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Gott sei Dank haben sich die Zeiten geändert, dachte Henrike. Heutzutage regte sich niemand mehr über ein uneheliches Kind oder über ein geschiedenes Paar auf. Höchstens ein paar ewig Gestrige.
Sie hatte dem Studenten versprochen, über ein Schüler-Projekt nachzudenken, denn alleine konnte sie unmöglich diese vielen Akten sichten. Doch jetzt kamen erst mal die Ferien. Zwei Wochen wollte sie zusammen mit Martin auf Lanzarote verbringen. Der Urlaub war bereits gebucht und sie freute sich darauf.
Wahrscheinlich war die Sache mit dieser Lina ganz harmlos und löste sich in Wohlgefallen auf, wenn sie Martin danach fragte. Sie sollte endlich aufhören, die Dinge überzuinterpretieren. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das war es doch, was sie ihren Schülern beizubringen versuchte: Die Sätze für sich sprechen lassen. Die Wirkungsabsichten herauslesen. Zusammenhänge erkennen. Sachlich bleiben. Und nicht über das Ziel hinausschießen.
Sie öffnete die Tür zum Klassenraum und trat ein. Aus ihrer Tasche nahm sie die Reclam-Ausgabe von Büchners Woyzeck und lehnte sich gegen ihr Pult. Ihr Blick fiel auf den von ihr angestrichenen Satz »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.«
Glatt abergläubisch könnte man da werden.
Sie straffte die Schultern, bat um Ruhe.
»In der letzten Stunde haben wir über den historischen Ursprung des Stückes gesprochen. Wer kann dazu etwas sagen?«, forderte sie die Schüler auf.
Das Gemurmel legte sich. Ein Mädchen mit rötlichen blonden Locken und blasser Haut hob zaghaft die Hand. Sah unsicher nach rechts und nach links in grinsende oder gelangweilte Gesichter.
»Denise, bitte.«
»Das Stück geht auf ein wahres Verbrechen zurück. Der Perückenmacher Woyzeck hat seine ältere Geliebte erstochen. Büchner wollte daraus ein Drama machen, das jedoch ein Fragment geblieben ist«, rezitierte Denise. Die Zahnspange ließ ihre Aussprache ein wenig spuckig und verwaschen klingen. »Büchner hat mehrere Versionen hinterlassen. Die Szenenabfolge variiert in den verschiedenen Fassungen. Was uns heute vorliegt, sind Rekonstruktionsversuche.«
»Sehr schön«, lobte Henrike. »Büchners Woyzeck ist eins der meistgespielten Theaterstücke. Das auch noch heute seine Gültigkeit hat, obwohl es schon so alt ist. Könnt ihr euch vorstellen, warum das so ist?«
Die Tür ging auf, ein Mädchen, deren Kopf von einem weißen Tuch umhüllt war, betrat den Raum. »Entschuldigung. Mein Bus hatte Verspätung«, sagte sie und huschte auf ihren Platz.
Henrike wollte sich ihre Missbilligung nicht anmerken lassen. Dass der Bus Verspätung hatte, glaubte sie nie und nimmer. Dafür kam das viel zu oft vor. Nayla legte es einfach wieder einmal darauf an, zu provozieren. Beide Eltern stammten aus dem Iran, aber Nayla war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihr Tuch sei keine religiöse Kopfbedeckung, sondern ein zur Schau getragener Protest, das hatten ihre Eltern Henrike gegenüber betont. Beide waren weltoffene und bestens integrierte Menschen und hätten es lieber gesehen, wenn ihre ausgesprochen intelligente Tochter sich ebenfalls mehr den weltlichen Gepflogenheiten anpassen würde. Das hatten sie Henrike bei der letzten Elternsprechstunde unmissverständlich mitgeteilt und sie um entsprechende Unterstützung gebeten. Doch so einfach war das nicht. Zumal Nayla sämtliche Manöver in dieser Hinsicht sofort durchschaute. Insofern zog Henrike es vor, die Schülerin nicht zurechtzuweisen und ignorierte sie einfach.
»Ja, Sebastian, du wolltest was sagen?«
Der schmale, picklige Junge antwortete mit brüchiger Stimme: »Weil es ein universelles Thema beinhaltet. Woyzeck ist ein einfacher Soldat und verdient nicht viel. Um seiner Freundin Marie und seinem Kind Unterhalt zahlen zu können, ist er gezwungen, noch andere Arbeiten anzunehmen. Er rasiert den Hauptmann und er nimmt an einem medizinischen Experiment teil. Doch auch das reicht nicht aus.« Seine Stimmbruchstimme klang wie das Quieken in diesen lächerlichen Zeichentrickfilmen und stand in völligem Kontrast zu der Ernsthaftigkeit des Gesagten. »Im Grunde geht es darin um einen einfachen, aufs Äußerste gedemütigten Menschen, der nur seine Pflicht erfüllen wollte – und scheiterte.«
Henrike horchte auf. Das klang ja fast wie eine Anklage. Wenn man von der comic-haften Tonlage absah, schwang völlige Verzweiflung in dem Gesagten. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass Sebastian permanent gehänselt wurde. Wegen seiner schmalen Statur, wegen seiner schlimmen Akne. Wegen seiner altmodischen Kleidung. Und wahrscheinlich auch, weil er ein guter Schüler war. Kinder fanden immer einen Grund zur Ausgrenzung, wenn einer anders war als die Masse. Das war auch zu ihrer Schulzeit so gewesen. Vielleicht sollte sie ihn irgendwann zu einem Gespräch unter vier Augen bitten. Ihn zu mehr Selbstbewusstsein ermuntern.
»Sehr gut, Sebastian«, lobte sie. »Und warum, glaubt ihr, bringt Woyzeck am Ende Marie um?«
Denise hob die Hand. Henrike sah über sie hinweg. »Was ist mit den anderen?« Ihr Blick wanderte in Naylas Richtung, doch die saß apathisch da und hatte den Kopf gesenkt.
Auch die anderen Schüler starrten mit unbeteiligten Mienen vor sich hin, fläzten an ihren Tischen, scharrten mit den Füßen. Maik und Luis, zwei schlaksige Sitzenbleiber, die regelmäßig den Unterricht störten, redeten wieder einmal ungeniert miteinander. Obwohl sie wusste, was folgen würde, musste sie dem Einhalt gebieten.
Kurz dachte sie an das, was oben auf dem Dachboden lagerte. Von solchen Schülern hätte man sich früher nicht auf der Nase herumtanzen lassen, sondern man hätte ihnen drakonische Strafen auferlegt. Doch die Zeiten hatten sich geändert und das war auch gut so. Obwohl ein wenig Disziplin nicht schaden würde, ein Begriff, der in den Ohren dieser Schüler jedoch ein Fremdwort sein dürfte.
»Maik, du unterhältst dich gerade so angeregt mit deinem Nachbarn. Willst du uns nicht an deinen Erkenntnissen teilhaben lassen?«
Der Angesprochene sah sie provozierend mit halb geschlossenen Lidern an. Legte den Arm auf die Tischplatte, stützte sein Kinn auf die Faust. Sein Blick drückte unverhohlen seine Scheiß-drauf-Haltung aus. »We don’t need no education«, rief er theatralisch aus. »We don’t need no thought control.«
Sein Sitznachbar fühlte sich angestachelt. »Hey, teacher, leave them kids alone«, fuhr er fort.
Die Klasse lachte. Die beiden Klassenclowns wandten sich nach rechts und nach links, Triumph in den Augen. Hatten sie es der Alten da vorn mal wieder gezeigt!
In Situationen wie diesen ruhig und gelassen bleiben, kostete furchtbar viel Kraft. Sie dachte an das letzte Gespräch mit Maiks Mutter. Sie hatte mit beiden Eltern sprechen wollen. Doch Maiks Vater, ein viel beschäftigter Geschäftsmann, war wieder einmal unterwegs. Die Mutter, eine künstlich wirkende Frau mit Wespentaille und viel Make-up im Gesicht begann sofort ihr Leid zu klagen. Maik sei nach wie vor renitent, es werde immer schlimmer mit ihm, er gehorche einfach nicht, sie käme nicht an ihn heran. Ob sie, Henrike, als seine Vertrauenslehrerin nicht härter durchgreifen könne?
Ein Gespräch, wie sie schon etliche geführt hatte. Henrike kam es jedes Mal vor, als sei die Mutter so sehr in ihre eigenen Schwierigkeiten verstrickt, dass sie für die Probleme ihres Sohnes kein Gespür mehr hatte. Von ihr als Lehrerin wurde – wie so oft – erwartet, dass sie die Erziehungsdefizite ausgleichen und den Nachwuchs in die richtigen Bahnen lenken sollte. Eines dieser Defizite war unzweifelhaft mangelnder Respekt, doch wenn man solches diesen Kindern nicht unmissverständlich von klein auf beibrachte, hatten es die Pädagogen schwer mit ihnen.
»Ihr wollt mir doch jetzt nicht mit diesem alten Käse kommen?«, trumpfte sie auf. »Das Lied bezieht sich auf eine völlig andere Zeit und völlig andere Lehrmethoden.« Sie hörte selbst, wie lehrerhaft sie klang. So konnte man Typen wie diese beiden Störer nicht beeindrucken, das wusste sie. Zurück provozieren war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: »Ihr zieht es also vor, dumm zu sterben. Nun, das ist euer Problem, nicht meins. Also haltet jetzt einfach mal die Klappe und stört die anderen nicht.«
Die beiden verzogen die Mundwinkel und rollten genervt mit den Augen. Immerhin blieben sie still.
Sie hatte sich schon manches Mal gefragt, was aus Schülern wie diesen beiden Sitzenbleibern später mal werden würde. Und was sie dagegen tun könnte, damit sie selbst erkannten, wie sehr sie sich mit ihrem Gehabe schadeten. Ihren Einfluss schätzte sie jedoch denkbar gering ein. Learning by doing, diese Methode war noch immer erfolgversprechender als Vorhaltungen zu machen. Ob sie einfach ihre Erfahrungen machen mussten und sehen, wo sie blieben? Erfahrungen kann einem niemand anders abnehmen, klar. Aber man brauchte Menschen, Verbündete, die man respektierte und die einem die richtige Richtung aufzeigten. Lehrer konnten durchaus solche Verbündete sein. Wenn man es denn zuließ. Sie hatte jedoch viel damit zu tun, diese Dinge immer wieder abzufedern.
»Büchner, der sehr jung starb, hätte dieses Stück wahrscheinlich nicht ohne fundiertes Medizinstudium schreiben können. Es geht darin auch um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der wahre Woyzeck ist aufgrund medizinischer Gutachten für zurechnungsfähig erklärt worden. In seinem Stück jedoch lässt Büchner diese Frage offen«, fuhr sie mit dem Unterrichtsstoff fort.
Äußerlich mimte sie weiterhin die überlegene Lehrerin, innerlich seufzte Henrike. Sie gestand sich – wieder einmal – ein, dass sie sich Deutschunterricht so nicht vorgestellt hatte. So vieles scheiterte an der Interesselosigkeit ihrer Schüler. Gut, sie waren alle mitten in der Pubertät. Und in dieser Phase der heftigen Hormonschübe und der allgemeinen Verunsicherung musste man sich irgendwie auflehnen, auch ihre eigene Pubertät war ihr noch recht lebendig vor Augen. Aber mein Gott, musste das alles so anstrengend sein? Und musste sich das immer wiederholen?
Mit Denise und Sebastian machte der Unterricht Spaß, aber für ihre konstruktiven Bemerkungen wurden sie von vielen anderen als Streber abgeurteilt. Über Nayla wunderte sie sich oft. Ausgesprochen klugen Beiträgen ihrerseits konnten manchmal höchst dümmliche Aussagen folgen, die verdeutlichten, dass sie irgendetwas Provokantes nachplapperte, das sie irgendwo gelesen hatte. Zu Woyzeck hatte sie bis jetzt noch nichts Differenziertes beitragen können.
Henrike war sich sicher, dass die meisten ihrer Schüler noch nicht einmal das Stück gelesen hatten. Obwohl das ihre Hausaufgabe gewesen war. Und obwohl es ziemlich kurz war.
Gut, Büchners Drama war 180 Jahre alt. Aber gleichzeitig hochmodern, weil es so viel über soziale Konstellationen und zwischenmenschliche Kommunikation aussagte. Und über das Wesen des Menschen. Büchner, der wie viele gute Schriftsteller, seiner Zeit voraus gewesen war, hat den Finger in offene Wunden gelegt. Natürlich ist die Sprache altbacken und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist ein Stück Literaturwissenschaft. Ein wichtiges Stück Literaturwissenschaft. Und das Fragmentarische setzt viel Phantasie frei. Darauf hatte sie eigentlich gesetzt.
»Wer kann was über den Inhalt wiedergeben?«, forschte sie weiter.
Stille. Nur ihre beiden Lieblingsschüler hoben wieder die Hände.
»Ich bin sicher, Denise und Sebastian können das. Was ist mit euch anderen?«
Wie sie da saßen. Coolness vortäuschend. Sich vor lauter demonstrierter Lässigkeit auf ihren Stühlen fläzten, das Gesicht in die Hände gestützt. Dabei blasiert in die Gegend schauen. Langeweile aussendend. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Pädagogik früherer Jahre zurück. Als man einfach nach einem Stock griff und sich dadurch Respekt verschaffte. Wer nicht hören will, muss fühlen. Damals hatte man gehört!
Was denk ich bloß für einen Blödsinn, ging es ihr durch den Kopf. Als ob man die Zeit zurückdrehen könnte.
»Gut, dann lesen wir jetzt einige Dialoge. Vielleicht wird euch da manches klarer. Tobias, du bist der Tambourmajor. Sven ist der Hauptmann, Nayla liest die Marie. Und du, Sebastian, bist der Woyzeck.« Sie verteilte sämtliche Rollen aus dem Stück.
Die meisten der angesprochenen Schüler murrten. Schließlich begannen sie, auf äußerst gelangweilte Weise ihren jeweiligen Text herunterzuleiern.
Henrike hörte der Litanei eine Weile zu. Als Sven den Satz des Hauptmanns stotterte: »Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke«, reichte es ihr.
»Och, Leute!«, rief sie genervt aus. »Das klingt ja grauenhaft.« Sie wiederholte den Absatz in einer angemessenen Intonation. »So, und jetzt erzählt euch Denise, worum es in diesem Stück geht.«
Nachdem Denise den Inhalt strukturiert und treffend wiedergegeben hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion.
»Der Woyzeck ist eifersüchtig auf den Tambourmajor«, sagte jemand. »Deshalb ermordet der später die Marie.« – »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf, das merkt man daran, dass der Stimmen hört.« – »Auf dem trampeln alle herum.« – »Was soll das eigentlich mit den Erbsen? Hab ich nicht verstanden.« – »Na, der gibt sich doch als Versuchskaninchen her. Auf so ne blöde Idee muss man erst mal kommen.« – »Vielleicht kommt man auf solche Ideen, wenn man arm ist und kein Geld hat!« – »Also ich hab immer noch nicht richtig verstanden, warum der die Marie umgebracht hat. Und nicht den Tambourmajor oder den Doktor.«
Henrike war erstaunt. Sogar Maik und Luis hatten sich an der lebhaften Diskussion beteiligt. Auch Vanessa, das Alphaweibchen mit der honigblonden Mähne und dem lässigen Outfit, die gern im Schulhof die lautstarke Anführerin herauskehrte, aber im Unterricht eher mit Schweigsamkeit glänzte, hatte einen Beitrag geleistet, der noch nicht mal so verkehrt war.
Mit einem Mal war es still. Alle Augen waren auf Henrike gerichtet.
»Sehr gut!«, nickte sie anerkennend. »Ich glaube, ihr habt verstanden, dass Woyzeck nicht einfach mal so die Marie umgebracht hat, sondern dass seiner Tat ein vielschichtiger Prozess vorausgegangen ist.«
»Sie meinen also, ein Mord sei zu entschuldigen? Weil die anderen dran schuld sind?« Nayla hatte diese Frage gestellt. So wie sie sie anschaute, war sie wirklich an ihrer Antwort interessiert.
»Das ist nicht so einfach zu beantworten. Was wir hier im Unterricht tun, ist die Tat vom Ende her beurteilen. Und das, was dazu führte, herauszuarbeiten. Und da gibt uns Büchner einiges an die Hand.«
Sie freute sich über die Lebhaftigkeit ihrer vorher so trägen Schüler.
»Das nächste Mal schauen wir uns genauer die Sache mit dem medizinischen Experiment an.« Sie klappte das gelbe Reclam-Heftchen zu. Wenn die Schüler dann genauso gut mitarbeiteten, konnte sie sich auf die nächste Stunde freuen.
Ein Gedanke kam plötzlich wie aus dem Nichts angeflogen: Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wie sich wohl ein Leben ohne Martin anfühlte.
Bonn, Venusberg
8. Kapitel
Bei Schellenbrink auf der anderen Seite des Flurs öffnete niemand. Helena ging ein Stockwerk höher und klingelte bei Beck. Eine junge Frau im luftigen Sommerkleid öffnete sofort und bat sie in die Wohnung, in der ein brummender Ventilator vergeblich versuchte, die warme Luft etwas abzukühlen.
»Sie hatten uns benachrichtigt.« Helena zückte ihren brandneuen Dienstausweis. Blau und fälschungssicher ausgestattet mit Hologrammfolie. Das Wort »Polizei« neben dem nordrhein-westfälischen Landeswappen hob sich deutlich hervor. Ihr Portrait war das typische Produkt eines nicht besonders talentierten Fotografen, sie war frontal abgelichtet worden, das schmale Gesicht glänzte, die dunklen Haare trug sie zurückgebunden. Ihr halbherziges Lächeln sah immerhin einigermaßen seriös aus. Aber sie glich darauf nicht im Geringsten dem Bild, das sie von sich im Kopf hatte.
Es gab eine Zeit, da hatte sie ihr Haar in allen möglichen und unmöglichen Farben gefärbt. Rot, blau, grün, rosa. Bis sie irgendwann dahinterkam, dass es nicht auf die Haarfarbe ankam, schon gar nicht auf eine allzu künstliche. Seitdem ließ sie ihr Haar wachsen, wie es ihm gefiel, in seiner Naturfarbe, für die die Friseurbranche keine richtige Bezeichnung hatte, irgendwas zwischen schwarz und braun. Von den vielen kleinen Narben, die die zahlreichen Piercings in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, konnte man auf dem Foto nur die in der linken Augenbraue ausmachen. Und das auch nur, wenn man genauer hinsah.
Marianne Beck warf einen kurzen Blick auf den Ausweis und nickte. »Ich hab den Gestank bemerkt und … Na ja, man vermutet ja nicht gleich das Schlimmste. Aber nachdem der Herr Blankenhain auch nicht auf mein Klingeln und Klopfen hörte, dachte ich, man muss was tun. Und jetzt …« Sie hob den Blick und sah Helena direkt in die Augen. »Sagen Sie, ist er wirklich ermordet worden?«
»Haben Sie Herrn Blankenhain gut gekannt?«, fragte Helena statt einer Antwort.
Aber auch die junge Frau antwortete mit einer Gegenfrage: »Kommen Sie aus Berlin? Ich mein, ich bin öfter in Berlin – es ist so schön dort, so ganz anders als …«
»Ja, ich komme aus Berlin«, fiel Helena ihr ins Wort. »Aber das tut momentan nichts zur Sache. Bitte beantworten Sie meine Frage.« Sie hoffte, dass das nicht allzu barsch klang, aber momentan war absolut keine Zeit für unverbindlichen Smalltalk.
»Entschuldigen Sie.« Die junge Frau fühlte sich ertappt. Strich sich übers Kleid. Es gab ein leise knisterndes Geräusch. »Also nein, ich hab Herrn Blankenhain nicht gut gekannt. Ich wohne ja erst seit Kurzem hier, ich hab vorher in Tannenbusch gewohnt, nach meiner Scheidung musste ich mir eine andere Bleibe suchen. Wie das so ist.«
Sie hielt kurz inne. Helena warf ihr einen Blick zu, der ihr hoffentlich deutlich signalisierte, dass sie endlich zur Sache kommen sollte.
»Ich kenne die Mitbewohner nur von kurzen Begegnungen aus dem Treppenhaus«, fuhr Marianne Beck fort. »Hier wohnen fast nur ältere Leute. Niemand in meinem Alter. Da sagt man sich guten Tag und geht seinen Weg. Ich hab nicht den Eindruck, dass man hier mehr voneinander will. Ist eigentlich schade. Wenn’s nach mir ginge, hätte ich zu allen ein gutes Verhältnis. Man weiß ja nie, was kommt und wie man einander braucht. Die Frau Schellenbrink zum Beispiel, die direkte Nachbarin von Herrn Blankenhain, die muss schon ewig hier wohnen. Die sagte doch glatt, dass sie nichts riecht. Dabei stank das bestialisch. Also, wenn Sie mich fragen: Die wollte nichts riechen. Die wollte ihre Ruhe.«
»Ich hab bei ihr geklingelt. Sie hat nicht aufgemacht.«
»Sehen Sie! Ich bin sicher, die hat das gehört und hat einfach nicht aufgemacht. Die Polizei könnte ja vielleicht ein paar Fragen stellen. Mich hat sie auch schon öfter vor der Tür stehen lassen, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie da war.«
»Sie meinen, sie will sich aus allem raushalten?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es furchtbar stank. Und dass niemand was unternommen hat.«
»Außer Ihnen.«
Sie zuckte die Schultern.
»Wissen Sie etwas über Herr Blankenhains Freunde, Familienangehörige, oder womit er seine Zeit verbracht hat?«
Marianne Beck schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Da kann ich Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen.«
»Gut. Dann danke ich Ihnen.« Helena wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie … man erzählt sich, der Herr Blankenhain sei hier in Bonn kein Unbekannter. Früher war er mal aktiv in der Politik. Aber was er genau gemacht hat, weiß ich nicht. Ich hab mich nie besonders für Politik interessiert.« Die junge Frau lächelte verlegen mit schief gelegtem Kopf.
Helena nickte ihr zu, ging ein Stockwerk tiefer und klingelte nochmals bei Frau Schellenbrink. Das tat sie mehrmals hintereinander. Als sich immer noch nichts rührte, klopfte sie und rief laut den Namen. Schließlich wurde ihr aufgetan.
So wie es in der Wohnung roch, glaubte Helena aufs Wort, dass mit den olfaktorischen Fähigkeiten der alten Dame nicht mehr alles in Ordnung war. Der säuerlich-muffige Geruch stand in eklatantem Gegensatz zu dem eleganten, gepflegt wirkenden Äußeren der alten Dame, die mit ihren weißen Löckchen und der Perlenkette ein wenig an die Queen erinnerte. Sie hatte sich in einer Wohnung, ähnlich der ihres Nachbarn, eingerichtet. Die Thonetstühle um den Kirschholz-Esstisch waren wahrscheinlich echt. Auf dem Sofa schonten Spitzendeckchen die Armablagen.
»Ach Gott«, begann Frau Schellenbrink sofort zu jammern. »Ach Gott, so ein Ende. Nein. Ich dachte, wir leben hier in einem sicheren Haus, aber da muss man ja furchtbare Angst haben. Man hört ja immer wieder von diesen Gangstern, die es auf alte Leute abgesehen haben …«
Helena unterbrach abrupt ihren Redefluss. »Haben Sie in den letzten Tagen etwas Verdächtiges bemerkt? Fremde Personen im Haus?«
»Wie?« Frau Schellenbrink schien noch ganz in unvorstellbare Schreckensszenarien versunken.
Helena wiederholte deutlich ihre Frage.
»Nein. Doch, warten Sie. Da kam immer eine junge Frau. Ich meine sogar, der Herr Blankenhain hätte mal gesagt, das sei seine Tochter. Die helfe ihm bei irgendwas. Ich weiß aber nicht, wobei. Vielleicht hat er es erzählt, aber ich hab’s nicht richtig verstanden.« Sie wies auf ihre Ohren. Zog bedauernd die Schultern hoch. »Ich hab zwar ein Hörgerät, aber das taugt nix.«
»Wie heißt diese Tochter?«
»Bitte?«
Helena stellte die Frage eine Tonhöhe lauter.
»Das weiß ich nicht. Sie hatten wohl erst spät miteinander Kontakt. Vorher habe ich sie nie hier gesehen.«
»Was heißt das?«
»Na, erst so seit einem guten Jahr. Seitdem war sie regelmäßig hier. Ungefähr einmal die Woche. In der letzten Zeit öfter, fast jeden zweiten oder dritten Tag. Ehrlich gesagt, ich hab mich schon ein bisschen gewundert, warum die so oft kam. Er war ja schließlich nicht pflegebedürftig oder so und kam gut zurecht.«
»Herr Blankenhain war Politiker?«, fragte Helena.
Frau Schellenbrink nickte. »Er war sehr angesehen hier in Bonn während seiner aktiven Zeit. Aber die ist schon lange vorbei. Heute kennt ihn kaum mehr jemand.«
»Haben Sie sonst etwas Ungewöhnliches beobachtet?«
Frau Schellenbrink hob die Schultern. Ruckte wie eine Taube mit dem Kopf. Schaute ängstlich. Blinzelte. »Doch, warten Sie. Da war am Freitag jemand hier.«
»Am Freitag? Welche Uhrzeit?«
»Das weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht war es auch Samstag. Doch, jetzt weiß ich es wieder: Es war Samstag. Gegen Abend. Glaub ich. Ein Mann, er sah etwas … nun ja, ramponiert aus. So mit strähnigen Haaren und unrasiert. Fast wie ein Obdachloser. Ich hab mich noch gewundert, was der wohl von Heribert, also Herrn Blankenhain, will. Der war ja immer …«
»Wie alt war der Mann?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht sechzig. Oder auch älter. Bei diesen … Menschen ist das ja immer etwas schwierig zu schätzen. Und so genau hab ich nicht hingesehen. Ich sitze ja nicht hinter der Tür und lauere.«
Nein, ganz bestimmt nicht, dachte Helena.
Bonn, Polizeipräsidium
9. Kapitel
Helena stand am geöffneten Fenster und fächelte sich mit einer zweckentfremdeten Akte frische Luft von draußen zu. Dabei schaute sie hinunter auf die Königswinterer Straße. Wie anders war doch der Klang von Bonn im Vergleich zu dem von Berlin. Und auch der Geruch. Oder bildete sie sich das nur ein? Hier wie dort fuhren Autos, Busse, Motorräder und sonderten ähnliche Geräusche und Gerüche ab.
Sie ging zurück zum Computer, gab den Namen »Heribert Blankenhain« in die Suchmaschine ein und überflog ein paar der Einträge. Sie klickte einzelne Seiten an, hauptsächlich die der führenden Medien und las Eckdaten, Einschätzungen und Kommentare. Vor ihrem geistigen Auge formte sich allmählich das Bild einer schillernden Persönlichkeit, die von der Öffentlichkeit ziemlich kontrovers wahrgenommen wurde. Mit provokanten Äußerungen habe der CDU-Politiker für Unmut gesorgt, hieß es mehrmals. Einige Male wurde Blankenhain als umsichtiger Politiker mit Weitblick gelobt, öfter jedoch registrierte man seine Aktivitäten mit ausgesprochener Häme.
Fotos zeigten ihn als jungen, aufstrebenden Politiker mit vollem dunkelblondem Haar. In späteren Jahren hatte sich sein Haar weißgrau verfärbt, war aber immer noch voll. Auf einem der Fotos hielt ihm die amtierende Weinkönigin eine Traube hin. Lachend versuchte er, eine der Beeren mit dem Mund zu pflücken.


