke durchs Gehirn. Ihr Ehemann musste inzwischen zu Hause eingetroffen sein und sie hatte es vor dem Losgehen versäumt, einen Zettel zu hinterlegen! Anstatt sie beide zu suchen oder die Polizei zu alarmieren, würde er bestimmt annehmen, dass sie mit Marta irgendwo hingefahren sei und lediglich vergessen hätte, ihn zu informieren. Außerdem hatte sie vorhin in der Annahme, gleich zurückzukehren, die Herdplatte angelassen … wie lange mochte das her sein? Zwei Stunden vielleicht? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Himmel, hoffentlich brannte das Haus nicht ab!
Weinend irrte sie weiter durch die Dunkelheit. Ihre Stimme wurde heiser, das stetige Rufen nach Marta klang nun eher wie ein hysterisches Kreischen. Das Waldstück wollte einfach kein Ende nehmen. Es gab keinerlei Landmarken, an denen man sich hätte orientieren können. Womöglich ging sie im Kreis.
Nach einer weiteren halben Stunde rutschte Anna auf morastigem Boden aus, klatschte rücklings in den eiskalten Schlamm.
Für einige Minuten blieb sie dort entkräftet liegen, lauschte in die bleierne Dunkelheit. Falls dieser verfluchte Wald ihre Tochter geholt hatte, konnte sie ebenso gut gleich hier liegen bleiben und allmählich im Boden versinken, dachte sie resigniert. Sie fühlte es mit jeder Faser ihres Körpers – hier stimmte etwas nicht! Falls es so etwas wie eine Hölle tatsächlich gab, so war sie sicher hier zu finden.
Gerade als sie sich wieder aufrappeln wollte, bemerkte sie ein schwaches, grünliches Glimmen, in etwa hundert Metern Entfernung. Das Leuchten irisierte zwischen einem zarten Lindgrün, mehreren Weißund Graustufen sowie einem kräftigeren Apfelgrün. Worum konnte es sich dabei handeln – Sumpfgase, die an die Oberfläche stiegen? Oder spielte ihr jemand einen üblen Streich?
Anna rann Schlamm in die Augen, während sie sich japsend in Richtung des Phänomens voran arbeitete. Der Wald schien sie mit aller Macht zurückhalten zu wollen. Ständig verfing sich ihre Kleidung in Ästen und Zweigen. Dornige Schlingpflanzen griffen nach ihren Fesseln, rissen tiefe, blutende Wunden. Sie spürte es nicht.
»Marta, bist du dort vorne?« Es war mehr ein Röcheln, das der Geschundenen über die trockenen Lippen kam. Die letzten Meter kroch sie bäuchlings über den Boden, immer auf die kleine, illuminierte Stelle zu. Eine kreisrunde Lichtung! Kaum hatte Anna sie entdeckt, erstarb das mysteriöse Leuchten so plötzlich wie es aufgetaucht war. Zurück blieb nichts als undurchdringliche Schwärze, denn der Vollmond wurde zur Gänze von einer anthrazitfarbenen Wolkenbank verdeckt.
Anna schrie panisch auf, trommelte mit beiden Fäusten auf den Waldboden ein und weinte hemmungslos. Ihr Kind hatte sie nicht finden können und nun verschluckte dieser grausame Moloch sie ebenfalls mit Haut und Haar. Sie bibberte vor Kälte, die schlammverschmierte Kleidung klebte ihr eng am Körper.
Endlich lugte das blasse Mondlicht wieder hinter den Wolken hervor. Es verbesserte die Sichtverhältnisse allerdings nur unwesentlich, weil mausgraue Nebelschwaden zäh über den Waldboden krochen. Sie verhüllten Bäume, Gräser und Blaubeersträucher, hinterließen ein kühlfeuchtes Nichts.
Anna hockte sich mitten auf der Lichtung hin, umschlang ihre Knie mit beiden Armen, barg ihr nasses Gesicht dazwischen. Hier gab es keinerlei Bewuchs, der Boden fühlte sich eben und ein wenig wärmer an als die Umgebung. Nur festgetretene Erde schien diese Stelle zu bedecken. Jetzt verspürte Anna auf einmal starke Schmerzen, die im Rhythmus ihres Herzschlags in Fußgelenken, Schläfen und im unteren Rücken pochten. Ihre Zähne klapperten, die Kopfhaut fühlte sich taub an.
Noch erheblich schlimmer als Annas beklagenswerter körperlicher Zustand war gleichwohl der psychische. Sie glaubte, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden. Die Tränen waren allesamt vergossen, sie starrte nur noch mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Des rationalen Denkens nicht mehr fähig, jagten wirre Gedankenfetzen einander wie kopflose Rinder in einer Stampede. Hatte sie vor einer Ewigkeit wirklich Kinderlachen gehört – oder war das Einbildung gewesen? Unzusammenhängende Bilder von Margeriten, grinsenden Unholden und einem grünlichen Höllenschlund zogen in unsinniger Abfolge vor Annas geistigem Auge vorbei.
Die Kopfhaut prickelte. Dann setzte unversehens ein nahezu unerträglicher Juckreiz ein. Unwillkürlich riss die junge Mutter ihre Arme nach oben, kratzte sich ausgiebig an Kopf und Hals. Das machte die Sache jedoch nur schlimmer. Es fühlte sich an, als würden Ameisenkolonnen über ihren ganzen Körper laufen.
»Geht weg, lasst mich gefälligst in Frieden«, wimmerte Anna, schlug mit fahrigen Bewegungen auf die eigenen Gliedmaßen ein und scharrte sich blutige Striemen in beide Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verirrte sich ein silbriger Mondstrahl auf ihre Hände. Voller Entsetzen erkannte sie, dass ihre gesamte Haut von zahllosen Bläschen übersät war. An den Stellen, wo sie diese bereits aufgekratzt hatte, lief Flüssigkeit heraus.
»Wo bist du, wenn man in Not ist und dich braucht? Warum hast du mein kleines Mädchen nicht beschützt?«, krächzte Anna mit letzter Kraft. Sie richtete ihren glasigen Blick gen Himmel und verlor das Bewusstsein.
*
Man fand Anna Ionescu am nächsten Morgen gegen 9 Uhr. Sie kauerte immer noch ängstlich auf der kleinen Lichtung, obwohl bereits die Sonne ihre wärmenden Strahlen in den Wald schickte. Dass eine Polizistin sie vorsichtig ansprach, schien sie nicht einmal zu bemerken. Sie saß nur statisch da, stierte mit blutunterlaufenen Augen geradeaus und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.
Eugen Ionescu war von einem Verbrechen ausgegangen, hatte am Vorabend gegen 22 Uhr die Polizei alarmiert. Beim Betreten des Hauses waren ihm nämlich schwarze Rauchwolken entgegen gewabert, die aus der Küche kamen. Zwei Herdplatten waren auf höchster Stufe eingeschaltet gewesen. In einem der beiden Töpfe verkochte eine Portion Spaghetti zu einer breiigen Masse, im anderen, kleineren befand sich ein undefinierbares schwarzes Etwas. Wahrscheinlich verkohlte Nudelsoße.
Eugen hatte sich hustend ein Tuch vor den Mund gepresst, die Drehknöpfe auf null gestellt, die Töpfe vom Herd gezogen, durchgelüftet und im ganzen Haus nach Frau und Tochter gesucht. Mit einer Rauchgasvergiftung durfte man schließlich nicht spaßen. Ganz zum Schluss hatte er im Garten nachgesehen und entsetzt festgestellt, dass das Türchen zur Wiese sperrangelweit offen stand.
In diesem Moment war dem Familienvater schlagartig bewusst geworden, dass an der Sache irgendetwas faul sein musste. Seine Frau konnte als ordentlich, fast schon pedantisch gelten. Niemals hätte sie die Gartenharke einfach mitten im Gemüsebeet liegen lassen, geschweige denn, dass Anna jemals das Absperren oder das Abdrehen der Herdplatten vergessen hätte.
Nein … irgendjemand musste sie bei der Gartenarbeit hinterrücks überrascht haben, vielleicht war sie sogar mitsamt der Tochter verschleppt worden. So hatte der besorgte Eugen keine Zeit mehr verloren, war auf dem schnellsten Wege zur Polizeistation im Nachbarort gefahren und hatte seine Familie als vermisst gemeldet. Schweren Herzens hatte er sich bis zum Morgengrauen gedulden müssen, denn für den Rest der Nacht hätten die Polizisten keine Möglichkeit für eine Suchaktion gesehen.
Und nun saß seine schöne, kluge Anna reglos auf einer Waldlichtung im Sonnenschein, war trotz aller Bemühungen nicht ansprechbar. Das Haar stand in schlammverkrusteten Strähnen wirr vom Kopf ab, die Haut starrte vor gelblichen Pusteln und war blutverschmiert. Die attraktive Frau war kaum wiederzuerkennen, schien die Sprachfähigkeit verloren zu haben. Von Marta fehlte bislang jede Spur.