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In seinem Referatsentwurf für die bevorstehende Sitzung des Politisch Beratenden Ausschusses ging Ulbricht von der dramatischen Situation in der DDR aus: »Die Fortdauer der Konjunktur in Westdeutschland sowie die ökonomische Entwicklung im sozialistischen Lager lassen es nicht zu, dass die DDR in absehbarer Zeit Westdeutschland im Lebensstandard einholt. Im Interesse der Existenz und der Entwicklung der DDR sind deshalb wirksame Maßnahmen zur Unterbindung der Abwerbung notwendig.« 32
Zu gegebener Zeit müsse darum dafür gesorgt werden, dass »die Staatsgrenze der DDR (die mitten durch Berlin geht) für Bürger der DDR nur mit besonderer Ausreisegenehmigung« passierbar sein dürfe, »oder, soweit das einen Besuch von Bürgern der Hauptstadt der DDR in Westberlin betrifft, mit besonderer Bescheinigung erlaubt wird. Der Besuch der Westberliner Bevölkerung in der Hauptstadt der DDR ist möglich auf Grund des Westberliner Personalausweises (aber nicht auf Grund des westdeutschen Bundespasses).« 33
Am 31. Juli appellierte Walter Ulbricht zudem angesichts der beschleunigten wirtschaftlichen Talfahrt wegen der Lieferprobleme der UdSSR an den »teuren Genossen Chruschtschow«, dass die »bisherigen Methoden der Zusammenarbeit« verändert werden müssten. »Von den seit September vergangenen Jahres beantragten 140 Themen der technischen Hilfeleistung wurden 30 abgelehnt, 35 sind noch ohne jede Stellungnahme, und erst 15 Themen sind erledigt.« 34
Das von ihm geforderte Gespräch mit Chruschtschow fand am 1. August statt. Ulbricht schilderte ihm offen die aktuelle Lage in der DDR. Bei der weiteren Entwicklung würden 1962 im Vergleich zu 1960 mindestens 175000 qualifizierte Facharbeiter fehlen. Der dadurch 1961 eingetretene Produktionsausfall betrage im Vergleich zu 1960 etwa 2,5 bis 3 Milliarden DM.
Auf die Lage an der Grenze zwischen dem demokratischen Sektor Berlins und den Westsektoren eingehend und darauf, wie der Politisch Beratende Ausschuss damit umgehen solle, sagte Chruschtschow: »Wir müssen ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlichen, wo die DDR im Interesse der sozialistischen Länder gebeten wird, die Grenze zu schließen. Dann machen Sie das auf unsere Bitte. Das ist keine innere, keine wirtschaftliche, sondern eine große allgemein politische Angelegenheit.« Die Warschauer Vertragsstaaten sollten übereinkommen, »solche Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze in Berlin« zu organisieren, »wie sie auch an den Grenzen der Staaten der Westmächte besteht«.35
Darauf Ulbricht: »Wir sind einverstanden mit der Begründung dieser Sache vom Standpunkt der großen Politik. Aber wir müssen uns auf wirtschaftliche Schritte vorbereiten. Vor Durchführung dieser Maßnahme muss ich erläutern, wie unsere Wirtschaftspolitik aussehen wird, damit das alle wissen. Zur politischen Seite haben wir den Friedensplan beschlossen, der großen Erfolg hat.
Chruschtschow: Dazu habe ich eine andere Meinung. Vor Einführung des neuen Grenzregimes sollten Sie überhaupt nichts erläutern, denn das würde die Fluchtbewegung nur verstärken und könnte zu Staus führen. Das muss so gemacht werden, wie wir den Geldumtausch realisiert haben. Wir lassen euch jetzt ein, zwei Wochen Zeit, damit ihr euch wirtschaftlich vorbereiten könnt.
Dann beruft ihr das Parlament ein und verkündet folgendes Kommuniqué: ›Ab morgen werden Posten errichtet und die Durchfahrt verboten. Wer passieren will, kann das nur mit Erlaubnis bestimmter Behörden der DDR tun.‹« Und weiter sagte Chruschtschow: »Wenn die Grenze geschlossen wird, werden Amerikaner und Westdeutsche zufrieden sein. Botschafter Thompson (Llewellyn E. Thompson, von 1957 bis 1962 Vertreter der USA in Moskau – d. Verf.) hat mir gesagt, dass diese Flucht den Westdeutschen Ungelegenheiten bereitet. Wenn Sie also diese Kontrollen errichten, werden alle zufrieden sein. Außerdem bekommen die Ihre Macht zu spüren.«
Wir erinnern uns: Am 15. Juni hatte Walter Ulbricht auf der Pressekonferenz in Berlin erklärt, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. An welcher Grenze westlicher Staaten existierte »eine Mauer«? Ulbricht hat Ende Juli 1961 also ganz klar auch intern gesagt, dass er genau solche Verhältnisse »an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze in Berlin« haben wolle, »wie sie auch an den Grenzen der Staaten der Westmächte« bestünden. Aus dem Protokoll des Telefonats vollständig in den Anlagen dieses Buches veröffentlicht zwischen ihm und Chruschtschow geht klar hervor, wer die treibende Kraft war.
Chruschtschow ging auch auf die Arbeitskräftesituation ein. »Unser Botschafter hat mir berichtet, dass es euch an Arbeitskräften fehlt. Die können wir euch geben.
Ulbricht: Wir haben im Politbüro beschlossen, um Arbeiter aus Bulgarien und Polen zu bitten.
Chruschtschow: Auch wir können sie euch geben – junge Leute, Komsomolzen. Wir haben überflüssige Arbeitskräfte. Hören Sie nicht auf die Stimme Amerikas, die behauptet, uns fehle es an Arbeitern.
Ulbricht: Ich habe mich einfach nicht entschließen können, Ihnen diese Frage zu stellen.
Chruschtschow: Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir das dem Volk am besten erklären.
Ulbricht: Als sozialistische Hilfe für die DDR!
Chruschtschow: Vielleicht sollten wir es besser Jugendaustausch nennen, wie Fidel Castro vorgeschlagen hat. Bei dem Austausch gebt ihr uns einen und wir euch hundert.« 36
In dem von Werner Eberlein gedolmetschten Gespräch, bei dem sich Ulbricht Notizen machte (auch diese Zettel liegen im Bundesarchiv in der Berliner Finckensteinallee), forderte Chruschtschow »administrative Maßnahmen. Grenze schließen«, worauf es Ulbricht entfuhr, man könne nicht eine Mauer rings um Westberlin ziehen.
Auf achtzig Kilometer solle man Draht ziehen, die Hälfte der Grenze ohne Draht. »2. Einwohner DDR verbieten, ohne Genehmigung Westberlin aufzusuchen«, notierte Ulbricht. »Alle Fußgänger, alle Passagen, alle Bahnen am Übergangskontrollpunkt kontrollieren. S-Bahn an Grenzstationen Kontrolle aller Reisenden. Alle müssen aus Zug nach Westberlin aussteigen, außer den Westberlinern.« 37
Auch Eberlein erinnerte sich später an diese Verabredung der Parteiführer. In einem Gespräch am 12. Dezember 2001 reflektierte er die Moskauer Konsultationen: »Niemand dachte daran, dass eine Mauer gebaut wird. Es sollte mit ein paar Rollen Stacheldraht abgesperrt werden, ein paar Durchlässe würden gemacht und jeder anständige Deutsche würde zur Volkspolizei gehen, sich ein Visum ausstellen lassen und damit die Grenze passieren. Wenn Ulbricht kurz vor dem Mauerbau in einem Pressegespräch gesagt hat: Wir haben keine Absicht, eine Mauer zu bauen, unsere Bauarbeiter sind für andere Dinge da, unterstellt man ihm heute, dass er das gesagt hat, um abzulenken. Ich glaube, er war überzeugt von dem, was er da gesagt hat, das war seine ehrliche Meinung, denn das war in Moskau verhandelt worden.« 38
Bis zu jenem Gipfeltreffen Anfang August 1961 im Kreml, zu welchem auch die Führungen Albaniens, Chinas, Koreas, der Mongolei und Vietnams eingeladen wurden (und bis auf Albanien waren alle vertreten, selbst Ho Chi Minh reiste aus Hanoi an), war in Moskau nicht klar, wie mit der offenen Grenze umgegangen werden sollte.
Noch am 15. Juli hatte ein Genosse Karpin, im ZK der KPdSU für Deutschlandfragen zuständig, den Berliner SED-Chef Paul Verner – worüber dieser Ulbricht anschließend in einer Hausmitteilung informierte – beiläufig wissen lassen, »dass sie noch nicht wissen, wie man all diese Fragen praktisch lösen soll, weil sie noch keine bestimmte Vorstellung zu einzelnen Problemen haben«.39
Dann lief der 13. August 1961 mit all den bekannten Maßnahmen. Und Ulbricht saß zwei Tage später mit Götting im Auto und berichtete von seinem Erstaunen, als Chruschtschow in Moskau in großer Runde plötzlich erklärt habe, der Genosse Ulbricht hätte ihm soeben vorgeschlagen, um Westberlin eine Mauer zu ziehen. Er sei, sagte Ulbricht, wie vom Donner gerührt gewesen. Einen solchen Vorschlag hatte er nie gemacht. Er habe allerdings schlecht in dieser Runde aufstehen und Chruschtschow widersprechen oder gar dementieren können. Und auch außerhalb des Kreml hätte er das wohl kaum öffentlich machen können.
Götting sah, dass Ulbrichts Betroffenheit echt und keineswegs gespielt war. Dieser war aber Parteisoldat, und der hatte zu gehorchen.
Auch in Moskau gibt es Protokolle, so eines über das Gespräch zwischen Chruschtschow und Ulbricht an jenem 1. August 1961. Das 19-seitige russische Dokument über jenes Gespräch von 15.40 bis 18.00 Uhr notierte Valentin Koptelzew. Es befindet sich heute im schwer zugänglichen Präsidentenarchiv in Moskau und wurde von dem Historiker Matthias Uhl im Sommer 2009 publik gemacht. Obgleich etwa die B.Z. am 1. Juni 2009 titelte: »Akten-Fund: Chruschtschow befahl Mauer-Bau«, und im Text fragte: »Muss die deutsch-deutsche Geschichte jetzt neu geschrieben werden?«, war diese Sorge unbegründet. Die offizielle Lesart wurde in der Bundesrepublik Deutschland unverändert beibehalten: Ulbricht hat die Mauer gebaut. Basta.
Ausgerechnet in einer Boulevard-Zeitung des Springer-Verlages war zu lesen: »Bislang gingen die Forscher davon aus, dass SED-Chef Ulbricht und Erich Honecker fast im Alleingang über den Bau der Berliner Mauer entschieden. Das Protokoll eines persönlichen Gesprächs zwischen Chruschtschow und Ulbricht am 1. August 1961 im Kreml stellt die Geschichte aber in einem neuen Licht dar.
Der Historiker Matthias Uhl (39, forscht seit 2005 in Moskau) fand das Protokoll im Archiv in Moskau. ›Mir war sofort klar‹, sagte er der B.Z., ›dass das Dokument von historischer Tragweite ist. Bislang hatten wir angenommen, dass die DDR die treibende Kraft beim Bau der Mauer war.‹« 40
Selbst das Nachrichtenmagazin Der Spiegel kam nicht umhin, die Existenz dieses Dokuments und dessen Aussage zu vermelden. »Die Initiative [für den Mauerbau] war von Chruschtschow ausgegangen.« Dieser habe vor einiger Zeit, »so zitiert ihn das Protokoll, den sowjetischen Botschafter in Ostberlin zu Ulbricht geschickt, um: ›Ihnen meine Gedanken darzulegen, dass man die derzeitigen Spannungen mit dem Westen nutzen und einen eisernen Ring um Berlin legen sollte.‹«
Doch für den Spiegel war das kein Grund für eine Korrektur der einzig gültigen Lesart. Denn: »Der SED-Mann setzte vielmehr seinerseits auf ein Einmauern der Ostdeutschen, weil es ›eine Reihe Fragen gibt, die bei offener Grenze nicht zu lösen sind‹.« 41
Das Hamburger Nachrichtenmagazin weiß nicht nur alles, es weiß es vor allem besser: »Chruschtschow hatte freilich keine Mühe, seinen Besucher (? – d. Verf.) zu überzeugen.«
Auch Die Welt rückte die Stühle wieder gerade. »Ulbricht sicherte sich, erfahren durch sein erfolgreiches Lavieren während des stalinistischen Terrors, ab: ›Fürchten Sie keine Auswirkungen auf die westdeutschen Wahlen, dass das Adenauer und Brandt hilft?‹ Chruschtschow antwortete hemdsärmelig: ›Ich denke, Adenauer wird gewinnen. Wir machen hier keine politischen Spiele. Sie sind beide Halunken. Brandt ist schlimmer als Adenauer.‹« 42
Die Hamburger Zeit federte im Feuilleton die harte Ablehnung der mit dem Papier gewonnenen Einsicht ab, spülte sie ein wenig weich für den westdeutschen Bildungsbürger, und beließ es bei der bislang üblichen Diktion. »Jetzt steht fest: Der endgültige Beschluss zum Bau der Berliner Mauer fiel am 1. August 1961 bei einem Gespräch von Walter Ulbricht (SED) mit Nikita Chruschtschow (KPdSU) kurz vor der gemeinsamen Tagung des Warschauer Paktes. Die beiden Generalsekretäre vereinbarten in Moskau, wie es in einem gerade entdeckten Protokoll des Gesprächs heißt, die Zugänge nach West-Berlin zu ›vermauern‹.« 43
Das Protokoll, so die Schöngeister von der Alster, erstaune wegen des »lockeren Tonfalls«. Dann aber sei man zur Sache gekommen. »Bereits zu Anfang des Gesprächs legt Chruschtschow seinem Gegenüber dar, dass es zur Sperrung der Grenze keine Zeit und Alternative mehr gebe: ›Ich habe unseren Botschafter gebeten, Ihnen meinen Gedanken darzulegen, dass man die derzeitigen Spannungen mit dem Westen nutzen und einen eisernen Ring um Berlin legen sollte. Das ist leicht zu erklären: Man droht uns mit Krieg, und wir wollen nicht, dass man uns Spione schickt. Diese Begründung werden die Deutschen verstehen.‹
Für die DDR sah Chruschtschow vor allem eine Polizeifunktion vor: ›Ich bin der Meinung, den Ring sollten unsere Truppen legen, aber kontrollieren sollten Ihre Truppen.‹ Gleichzeitig machte der sowjetische Partei- und Staatschef klar, dass er bereit war, ein hohes Risiko einzugehen: ›Wenn man uns Krieg aufzwingt, dann wird es Krieg geben.‹ Außerdem, so Chruschtschow zu Ulbricht, ›hilft das Ihnen, denn es reduziert die Fluchtbewegung‹.« 44
Chruschtschow äußerte sich weiter zu militärpolitischen Fragen: »Wir müssen auch zu einem gemeinsamen Entschluss über demonstrative militärische Verstärkungsmaßnahmen kommen. Ich habe einen Bericht unseres Generalstabes entgegengenommen, und wir werden alles tun, was nötig ist.«
Und an anderer Stelle sagte er: »Dem Berater Kennedys habe ich gesagt: Gegen jede Ihrer Divisionen bieten wir zwei auf; und wenn Sie die Mobilmachung erklären, dann tun wir das ebenfalls.«
Was im Westen als Willkür und militärischer Hasard interpretiert wurde, nämlich die Verstärkung der sowjetischen Truppen, hatte einen realen Grund: die Truppenbewegungen auf der NATO-Seite. Darauf ging Die Zeit aber nicht ein. Stattdessen hieß es bedrohlich: »Militärisch sei von der Sowjetunion bereits alles vorbereitet, führte der KPdSU-Chef weiter aus, sein Generalstab habe bereits alle entsprechenden Pläne ausgearbeitet: ›An der Grenze zur BRD werden sich unsere Panzer hinter den Stellungen eurer Soldaten eingraben. Das tun wir so geheim, dass es der Westen nicht mitbekommt.‹ Zugleich stellte er die Verlegung weiterer sowjetischer Truppen in die DDR in Aussicht.
Tatsächlich verstärkte die Sowjetunion bis August 1961 ihre Truppen in der DDR um gut 37500 Mann sowie um mehr als 700 Panzer. Diese Zuführungen entsprachen in etwa zwei bis drei Panzerdivisionen. Zugleich wurden an der polnischen Westgrenze weitere 70000 Soldaten stationiert. Die Südgruppe der Roten Armee in Ungarn erhielt ebenfalls 10000 Mann zusätzlich. Damit war die Mannschaftsstärke der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa im Vorfeld des Mauerbaus um etwa 25 Prozent erhöht worden auf mehr als 545000 Mann. Die Sowjetarmee hatte damit fast ein Drittel ihrer Landstreitkräfte für die militärische Absicherung der Grenzschließung in Berlin in der DDR, Polen und Ungarn konzentriert.« 45
Chruschtschows Vorstoß hingegen, auch die DDR möge ihre Streitkräfte verstärken, blieb allgemein. »Unsere Genossen vom Militär meinten, vielleicht müsste bei den Deutschen auch etwas geschehen. Möglicherweise wäre es gut, eine Aufstockung eurer Divisionen vorzunehmen. Aber ich habe gesagt, dass man Genossen Ulbricht fragen muss, wie die Deutschen darauf reagieren. Das könnte unter Umständen negative Reaktionen auslösen, und als Demonstration hat diese Maßnahme keine entscheidende Bedeutung.«
Darauf ging Ulbricht nicht ein.
Nach Auffassung des Berliner Historikers Siegfried Prokop hingegen ist die Entscheidung für die Maßnahmen am 13. August vermutlich am 27. Juli 1961 gefallen. In einem Vortrag auf dem traditionellen Grenzertreffen am 30. Oktober 2010 führte er aus: »Darüber, dass Chruschtschow diese Entscheidung fällte, besteht kein Zweifel mehr. Er, der die Mauer für eine hässliche Sache hielt und der die Gefühle des deutschen Volkes verstand, hatte dazu gegenüber Botschafter Hans Kroll46 geäußert47: ›Es gab nur zwei Arten von Gegenmaßnahmen: die Lufttransportsperre oder die Mauer. Die erstgenannte hätte uns in einen ernsten Konflikt mit den Vereinigten Staaten gebracht, der möglicherweise zum Krieg geführt hätte. Das konnte und wollte ich nicht riskieren.‹ (Das widerspricht der Darstellung von Uhl, dass Chruschtschow einen Krieg durchaus für eine denkbare Option hielt – d.Verf.) Also blieb nur die Mauer übrig. Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu gegeben hat. […] Die Mauer wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung fortgefallen sind.« 48
So Chruschtschow angeblich gegenüber dem BRD-Botschafter Kroll am 9. November 1961.
Die Rezeption heute
Der Umgang mit dem 13. August 1961 ist heute ritualisiert, die Haltung zur Mauer fixiert. Hier wird sichtbar, was Napoleon in den Satz gekleidet hat, dass die Geschichte die Summe der Lügen sei, auf die sich die Herrschenden nach dreißig Jahren geeinigt hätten. Das trifft zu. Keine im Bundestag vertretene Partei sieht es heute anders, als in den Medien und in den Schulbüchern seit Jahr und Tag mitgeteilt wird.
Die Linkspartei wirft sich an jenem Datum pflichtschuldig ihr Büßergewand über, trägt ihren Kranz in die Bernauer Straße und lässt sich dafür beschimpfen. Beschämt erklärte sie selbstanklagend beispielsweise 2001, als sie noch PDS hieß: »Die Berliner Mauer war ein Ergebnis der Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Die Opfer dieses Grenzregimes sind jedoch mit dem Verweis auf internationale Rahmenbedingungen und Sicherheitskonzepte keinesfalls zu rechtfertigen. Menschliches Leid verlangt Respekt und Nachdenklichkeit. […]
Mit den Maßnahmen zum 13. August wollte die Partei- und Staatsführung in einer Art Befreiungsschlag mit nicht mehr beherrschbaren Schwierigkeiten fertig werden. Was als Sieg gefeiert wurde, war in Wahrheit eine schwere Niederlage in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden. […] Nicht zum Schutz gegen einen angeblich drohenden Einmarsch der Bundeswehr, sondern gegen den Exodus der eigenen Bürger wurde ein Wall gebraucht. Chruschtschow gegenüber leistete Ulbricht den Offenbarungseid: Bei weiterhin offener Grenze ist der ›Zusammenbruch unvermeidlich‹. Doch stand eine Selbstaufgabe der DDR nicht zur Debatte und schon gar nicht zur Disposition deutscher Politiker, denn die DDR war ›der westliche Vorposten des sozialistischen Lagers‹, wie Anastas Mikojan, der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, feststellte.« 49
Diese Grenze wurde gesichert, damit Frieden blieb. Der Frieden hielt 28 Jahre, so lange sie stand. 1993 beteiligten sich erstmals deutsche Soldaten im Rahmen der »Operation Deny Flight« an der Überwachung des Flugverbotes über Ex-Jugoslawien, im Sommer mussten 1800 Bundeswehrsoldaten nach Bosnien-Herzegowina, 1999 bombardierte die NATO mit deutscher Beteiligung Jugoslawien …
Von Kambodscha über Somalia und Ruanda, von Bosnien über den Kosovo-Krieg bis Ost-Timor, vor der Küste des Libanon und in den Bergen Afghanistans – überall waren oder sind Soldaten aus der Bundesrepublik dabei. »Deutschland beteiligt sich derzeit mit rund 7100 Soldaten an einer Reihe von Einsätzen im Ausland«, meldete am 1. Oktober 2010 die Bundeswehr und schlüsselt minutiös auf. Entschuldigend heißt es: »Die Zahlen sind gerundet und eine ›Momentaufnahme‹, da die Tagesstärken geringfügig schwanken können.« 50
1 Kurt Pätzold, Die Mär vom Antisemitismus, spotless, Berlin 2010
2 Vgl. Siegwart-Horst Günther/Gerald Götting, Was heißt Ehrfurcht vor dem Leben? Begegnung mit Albert Schweitzer, Verlag Neues Leben, Berlin 2005
3 Die nachfolgend zitierten Akten (SAPMO-BArch) befinden sich in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, die unter dem Dach des Bundesarchives in Berlin-Zehlendorf lagern, daher die Signatur SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 2
4 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 3
5 ebenda
6 Die Wismut, 1946 als Sowjetische Aktiengesellschaft gegründet, seit 1954 firmierte sie als SDAG Wismut, als sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft, war weltweit der drittgrößte Uranerzproduzent. Das Aktienkapital wurde zur Gründung auf zwei Milliarden Mark festgesetzt, wobei die DDR und die UdSSR einen Anteil von je einer Milliarde Mark besaßen. Die DDR musste ihren Aktienanteil allerdings in Raten von jeweils 200 Millionen Mark pro Jahr von der UdSSR kaufen. Das in Thüringen und Sachsen geförderte Erz bildete die Rohstoffbasis für die sowjetische Atomindustrie. Mit dem Erz half die DDR der Sowjetunion, in den sechziger Jahren das militärstrategische und atomare Gleichgewicht zur USA herzustellen, wodurch der Frieden gesichert wurde. Deshalb sprachen nicht nur die Wismut-Kumpel von »Friedenserz«. Sie zahlten mit ihrer Gesundheit, die DDR mit riesigen Investitionen. Bis 1990 und der Schließung der Schächte lieferte die DDR 231400 Tonnen Uran an die Sowjetunion. Am 3. Oktober 1990 ging der DDR-Anteil der SDAG auf die BRD über, am 16. Mai 1991 wurde zwischen der BRD und der UdSSR vereinbart, dass die sowjetischen Anteile unentgeltlich an die Bundesrepublik übergehen. Das Abkommen trat am 20. Dezember 1991 in Kraft, am darauf folgenden Tag löste sich die Sowjetunion auf.
7 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 5
8 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 6
9 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 7
10 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 8
11 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 54
12 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 64
13 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 68
14 SAPMO-BArch 30/3708, Bl. 148
15 SAPMO-BArch DY 30/3708, Bl. 148ff.
16 SAPMO-BArch DY 30/3691, Bl. 28
17 SAPMO-BArch DY 30/3691 Bl. 54
18 SAPMO-BArch DY 30/3691 Bl. 89
19 SAPMO-BArch DY 30/3709 Bl. 1–168
20 Neues Deutschland vom 12. Juni 1961
21 SAPMO-BArch DY 30/3386 Bl. 166
22 SAPMO-BArch DY 30/3386 Bl. 174
23 Ebenda
24 Ebenda
25 Ende 1954 hatte US-Präsident Eisenhower der CIA Mittel für Spionageflüge in extremer Höhe bewilligt (Projekt »Aquatone«), die sowjetische Flak reichte bis 14000 Meter, die MiG 19 kam bis 15500 Meter. Die Spionageflüge wurden im Sommer 1956 vom Flugplatz Wiesbaden/BRD aufgenommen. Jeder Flug brachte etwa 4000 Aufnahmen. Am 1. Mai 1960 startete Pilot Gary Powers mit seiner U-2C in Peschawar in Pakistan, um Raketenbasen in und um Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) zu fotografieren, danach sollte er auf einem Flugplatz in Norwegen landen. Er wurde mit einer Rakete über dem sowjetischen Territorium abgeschossen. Die USA logen, indem sie behaupteten, es habe sich um einen meteorologischen Erkundungsflug gehandelt, und präsentierten der Weltöffentlichkeit eine in NASA-Farben gestrichene U-2. Nachdem Eisenhower die von Chruschtschow geforderte Entschuldigung für den »Banditenflug« verweigerte, sagte dieser die Teilnahme am geplanten Vier-Mächte-Gipfel in Paris ab.
Der abgeschossene Pilot Gary Powers wurde im Februar 1962 auf der Glienicker Brücke zwischen Potsdam und Westberlin gegen den sowjetischen Kundschafter Rudolf Abel ausgetauscht.
26 Am 30. Oktober 1961 wurde in Nowaja Semlja in der Atmosphäre eine Atombombe gezündet, deren Wirkung etwa die von 3800 Hiroshima-Bomben hatte. Die Druckwelle umrundete dreimal die Erde, und die seismische Erschütterung wurde selbst auf der gegenüberliegenden Stelle auf der Erdkugel registriert. Es war die stärkste jemals gezündete Wasserstoffbombe und erzeugte die größte jemals vom Menschen verursachte Explosion. An der Entwicklung dieser Waffe, die 27 Tonnen wog und acht Meter maß, war der Held der Sozialistischen Arbeit und Stalinpreis-Träger Andrej Sacharow (1921–1989) leitend beteiligt. Als Dissident erhielt er 1975 den Friedensnobelpreis.
27 SAPMO-BArch DY 30/3339, Bl. 6
28 Ebenda
29 SAPMO-BArch DY 30/3339, Bl. 21
30 SAPMO-BArch DY 30/3508 Bl. 196
31 SAPMO-BArch DY 30/3478 Bl. 5
32 SAPMO-BArch DY 30/3478 Bl. 68
33 SAPMO-BArch DY 30/3478 Bl. 70
34 SAPMO-BArch DY 30/3478 Bl. 71
35 SAPMO-BArch DY 30/3709 Bl. 45f.
36 SAPMO-BArch DY 30/3478 Bl. 82
37 SAPMO-BArch DY 30/3569 Bl. 14
38 Siehe: Berlin-Moskau-Berlin. Werner Eberlein im Gespräch mit Joachim Heise und Marianne Regensburger, in: Leben und Berlin mit und ohne Mauer. Gespräche und Betrachtungen, verlag am park, Berlin 2003, S. 125
39 SAPMO-BArch DY 30/3508 Bl. 223
40 B.Z. vom 1. Juni 2009
41 Der Spiegel 23/2009
42 Die Welt vom 29. Mai 2009
43 Die Zeit vom 8. Juni 2009
44 Ebenda
45 Ebenda
46 Hans Kroll (1898–1967), Diplomat seit 1920, Botschafter der BRD in der Sowjetunion von 1958 bis 1962. Er lud sich selbst zu einem Gespräch bei Nikita S. Chruschtschow am 9. November 1961 ein. Anschließend wurde ihm in Bonn vorgeworfen, ohne Auftrag Adenauers eigene Vorstellungen zur Lösung des Deutschland-Problems entwickelt zu haben Vorstellungen, die der offiziellen Politik der Bundesrepublik zuwiderliefen. Nach einer von der Welt losgetretenen Pressekampagne (»Die Zahl derer in Bonn ist nicht klein, die wissen, dass es einen vielgenannten Beamten gibt, der den deutschsowjetischen Ausgleich, koste es, was es wolle, propagiert.«) wurde Kroll aus Moskau abberufen und bald in Pension geschickt.