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Das Telefon klingelte. Er nahm ab. Nannte seinen Namen.
Hörte jemanden atmen.
»Hallo. Wer ist da?«, fragte er ungehalten. »Hallo? So sprechen Sie endlich. Hallo?« Doch die Verbindung war bereits abgebrochen.
Da war ein Stechen in seiner Brust. Etwas Undefinierbares schien sich eng und enger um seinen Oberkörper zu schnüren. Obwohl er alles tat, die diffuse Bedrohung zurückzudrängen, die er seit dem Erhalt des Briefes verspürte, kam er kaum dagegen an. Er schluckte heftig. Sein Hals fühlte sich ausgetrocknet an.
In der Küche schenkte er sich ein Glas Wasser ein, das er mit hastigen Schlucken trank und der kühlen Flüssigkeit nachspürte, die durch seine Kehle rann.
Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. All die großen und kleinen Freuden, die sein Leben reich gemacht hatten, daran wollte er sich erinnern. Da gab es einiges, was nicht in seine offiziellen Memoiren gehörte. Jeder Mensch hatte schließlich seine Geheimnisse. Aber er war sich immer treu geblieben. Selbst seine ärgsten Feinde mussten ihm bescheinigen, dass er stets eine klare Linie verfocht und dass man sich auf ihn verlassen konnte.
Harald Juhnkes Lied geisterte durch seinen Kopf. Ein Lied, das er sich immer wieder gern anhörte. In dem er sich wiederfand.
Ich hatte Glück, verdammt viel Glück … I did it my way.
Erleichtert spürte er, wie sich der Druck auf der Brust langsam zu lösen begann. Er hatte alles unter Kontrolle.
Es war gut, mein Leben, sagte er sich, und wandte sich erneut den bedruckten Blättern zu. Aufregend, nicht immer geradlinig, aber erfüllt. Und von so einem Briefeschreiber lass ich mir nicht alles kaputt machen! Ist wahrscheinlich sowieso gelogen, was der mir weismachen will.
Das war bestimmt er vorhin am Telefon. Ja, Blankenhain war sich ziemlich sicher. Feiger Hund! Erst so einen Brief schreiben und dann kneifen.
Erneut nahm er seinen Füllfederhalter zur Hand. Die gelebte Zeit noch einmal Revue passieren lassen bedeutete unweigerlich, etliches umzudeuten. Keinem Leser war zuzumuten, was in subjektiven Wahrnehmungen unmittelbar niedergeschrieben worden war. Aus der Vergangenheit heraus war vieles anders zu interpretieren als im Moment der Gegenwart. Und manches war auch zu privat für die Öffentlichkeit. Es gab nun mal Dinge, die niemanden etwas angingen. Hatte nicht jeder irgendwo tief im Keller eine Leiche vergraben? Die große Linie musste stimmen, die Essenz, das war wichtig. Diese herauszuarbeiten war sein Ziel.
Kurz kam ihm in den Sinn, was mit seinen Tagebüchern geschehen würde, wenn er nicht mehr war. Würden sie irgendjemanden interessieren? Oder würden sie in einem Müllcontainer verschwinden? Das war vielleicht sogar besser so. Doch insgeheim hoffte er, dass Monika sie in wohlmeinende Hände abgab. Eine der großen Bibliotheken, das konnte er sich gut vorstellen.
Blankenhain war vielleicht nicht der geborene Familienmensch. Doch seine Kinder und seine Frauen hatte er stets als wichtig erachtet. Es freute ihn sehr, dass er in der letzten Zeit einen engeren Kontakt zu seiner Tochter gefunden hatte. Mit ihr zusammen war er dabei, sein Leben zu rekonstruieren, vielmehr sprach er in ihrer Gegenwart auf Band und sie tippte das Erzählte anschließend ab. Er konnte nicht gut mit einem Computer umgehen und wollte dies auf seine alten Tage auch nicht mehr lernen. Monika machte das gern, das hatte sie ihm wiederholt bestätigt.
»Das ist ja auch für mich interessant, dein Leben, Papa. Gerade weil ich so wenig von dir weiß. Und so wenig von dir hatte als Kind.«
Den leicht bitteren Ton wollte er nicht hören. Obwohl er ihn durchaus wahrgenommen hatte. Es stimmte schon, er hatte nie viel Zeit für seine Kinder gehabt. Seine Tage waren randvoll gefüllt gewesen mit wichtigen Aufgaben, wie sollte man sich da angemessen um die Belange kleiner Menschlein kümmern. Seine Frauen hatten ihm immer den Rücken frei gehalten. Das war eben das Los aller Politikerehen.
Monika, seine Jüngste, schien ihn am besten zu verstehen. Besser als seine beiden Söhne. Zumindest wusste sie, wie man ihn nehmen musste. Sicher, er war kein einfacher Mensch, das gab er unverhohlen zu. Gerade ihre letzte Begegnung hatte wieder einmal einen heftigen Disput zur Folge gehabt, was ihm im Nachhinein leid tat. Vielleicht hatte er doch zu heftig reagiert. Dass sie seine Reaktion als äußerst unangebracht empfand, hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht.
Ihm war klar, dass er polarisierte. Das war eben seine Natur. Und wer kam schon gegen seine Natur an? In seiner aktiven Zeit war er stets für deutliche Ansagen gewesen. Auch wenn ihm das viele übelnahmen. Aber das Nettigkeitsgesabbel der ehemaligen Kollegen war absolut nicht sein Ding. Weder im Beruf noch zu Hause. Manchmal, in stillen Momenten kam ihm in den Sinn, dass sich seine Söhne vielleicht deshalb so distanziert verhielten. Von Walter, der als Arzt in Hamburg lebte, erhielt er hin und wieder eine Karte, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Ernst, dessen jüngerer Bruder, hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. Aber der war von jeher das Sorgenkind gewesen. Vom Studieren hielt er nichts, nur vom Demonstrieren und vom Hausbesetzen. Eine Haltung, die vollkommen konträr zu der politischen Marschrichtung seines Vaters stand und die er stets lautstark missbilligt hatte. Was er Ernst mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte. Und seine Frauen … ach nein, verstehe einer die Frauen. Darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Er wollte seinen Frieden, wollte sich daran erfreuen, dass Monika ihn regelmäßig besuchte und mit ihm zusammen Ausflüge in die Vergangenheit unternahm.
Sein Ich in der Welt erkunden, seinen Weg inmitten der Welthistorie, so hatte sie es an einer Stelle formuliert. Sein Leben war eine rückwärts betrachtete Entdeckungsreise, und seine Tochter half ihm dabei, manches in den Tiefen seines Gedächtnisses wiederzufinden, das er selbst vergessen glaubte. Vor allem aber verstand sie es großartig, seine Gedanken in eine angemessene Sprache zu transferieren. Sie hatte eine wahrhaft schriftstellerische Gabe, die sie vervollkommnen sollte. Er würde ihr bei einer möglichen Veröffentlichung helfen, noch immer waren seine Verbindungen zu den wichtigen Menschen dieser Republik intakt.
Wieder blieb sein wandernder Blick an dem Briefumschlag haften, den er an den Rand des Schreibtischs geschoben hatte. Das Schreiben war unfrankiert, aber korrekt mit seiner Adresse und der Adresse des Absenders versehen - einem ihm unbekannten Namen. Der Mann hatte den handschriftlich verfassten Brief nicht aufgegeben, sondern ihn eigenhändig in Blankenhains Briefkasten gesteckt. Diese Tatsache bereitete ihm ein wenig Sorge.
Er konnte nicht aufhören, den Inhalt zu überdenken, der, das gab er zu, seine Selbstsicherheit gehörig ins Wanken gebracht hatte. Doch allzu absurd klang das, was darin stand. Eine Behauptung, die sich auf eine Begebenheit gründete, die fast sechzig Jahre zurücklag. Man denke: sechzig Jahre! Das war mehr als ein halbes Leben. Und dies sollte jetzt noch Relevanz besitzen? Lächerlich. Am besten, er vernichtete den Brief, bevor er in falsche Hände geriet.
Er schreckte auf, als es an der Tür klingelte. Sekundenlang dachte er, er habe sich das nur eingebildet, doch es klingelte erneut. Wer konnte das sein? Er bekam nicht viel unangemeldeten Besuch. Hoffentlich war es nicht die alte Schellenbrink, die ging ihm mit ihrem Getue in letzter Zeit gewaltig auf den Keks.
Vielleicht war es Monika? Die hatte zwar angekündigt, sie wolle übers Wochenende wegfahren. Aber womöglich war etwas dazwischen gekommen. Oder sie war früher zurück als gedacht. Es könnte durchaus sein, dass ihr die kleine Auseinandersetzung leid tat und sie war gekommen, um sich zu entschuldigen. Seine Hoffnung zerstob, als ihm einfiel, dass sie bis jetzt noch jeden ihrer Besuche telefonisch angekündigt hatte.
Das Dunkle, Bedrohliche kroch erneut in sein Gehirn. Die Ahnung, dass es derjenige war, der vorhin seine Nummer gewählt hatte, verstärkte sich. Dieser Briefeschreiber, der nicht locker ließ.
Einen Moment überlegte er, das Klingeln zu ignorieren, das zunehmend ungeduldiger wurde. Wer immer vor seiner Tür stand, er gab nicht so leicht auf.
Gut, er würde sich stellen. Die Dinge zurechtrücken. Alles klären und danach konnte jeder in sein Leben zurückkehren.
Als er aufstand, durchzuckte ihn der Schmerz in kleinen wiederkehrenden Wellen und verstärkte sich bei jedem Schritt. Am Montag muss ich zum Arzt, dachte er. Unbedingt. Das kann man nicht länger anstehen lassen. Eine Spritze und alles würde gut werden. Es war ja nicht das erste Mal.
Das Schloss klickte leise, als er die Tür öffnete.
Bonn, Venusberg
3. Kapitel
Mühsam setzte die alte Dame einen Fuß vor den anderen. Keuchte. Stieg Stufe um Stufe die Treppe hinauf. Sicher, sie hätte den Aufzug nehmen können. Doch sie mied ihn, so lange es ging. Dieser schwebende Käfig bereitete ihr Platzangst, auch wenn er eigentlich eine Erleichterung sein sollte. Doch sie fürchtete stets, die Tür könne sich nicht mehr öffnen und sie wäre eingesperrt wie damals im Bunker. Außerdem wollte sie in Bewegung bleiben. So verordnete sie sich selbst Treppenstufengehen, auch wenn ihr dies zunehmend schwerer fiel.
Die Dame mit den weißen ondulierten Löckchen trug eine Seidenbluse mit gebundener Schleife, einen dunklen Rock und nicht ganz passende braune Schnürschuhe. Ihre Füße hatten sich im Lauf der Jahre verformt. Angefangen hatte dies mit viel zu kleinen Schuhen im Krieg, als man alles verloren hatte und nahm, was andere übrig ließen. Und sich auch noch dankbar dafür erweisen musste.
Einige Orthopäden hatten sich an ihr abgearbeitet. Doch Füße, die sich im Kindesalter verformt hatten, wurden nie mehr so wie sie sein sollten. Auch wenn man sie zu richten versuchte. Das kann man auch auf den Charakter übertragen, dachte sie oft, wenn sie heutigen Kindern begegnete. So ohne Respekt vor dem Alter. Ohne Rücksicht. Und mit einer Ausdrucksweise, die einem die Röte ins Gesicht trieb. Ganz anders als wir früher waren. Wir haben gehorcht und gekuscht. So verkehrt war das nicht, wie uns das alle einreden wollen. Wir wussten wenigstens, was sich gehört.
Nur noch zwei Stufen. Dennoch verharrte sie einen Moment. Sie atmete schwer. Sie musste zugeben, dass das Treppensteigen ihr unsägliche Mühe bereitete. Vielleicht sollte sie ihre Angst überwinden und doch den Aufzug benutzen. Wenigstens ab und zu.
Von oben kamen leichte Schritte die Treppe herunter. Eine junge Frau im luftigen Sommerkleid tänzelte ihr entgegen. »Hallo Frau Schellenbrink.«
Sie grüßte höflich zurück. Der Name der jungen Hausbewohnerin, die noch nicht allzu lange hier wohnte, fiel ihr nicht auf Anhieb ein.
Die junge Frau blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Also, jetzt sagen Sie mal ehrlich, das ist doch nicht mehr normal, wie das hier stinkt.«
»Wie bitte?«
»Hier stinkt’s bestialisch.« Die junge Frau deutete auf die Wohnungstür von Herrn Blankenhain.
»Also, ich rieche nichts.«
»Wirklich nicht?« Ungläubiger Gesichtsausdruck. Die junge Frau schluckte. Suchte nach einem Taschentuch, drückte es auf die Nase. »Das kann man nicht mehr aushalten. So schlimm ist das. Und Sie riechen wirklich gar nichts?«
Die ältere Dame zierte sich ein wenig. Sie dachte daran, wie ihre fünfzehnjährige Enkelin, die sie in vielem nicht mehr verstand, letztens respektlos geäußert hatte: Also bei dir stinkt’s vielleicht, Oma. Das war ihr furchtbar unangenehm gewesen.
»Haben Sie den Herrn Blankenhain in den letzten Tagen gesehen?«, fragte die junge Frau.
Ach ja, Heribert. Sie hatte sich schon öfter gefragt, weshalb er sich so rar machte. Im Alter sollte man doch zusammenhalten. Schließlich war niemand davor gefeit, alt zu werden. Auch wenn er so tat, als könne er noch immer Bäume ausreißen.
Frau Schellenbrink schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mehr besonders gesellig. Früher ja, da blieb er immer mal stehen für ein Schwätzchen. Aber in letzter Zeit …« Das Alter veränderte die Menschen. Sie wusste schließlich, wovon sie sprach. »Womöglich hat er nur vergessen zu lüften«, meinte sie halbherzig.
»Also ungelüftet riecht anders«, erwiderte die junge Frau und blickte vielsagend.
»Sie meinen doch nicht …?« Frau Schellenbrink schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
»Ich denke, da sollte sich mal einer kümmern.«
»Sie glauben …?« Frau Schellenbrink wagte nicht weiterzusprechen. Blitzartig fielen ihr Schlagzeilen ein, die von älteren Menschen berichteten, die tagelang, gar wochenlang tot in ihrer Wohnung lagen, ohne dass es jemand bemerkte. Und sie dachte an den anklagenden Tenor solcher Artikel: Unsere Gesellschaft droht zu vereinsamen. Niemand kümmert sich mehr um die Alten und Alleinlebenden.
Aber nein, nicht in ihrem Haus. Da passierte so etwas nicht. In ihrem Haus achtete man aufeinander.
»Haben Sie denn schon mal bei ihm geklingelt?«, stammelte sie.
»Geklingelt. Geklopft. Da tut sich nix. Ich ruf jetzt die 110.«
Bonn, Hollsteinkolleg
4. Kapitel
Das Gespräch mit Paul Behrends ging Henrike Leipold nicht mehr aus dem Kopf. Erziehungswissenschaften und Psychologie habe er studiert und schreibe gerade an seiner Doktorarbeit. Nun benötige er ihre Hilfe. Sie sei doch Lehrerin für Geschichte.
»Hauptsächlich für Deutsch«, hatte sie geantwortet, »und ja, auch für Geschichte. Aber nur im Nebenfach.«
Es ginge um das Thema Heimerziehung. Ungefähr ab dem zweiten Weltkrieg bis in die Anfänge der siebziger Jahre.
Krieg und Nachkriegszeit. Das erschien ihr eine große und unterschiedlich geprägte Zeitspanne für eine Doktorarbeit. »Ich wüsste jetzt nicht, wie ich Ihnen da helfen könnte«, hatte sie etwas ratlos eingeworfen.
»Meine Recherchen haben ergeben, dass es dazu in Ihrer Schule höchstwahrscheinlich Unterlagen gibt.«
»Was für Unterlagen denn? Und warum wenden Sie sich nicht an den Direktor?«, hatte sie überrascht und gleichzeitig etwas abwehrend geantwortet.
Er habe bereits mit dem Direktor gesprochen, versicherte Paul Behrends. »Herr Novak blockt jedes Mal ab und zeigt kein großes Interesse, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen.« Obwohl er bereits mehrmals nachgehakt habe, sei er immer wieder vertröstet worden. Deshalb wende er sich jetzt an sie.
Henrike war erst seit einem Jahr Lehrerin am Hollsteinkolleg, ihr war bekannt, dass das Internat auf eine lange und nicht ganz lineare Geschichte zurückblickte. Doch Genaueres dazu wusste sie nicht.
»Ihr Haus hat eine sehr große Bedeutung für meine Recherchen«, sagte der Student eindringlich. »Es war eines der wenigen Kinderheime, das den Krieg unbeschadet überstanden hat.«
»Es ist immer ein christliches Haus gewesen, das früher von Diakonissen geleitet wurde«, sagte sie. »Was wollen Sie denn herausfinden?«
»Nun. Es geht darum, die Rolle der Heime im Kriegs- und Nachkriegs-Deutschland zu untersuchen«, begann er zu erläutern. »Was dort die Regel war, wurde lange Zeit als ein Randphänomen angesehen, nicht weiter bemerkenswert. Aber da liegt einiges im Argen. Das will ich in meiner Dissertation herausarbeiten.«
»Also, dass in unserem Haus was nicht mit rechten Dingen zuging, wie Sie andeuten, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, hatte sie widersprochen. »Das hätte man doch längst herausgefunden. Ständig hört man von runden und eckigen Tischen zu diesem Thema.« Ein leidiges Thema, gewiss. Das man nur allzu lange negiert hatte. Doch erst kürzlich hatte sie von einer Studie gehört, die die Kirche selbst in Auftrag gegeben hatte. An einem katholischen Internat in der Eifel waren über Jahrzehnte hinweg Jungen gequält und missbraucht worden. Doch der Kölner Kardinal war nicht auf Abwehrhaltung gegangen, sondern hatte sich schockiert und bestürzt gezeigt. Man werde alles daransetzen, die Vorfälle lückenlos aufzuarbeiten, hatte er erklärt. Die Opfer waren in aller Form um Vergebung gebeten worden.
»Was wissen Sie denn von der Vergangenheit Ihres Hauses?«, fragte Behrends.
»Nun … äh …«
»Sehen Sie. Wahrscheinlich hat man Ihnen gesagt, dass die kirchliche Leitung des Heims die Garantie dafür bot, bei Ihnen sei alles bestens gewesen. Dieses Argument höre ich leider immer öfter.«
Oh nein, hoffentlich war das nicht so ein Spinner und Quertreiber, die überall nach Ungemach suchten. »Und das Bewusstsein hierfür möchten Sie ändern?« Sie merkte, dass ihre Stimme leicht spöttisch klang. Was ihr augenblicklich leid tat. Aber der Student machte einen reichlich missionarischen Eindruck auf sie. Vielleicht hätte er besser Theologie studieren sollen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich fast täglich auf Ungeheuerliches stoße. Die Rolle der Kinderheime ist noch lange nicht aufgearbeitet. Auch nicht mehr als siebzig Jahre nach dem Krieg«, sagte er. »Wie heikel das Thema immer noch ist, merkt man ja auch an der Reaktion Ihres Direktors.«
»Und was erwarten Sie von mir?«, fragte sie leicht ungehalten.
»Nun, was ich bis jetzt herausgefunden habe, ist ziemlich schlimm. Und ich nehme mal an, Ihr Direktor möchte ungern an das erinnert werden, was seine Schule mit der damaligen Zeit verbindet. Wie so viele in seiner Lage, leider. Dabei können wir doch nur aus unserer Vergangenheit lernen und es nützt niemandem, wenn wir sie verleugnen.«
»Was meinen Sie denn konkret?«, fragte sie irritiert.
Er zögerte einen Moment. »Ich habe unter anderem herausgefunden, dass mit ziemlicher Sicherheit während des Krieges im Hollsteinhof Tötungen im Rahmen der ›Aktion T4‹ durchgeführt wurden.«
»Was sagen Sie da?«, rief sie entsetzt aus. Ihr Herz begann Blut in ihr Hirn zu pumpen. Der Zeit des Nationalsozialismus mit all seinen Grausamkeiten und Auswüchsen hatte sie sich während des Studiums in besonderem Maße gewidmet. So auch der »Aktion T4«, wie die Nazis ihr »Euthanasieprogramm« bezeichneten, diese unvorstellbare systematische Ausrottung so genannten »unwerten Lebens«. All dies war jedoch sehr weit weg gewesen, war theoretisches Wissen, das an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gehörte. Und nun sollte dies so nah gerückt sein, dass sie sich an einem Ort befand, wo solche Verbrechen ausgeführt wurden? Sie konnte es nicht fassen.
»Hauptsächlich war der Hollsteinhof eine so genannte Zwischenanstalt. Die meisten Kinder wurden in die Tötungsanstalt Hadamar weiter transportiert, da war dann Endstation. Aber es gibt Hinweise, dass auch an Ort und Stelle getötet worden ist. Dazu genügte ein Giftcocktail aus Hustensaft und Luminal. Das zumindest haben meine Recherchen ergeben. Als Todesursache wurde dann Lungenentzündung oder sowas Ähnliches angegeben.« Er hielt einen Moment inne. »Sie wussten nichts davon?«
»Nein. Und ich kann das auch nicht glauben. Unsere Schule ist sehr modern …«
»Heute ja«, fiel er ihr ins Wort. »Doch das war nun mal nicht immer so. Aber nicht die Kriegsjahre sind mein eigentliches Thema, sondern die Nachkriegsjahre der so genannten Fürsorgeheime, wie der Hollsteinhof eines war. Nach dem Krieg hatte sich kaum etwas in Bezug auf die Pädagogik geändert. Noch immer lehrte man nach den Prinzipien Gehorchen und Bestrafen. Die Kinder wurden systematisch entrechtet.«
»Das mag ja sein«, räumte sie ein. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass dies am Hollsteinhof der Fall war. Das Heim galt als vorbildlich.«
»Sehen Sie. Deshalb wäre es doch wichtig, die Originalakten einzusehen und zu prüfen, ob meine Mutmaßungen stimmen. Und dazu bräuchte ich Ihre Hilfe.«
»Ich habe keine Ahnung, wo diese Akten lagern könnten«, rief sie aus.
»Nun, das dürfte doch nicht allzu schwer herauszufinden sein«, meinte er. »Sie sind vor Ort. Und wenn Sie Ihren Direktor danach fragen, hat das eine andere Gewichtung als wenn ich das tue. Sie können ja einfach behaupten, es handele sich um ein Schülerprojekt. Vielleicht ist er dann mitteilsamer. Wissen Sie, das Schlimme ist, dass meine Recherchen ständig dadurch behindert werden, weil Akten angeblich nicht mehr auffindbar sind. Vieles mag ja tatsächlich vernichtet worden sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass man meine Forschung absichtlich blockiert.«
Sie schluckte und schwieg.
»So eine schlimme Sache aufzudecken, müsste doch auch in Ihrem Sinne sein«, appellierte er an ihr Gewissen. »Und zwar möglichst, bevor jemand auf die Idee kommt, alles durch den Schredder zu jagen.«
Seitdem wurde Henrike von einer diffusen Beklommenheit beherrscht. Sie hatte viel über die Worte des Studenten nachgedacht. Hatte Bücher hervorgeholt über diese Naziaktionen, in denen Wörter wie »Menschenmaterial« und »Ballastexistenzen« vorkamen, die man »ausmerzen« müsse. Auch von »Auslöschungsakten« war die Rede. Begriffe, die zum damaligen offiziellen Sprachgebrauch gehörten und an denen sich offenbar niemand störte. Immerhin ging es hier um Menschenleben. Sie hatte redlich versucht, sich in diese Denkweise hineinzuversetzen, doch sie war immer wieder an Grenzen gestoßen.
»Euthanasie« war eine aus dem Griechischen stammende Bezeichnung und bedeutete ursprünglich einen guten, angenehmen und leichten Tod, jedoch die Nazis hatten dieses Wort für ihre Zwecke umgedeutet und ihm eine schlimme, eine furchtbare Bedeutung verliehen. Hilflose Kinder waren nach fragwürdigen Diagnosen aussortiert und getötet worden – und niemand gebot Einhalt. Gab es Schlimmeres?
Seit sie wusste, dass ihre Schule damit in irgendeiner Verbindung stand, war sie bestrebt, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.
Es war nicht allzu schwer gewesen, herauszufinden, dass die gesuchten Akten in einer der Kammern auf dem Dachboden zu finden sein müssten.
Sie erbat sich die Schlüssel vom Hausmeister und stieg die Treppen nach oben bis unters Dach, dorthin, wohin sich normalerweise kein Mensch verirrte. Etliche der oberen Räume standen leer. In manchen fanden sich einige ausgediente Möbelstücke. Metallbetten mit dreiteiligen, durchgelegenen und verfleckten Matratzen zeugten davon, dass hier einstmals Schlafzimmer untergebracht waren. Fadenscheinige Vorhänge hingen an Fetzen herunter. Auf wackeligen Holzschemeln standen abgeplatzte Emailleschüsseln, offenbar frühere Waschgelegenheiten. Fließend Wasser gab es hier oben nicht.
Schließlich hatte sie das Archiv gefunden.
Ein Gefühl von Unwirklichkeit umgab sie, als sie nun etwas ratlos in einem riesigen verwinkelten Raum voller verstaubter und von Spinnweben durchzogener Regale stand, die mit ausgeblichenen grauen Kartons und Schriftstücken jeglicher Art überladen waren. Durch die blinden Fenster drang ein diffuses Licht. Die Luft roch muffig. Hier oben war offensichtlich schon Jahre niemand mehr gewesen. Sie lief an Regalen voller Schuber und aufeinandergestapelter Ordner entlang und wusste nicht, wo in diesem Sammelsurium sie zu suchen anfangen sollte. Ein wenig hatte sie auch Angst davor, auf was sie da womöglich stoßen könnte.
Um sie herum tanzten Staubteilchen und sie musste husten, als sie den erstbesten Pappkarton herauszog, den Deckel öffnete und hineinsah.
Akten aus der Nachkriegszeit befanden sich darin. Eine der an den Ecken abgestoßenen beigen Meldekarten wies als Einweisungsdatum den Januar 1962 auf. Die Unterlagen aus der Nazizeit mussten folglich woanders lagern. Sie schob den Karton zurück ins Regal.
Beim genaueren Hinsehen sah sie ab und an Vermerke, die auf Jahreszahlen hindeuteten. Doch sehr geordnet schien das alles nicht zu sein. Einzelfallakten mit persönlichen Angaben und Berichten lagen neben Sammelakten, offenbar nach dem Zufallsprinzip archiviert.
Sie begann zu schwitzen. Hier auf diesem Dachboden war es unerträglich heiß. Sie ging in die Hocke und zog aus dem unteren Regalboden einen Schuber heraus. Auf dem bräunlich verblichenen Kartondeckel war mit Frakturschrift ein Name vermerkt. Staub flog auf, der in der Nase kitzelte. Sie schlug die zuoberst liegende Akte auf. Auf der ersten Seite die üblichen Nazi-Insignien: Hakenkreuz und Reichsadler. Auf bröseligem, vergilbtem Papier standen Namen, Geburtsort und Geburtsdatum eines Jungen, der 1941 geboren war. Dahinter war eine Nummer vermerkt. Als Dreijähriger war er in das Kinderheim Hollsteinhof eingewiesen worden. Kopfschüttelnd las sie einen Antrag auf Pflegschaft, der abgelehnt wurde, da das Kind geistig nicht gesund sei und als minderbegabt angesehen werden müsse. Deshalb sei es nicht vermittelbar.


