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Hardy Kerp
„Entscheidet euch,
eh’ es zu spät ist!“
Das gefährliche Virus des Antisemitismus
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.
Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Lektorat: Gerrit Koehler
ISBN 978-3-8372-2453-5
Inhaltsverzeichnis
Blick in den Spiegel
Woher kommt dieser „längste Hass“?
Jüdischer Antizionismus
Antisemitischer Antizionismus
Antisemitismus und Rassismus
Die Irrationalität des Judenhasses
Die Wurzeln des christlichen Antijudaismus
Der Jude Jesus verkündigte das Reich Gottes […] und es kam die christlich-antijudaistische Kirche.
Luther und die Juden
Verschwörungstheorien
Eine Definition
Theoriediskussion
Verschwörungstheorien in Aktion
Das absolut Gute gegen das absolut Böse
Vom Römischen Konspirationismus zum Genozid an den europäischen Juden
Verschwörungstheorien aktuell in den USA und in Deutschland
Verschwörungstheorien gegen die Juden
Die Taten unserer Vorfahren
Jüdische Identität und Solidarität
Das gefährliche Virus des Antisemitismus
Dringender Handlungsbedarf
Das Kommunikationsdilemma
Hass und Persönlichkeitsstruktur
Noch ein Blick in die aktuelle Presse
Gehen oder Bleiben?
Die Juden und das Scheitern des christlichen Europa
Anhang
Zum Autor
Literatur
Blick in den Spiegel
Am 8. Oktober 2019, einen Tag vor dem Angriff eines Antisemiten auf die zum Gottesdienst versammelte jüdische Gemeinde in der Synagoge von Halle, waren in Berlin die wichtigsten Strafverfolger Deutschlands versammelt. Der Twitter mit dem Hashtag #unantastbar hatte sie zusammengerufen: Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (DER SPIEGEL 42/12.10.2019; S.13)
Mit dem Anschlag am folgenden Tag sollte der Antisemitismus in Deutschland nach 1945 eine neue Eskalationsstufe erreichen. „Juden in Deutschland müssen wieder um ihr Leben fürchten.“ Ein hochrangiger Verfassungsschützer befürchtet, dass die Sicherheitsbehörden allein an dieser Aufgabe scheitern werden. (ebenda S. 13)
Der extreme Hass ist eine weltweit vernetzte Bewegung, in die scheinbare Einzeltäter über das Internet eingebunden sind. „Es ist dringend notwendig, die Einzelperspektive zu überwinden und die Netzwerke stärker in den Blick zu nehmen.“ (M. Renner, ebenda S. 16)
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sieht unter dem Aspekt der politischen Motivation „die Rechtsextremen als größte Tätergruppe. Aber die Täter sind demnach auch etwa palästinensische Anti-Israel-Aktivisten, antisemitische Boykottgruppen, radikale Linke.“ (ebenda S. 19)
Bianca Klose, Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin betont, dass die betreffende Tätergruppe nicht nur bei den Extremisten zu finden ist: Um Antisemitismus zu orten, muss man nicht weit nach rechts schauen. Es reicht ein Blick auf die Mitte der Gesellschaft.“ (ebenda)
Die Antisemitismusforscherin Schwarz-Friesel ist schockiert angesichts der Beobachtung, „in welchem Ausmaß und mit welcher Wucht sich im Netz der alte Vernichtungswille zeigt.“ Dabei stellt sie „keine signifikanten Unterschiede zwischen rechtem, linkem oder muslimischem Antisemitismus“ fest. „Der israelbezogene Antisemitismus sei inzwischen eine vorherrschende Ausprägungsvariante“ (ebenda S. 21 f)
Auf die Frage, wann Kritik an Israel antisemitisch sei, antwortete der Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland, Josef Schuster, dass sachliche Kritik an der israelischen Regierung ebenso legitim sei wie Kritik an der deutschen Regierung. „Es gibt aber den 3-D-Test: wird Israel dämonisiert, delegitimiert oder werden doppelte Standards angelegt, ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten. Dann wird Israel gesagt, aber gemeint sind die Juden.“ (ebenda 51/14; 2019, S. 49)
Im gleichen Interview sagte Schuster, dass die Kritik am Siedlungsbau in Israel prinzipiell legitim sei, solange dabei keine antisemitischen Vorurteile ins Spiel gebracht werden. Auch Produkte aus den Siedlungen zu boykottieren, stellt Schuster jedem Einzelnen frei, sofern daraus keine Kampagne zum Boykott Gesamtisraels gemacht wird. (ebenda)
In diesem Zusammenhang steht auch, dass die deutsche Bundesregierung eine Rüge des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zurückgewiesen hat. Sie zielte auf den Beschluss des Bundestags vom Oktober 2019 gegen die antiisraelische BDS-Bewegung (Boykott-Desinvestition-Sanktion). Hierbei ginge es nicht, wie unterstellt, um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern darum, dass die Bundesregierung „jeden Aufruf zum Boykott Israels entschieden ablehnt und jede Form von Antisemitismus kategorisch verurteilt“. (ebenda 11/07.03.2020)
Hierzu passt auch die Feststellung Angela Merkels, dass Israels Sicherheit zur deutschen Staatsraison gehört […] Was nicht bedeutet, dass wir mit allem einverstanden sind, was die israelische Regierung macht. „Allerdings werde sich die Bundesregierung immer zu Wort melden, wenn Israels Existenzrecht infrage gestellt werde.“ (ebenda)
Was habe ich bisher im Spiegel gesehen? Die Gesellschaft? Mich, als Judenfreund? Ich denke an eine Aussage von Franklin Foers, „wonach Philosemiten Antisemiten sind, die Juden mögen.“ (D. Lipstadt, S. 63)
Stattdessen bin ich gegen Menschenhass und damit solidarisch gegen Judenhass.
Woher kommt dieser „längste Hass“?
Nach Delphine Horvilleur hätte die Israelfrage nicht diese Brisanz entwickelt, wenn „die Bezeichnung Jude mit all ihren geschichtlichen Konnotationen nichts damit zu tun hätte“. (S. 113) Dabei ergibt sich ein seltsames Paradoxon: Nach dem Holocaust zunächst legitime Zufluchtsstätte für die geschundenen Überlebenden wird Israel von vielen „als eine unterdrückerische und kolonisatorische Militärmacht“ betrachtet. Damit erscheint ihnen der Zionismus „als System kolonialer Unterdrückung und Unterwerfung der Schwächeren.“ (ebenda)
Wenn man einräumt, dass der Staat Israel mit seinen politischen Entscheidungen zu diesem Meinungsbild beigetragen hat, dann stellt sich damit im vergleichbaren Fall nirgendwo auf der Welt sogleich die staatliche Existenzfrage. Es geht folglich vielmehr um politische Lösungen und nicht um die Frage nach Sein oder Nichtsein, wie sie von antisemitischen Antizionisten in ihrem Judenhass verfochten wird.
Nach einer Meinungsumfrage der Europäischen Kommission für Menschenrechte von 2003 stellt Israel die Nation dar, die vor dem Iran, dem Irak und Nordkorea „die größte Gefahr für den Weltfrieden“ darstelle. (ebenda S. 111) Dieses „Umfrageergebnis“ kann natürlich nur das wiedergeben, was andere über Israel denken, d. h. das was Israel bei den Befragten auslöst, und nicht was es tatsächlich ist.
Aber wie auch immer, wiederum sind es in den Augen der Kritiker die Juden, die die Welt daran hindern, „eins zu sein und sich zu einer befriedeten Gesamtheit zu fügen […] Damit die Welt in Frieden leben kann, muss sie das von den Juden verkörperte Trennende loswerden.“ (ebenda)
Davon waren Rom, die christliche Welt und das Dritte Reich überzeugt, und dies ist auch die Überzeugung eines Teils der arabischen Welt. Der Hass auf Israel speist sich somit aus dem uralten Hass gegen die Juden.
Als Rabbinerin versucht Horvilleur anhand der Exegese des Alten Testaments dem Ursprung dieses Hasses auf die Spur zu kommen. Im Buch Ester findet sie einen Konflikt, in dem der Hass Einzug hält mit den „im Verlauf der Geschichte gegen die Juden erhobenen Anklagen: ein Volk, zugleich verstreut und abgesondert, das mitten unter anderen lebt, ohne sich mit ihnen vermischen zu wollen; das weder genau zu unterscheiden noch integrierbar ist.“ (ebenda S. 27)
Der Vorwurf lautet hier, dass die Juden eine Nicht-Identität leben, die sich von anderen distanziert. Sie partizipieren einerseits am Ganzen, sondern sich jedoch gleichzeitig ab. Dabei bringen sie das Ganze um seinen Anteil. Sie verhindern, dass das Ganze ein intaktes, heiles Ganzes ist.
„Mit andern Worten: Solange die Juden abgeteilt leben, bringen sie uns um unseren Anteil. Solange sie sich dem Gemeinsamen entziehen, nehmen sie uns die Möglichkeit, ganz wir selbst zu sein, im Einklang mit der Nation oder unserer Identität zu leben.“ (ebenda S. 42)
Horvilleur stellt fest, dass der Jude demnach stets den „Seinsmangel“ verkörpert. Weil die Juden das Reich, die Nation oder die Familie daran hindern, „eins“ im Sinne der Gesamtheit zu werden, fügen sie dem Kollektiv eine Schwachstelle zu, die es darin beeinträchtigt, zu expandieren. (ebenda S. 64)
Hierin sieht Jean-Luc Nancy den entscheidenden Punkt, in dem sich der Antisemitismus von jedem Rassismus unterscheidet: Der Jude stellt den Inbegriff aller „Hindernisse für das Anwachsen von Herrschaft“ dar. Die antisemitische Feindseligkeit „rührt weniger von einem Verhältnis zwischen Gruppen her als von dem Selbstverständnis einer Macht, die allen Gruppen überlegen sein will.“ (ebenda S. 63)
Die Machtfrage ist somit Ausgangspunkt der im Buch Ester erzählten Geschichte, die den ältesten Text zum Thema Antisemitismus enthält. Nach neueren Forschungen wurde das Buch im 2. Jahrhundert v. Chr. verfasst und enthält in Kapitel 3 Vers 9 eine Passage, die erstmals auf die Vernichtung des Judentums zielte:
Haman, ein Nachkomme des Amalekiter-Königs Agag war von dem in Susa regierenden Perserkönig Ahasveros alias Artaxerxes (um 472 v. Chr.) zum Großwesir ernannt worden. Als der Jude Mardochai ihm die Proskynese, d. h. den huldigenden Kniefall verweigerte, intrigierte Haman beim König:
„Da ist ein einzigartiges Volk, das unter den Völkern in allen Provinzen deines Reiches zerstreut und abgesondert lebt und dessen Gesetze von denen aller anderen Völker abweichen; da sie sich nun aber nach den Gesetzen des Königs nicht richten, so ist es für den König nicht geziemend, sie ruhig gewähren zu lassen. Wenn es dem König genehm ist, so möge ihre Ausrottung durch schriftlichen Erlass verfügt werden; ich werde dann auch zehntausend Talente Silber (aus dem Besitz der Juden) in die Hände der Schatzmeister geben können, damit diese sie in die Königliche Schatzkammer abführen.“ (Lutherübersetzung)
Hier ging es also um mehr als um bloße Judenfeindschaft. Ausgelöst wurde der Vernichtungswille offenbar dadurch, dass die Juden ihre eigenen überkommenen Gesetze über die ihres Gastlandes stellten. Damit erheben sie sich über „den Konsens, den die Menschheit im Interesse eines zivilisierten Zusammenlebens eingegangen ist. Dies bedeute in letzter Konsequenz, dass sie sich eines Verbrechens gegen die Menschheit und Menschlichkeit schuldig machten, das nicht durch individuelle Strafen abgegolten werden könne. Die einzige angemessene Antwort sei die Vernichtung aller Juden, einschließlich ihrer Frauen und Kinder“ (P. Schäfer S. 25)
Schäfer erscheint der noch in der vorchristlichen Antike verfasste Text wie ein „Modell der monstreusen Einstellung“, die das Schicksal der Juden bis zum Holocaust bestimmte. Schon in der damaligen Zeit wurden die hier angeführten antisemitischen Argumente zur Blaupause für die Einstellung der Griechen und Römer zu den Juden.
Da eine außerbiblische Bestätigung des betreffenden Vernichtungsplans fehlt, geht man davon aus, dass hier die späteren tatsächlichen Angriffe des Seleukiden Antiochius IV. auf die Juden in die Perserzeit zurückprojiziert wurden. Dann würde der Bericht eine persischen Feinseligkeit gegen das Judentum in Gefolge der makkabäischen Aufstände spiegeln.
Unter theologischen Aspekt macht das Buch den Juden in der Situation des drohenden Verlustes ihrer religiösen und kulturellen Identität unter Antiochius IV. Mut zu kämpfen. Dazu erzählt es von der mutigen Jüdin Ester, die einen früheren Versuch scheitern ließ, das Judentum zu vernichten. Die zentrale theologische Aussage hierzu findet sich im Kapitel 4, Verse 13-14: Gott setzt seinen (Rettungs-)Plan durch, auch wenn der Mensch versagt.
„Die Wiege des Phänomens, das wir als Antisemitismus bezeichnen, stand im hellenistischen Ägypten“ des 3. Jahrhunderts v. Chr. (ebenda S. 28) Bei dem griechischen Historiker Diodorus Siculus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. findet sich eine Begründung für „das fundamentale Anderssein der Juden mit ihrer tiefverwurzelten ,Menschenfeindlichkeit‘ und ,Fremdenfeindlichkeit‘“: Nach der Ankunft in dem Gebiet des heutigen Judäa und der Gründung der Kolonie Jerusalem führte Moses unter dem Eindruck der schmerzlichen Vertreibung aus Ägypten „eine asoziale/menschenfeindliche Lebensweise ein.“ In religiöser Hinsicht gipfelte diese Darstellung in dem Vorwurf der „Gottlosigkeit“.
Diodorus Siculus spitzt seinen Vorwurf der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit generalisierend zu, indem er dem Volk der Juden einen „Hass gegen die Menschen“ unterstellt, den es an seine Nachkommen weitergibt. Als äußere Merkmale nennt er die Einführung „ganz ausgefallener Bräuche“. Dazu gehört, dass sie die Tischgemeinschaft mit jedem anderen Volk ablehnen und „anderen Menschen keinerlei Wohlwollen entgegenbringen“.
Der Hass gegenüber allen anderen Menschen äußere sich in ihren eigenen von ihrer jeweiligen Umwelt unterschiedenen Gesetzen, „die darauf ausgerichtet seien, die kulturelle und religiöse Identität der anderen Völker zu unterminieren.“ (ebenda S. 27 f)
Die bisher geschilderten judenfeindlichen Stereotype im hellenistischen Ägypten veranlassen P. Schäfer, bereits von einem vorchristlichen Antisemitismus zu sprechen, der im 1. Jahrhundert n. Chr. mit dem ersten Pogrom in der jüdischen Geschichtsschreibung seinen Höhepunkt erreichte.
Dazu berichtet der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien über die feindselige Reaktion der Ägypter auf den Besuch des judäischen Königs Herodes Agrippa I. in Alexandria im August des Jahres 38 n. Chr. Er hatte nach seiner Ernennung auf der „Durchreise“ von Rom in sein neues Königreich in Alexandria Station gemacht.
In seinem Ärger über die Berufung eines Juden zum König instrumentalisierte der römische Präfekt A. Avillius Flaccus den judenfeindlichen alexandrinischen Mob gegen die Juden. Sie zerstörten die Synagogen, trieben die Juden in ein Ghetto und massakrierten sie. „Philos’ drastische Beschreibung des ersten antijüdischen Pogroms der Geschichte im orchestrierten Zusammenspiel von Staatsgewalt und aufgehetztem Pöbel liest sich wie das unheimliche Drehbuch der Massaker, denen die Juden durch die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart ausgesetzt sein sollten.“ (ebenda S. 39)
Kurz nach dem Pogrom wurde Flaccus von Kaiser Caligula abgesetzt und hingerichtet.
Der facettenreiche Judenhass der vorchristlichen Antike ist mit vielen der antijüdischen Vorurteilen und Stereotypen wirkungsvoll „in unser kulturelles Gedächtnis eingegangen.“ (ebenda S. 40) Eine Zusammenfassung findet sich in dem Werk Historiae bei Tacitus. Für ihn praktizieren die Juden anstelle einer der römischen religio vergleichbaren Religion einen abstoßenden Aberglauben. Abgesehen von einigen Sitten und Gebräuchen, die sich von der Vertreibung aus Ägypten herleiten lassen, bezeichnet Tacitus die meisten als „verkehrt und abstoßend“.
Während sie untereinander stets loyal und mitfühlend seien, begegneten sie anderen Menschen mit feinseligem Hass. In ihren Lebensgewohnheiten wie z. B. Essen und Schlafen separierten sie sich von ihrer Umgebung, und ihre Beschneidung diene einzig der Abgrenzung von anderen Völkern. „Das alte hellenistische Motiv der grundlegenden und unüberbrückbaren Menschen- und Fremdenfeindlichkeit hat hier seine endgültige römische/westliche Ausprägung gefunden.“ (ebenda S. 41)
Von hier aus war es kein Zufall, dass Tacitus in einem nächsten Schritt den angeblichen Menschenhass der Juden auf die sich von ihnen abspaltenden Christen übertrug. So bewertete er die Verfolgung der Christen unter Nero nicht als Bestrafung für ihre angebliche Brandstiftung Roms, „sondern wegen ihres Hasses auf das ganze Menschengeschlecht.“ (ebenda S. 42)
Jüdischer Antizionismus
Wir müssen unterscheiden zwischen dem jüdischen und dem antisemitischen Antizionismus. Nachdem sich Ende des 19. Jahrhunderts der politische Zionismus als internationaler Nationalismus formiert hatte, entstand als Gegenreaktion aus dem europäischen Judentum eine internationale und transnationale Ablehnungsfront. Die Vorbehalte innerhalb sowohl des liberalen wie des orthodoxen Judentums ließen Organisationen entstehen, die den Zionismus bekämpften.
Liberale Juden befürchteten, dass der jüdische Nationalismus in Gestalt des Zionismus die Integration in die nicht-jüdische Gesellschaft behindere und den Antisemitismus befördere. Orthodoxe Juden dagegen lehnten den Zionismus als Versuch ab, das messianische Zeitalter durch Menschenhand herbeizuführen, statt darauf zu vertrauen, dass Gott mit dem Anbruch seiner Herrschaft die zerstreuten Juden aus aller Welt auf dem Zion Jerusalems versammeln wird.
Antisemitischer Antizionismus
Ende 2019 verabschiedete das französische Parlament eine Resolution zum antisemitischen Zionismus. Es reagierte damit auf einen Zwischenfall am Rande einer Gelbwesten-Demonstration. Ein sechsunddreißig Jahre alter zum Islam konvertierter Mann attackierte den jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut als „Scheißzionist“, „Drecksrasse“, „zionistische Lobby“ und rief: „Frankreich gehört uns!“
Das französische Parlament stellte fest, dass zum „modernen und erneuerten Antisemitismus […] Manifestationen des Hasses gegenüber dem Staat Israel“ gehören. Die Resolution erteilt der Regierung den Auftrag, die staatlichen Instanzen für „Erziehung, Repression und Justiz“ zu sensibilisieren, um „antisemitische Attacken zu erkennen und zu verfolgen.“ (F.A.Z. v. 22.12.2019)
Finkielkrauts Angreifer wurde zu zwei Monaten Gefängnis wegen Verleumdung und rassistischer Beschimpfung verurteilt.
Emmanuel Macron versprach in diesem Zusammenhang anlässlich des Jahresessens des jüdischen Zentralrats, den Kampf gegen den Antisemitismus auf den Antizionismus auszuweiten. Frankreichs Parlament ist das erste in Europa, das den gegenwärtigen Antizionismus als eine Form des Antisemitismus verurteilt.
Interessant ist dazu noch die Reaktion von Joël Mergui, dem Leiter des im Oktober 2019 in Paris eröffneten „Centre européen du judaïsme“. Er unterstützte die Resolution des Parlaments: „Die französischen Juden sind Zionisten, weil sie Israel beschützen wollen, einen ständig bedrohten Kleinstaat, der für alles, was er macht, kritisiert wird. Da, wo wir in Frieden unser Leben leben können, können es alle anderen auch.“ (ebenda)
Außer in Israel, werden die antisemitischen Antizionisten einwenden und auf die Palästinenser verweisen. Aber es bleibt dabei: Jeder kann die Politik Israels wie die jedes anderen Staats kritisieren. Aber wer den Staat Israel als Ganzes ablehnt und ihm sein Existenzrecht abspricht, denkt antisemitisch. Er macht sich zurecht verdächtig, die Juden nirgendwo auf der Welt in Frieden und Freiheit leben lassen zu wollen.
Antisemitismus und Rassismus
Am 19. Februar 2020 erschoss ein Attentäter in Hanau acht Männer sowie eine Frau aus Einwanderungsfamilien. Dabei verletzte er mehrere Personen. „Es liegt auf der Hand, dass sich auch andere Minderheiten nicht sicher fühlen können, wenn Juden mit hasserfüllten Parolen und Vorurteilen (oder sogar Mordversuchen wie in Halle) angegriffen werden; dass es bei den Juden bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Und umgekehrt sollten die Juden sich nicht sicher fühlen, wenn Minderheitsgruppen mit Hass und Vorurteilen überzogen werden; es ist genauso unwahrscheinlich, dass es bei diesen Gruppen bleibt.“ (D. Lipstadt, S. 12)
Lipstadt zeigt in diesem Zusammenhang einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus auf. Dieser besteht ihrer Meinung nach darin, „dass Antisemitismus nicht einfach Hass auf etwas ,Fremdes‘, sondern der Hass auf das immerwährende Böse in der Welt“ ist. „Die Juden sind nicht ein Feind, sondern der ultimative Feind. Dieser Hass ist allgegenwärtig.“ (ebenda S. 33)
Der Vorwurf einigen Juden gegenüber, sie seien unsoziale Kapitalisten, mag berechtigt sein, so wie dies auch im Blick auf andere nichtjüdische Menschen zutreffen mag. Aber zu sagen: „Natürlich ist X von Geld besessen, er ist doch Jude, oder etwa nicht?“ ist antisemitisch. „Antisemitismus ist nicht Hass auf Menschen, die ,zufällig‘ Juden sind. Es ist Hass auf sie, ,weil‘ sie Juden sind.“ (ebenda)
Die aktuell zunehmende Zahl von antisemitischen Handlungen verbaler wie auch physischer Art ist nicht als Zeichen dafür zu werten, dass der Antisemitismus „wieder da“ ist. Vielmehr liefern sie lediglich die „empirische Evidenz“ dafür, dass es nach wie vor Menschen gibt, die anfällig für Verschwörungstheorien sind, die Juden dämonisieren und für alles Böse verantwortlich machen.
Nach Lipstadt ist der „Antisemitismus eine Weltanschauung, eine Verschwörungstheorie, (die) innerhalb einer Gesellschaft in unterschiedlicher Intensität mit unterschiedlichen Schattierungen“ existiert. Der Humus für Antisemitismus ist eine Gesellschaft, die sich intolerant gegenüber Migranten oder ethnischen und religiösen Minderheiten erweist. „Sobald Ausdrücke der Verachtung für eine bestimmte Gruppe zur Norm werden, ist es so gut wie unvermeidlich, dass ähnlicher Hass sich auch gegen andere Gruppen richtet.“ (ebenda S. 10 f)
Die Irrationalität des Judenhasses
Wie war es möglich, dass sich die antisemitischen Ressentiments derart verfestigen konnten? Nun, für Menschen, die über Jahrhunderte mit einem kirchlich basierten Antisemitismus sozialisiert worden waren, lieferte dieses Vorurteil eine plausible Erklärung für negative Dinge und Ereignisse, die zu erklären schwerfiel. So wurden z. B. im 14. Jahrhundert die Juden bezichtigt, Brunnen vergiftet und damit die Verbreitung der Pest verursacht zu haben. Erst als sich später herausstellte, dass die Pest auch dort auftrat, wo es keine Juden gab und auch noch nie welche gegeben hatte, widerlegte sich diese Bezichtigung von selbst.