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Man kauft Urlaub am Wasser und man kriegt Urlaub am Wasser. Es gibt zwar auch Ebbe und Flut, aber der Tidenhub in der westlichen Ostsee beträgt gerade mal 30 cm, das ist aber von Kanton zu Kanton verschieden, äh … nein, von Ort zu Ort verschieden, wir sind ja jetzt im Norden in den Ferien und nicht mehr in der Schweiz.
Keine Überraschung also. Alles wie es sein soll. Das Wasser ist da. Der Wind aber auch. Den hatten sie eigentlich nicht gebucht. Den gibt es dort gratis und nochmal 10 % extra oben drauf, verflucht.
„Schade sind die Kinder nicht mit. Jetzt könnte man eine Schwiegermutter steigen lassen.”
„Was?”
„Na Drachen fliegen lassen.”
Logische Folge des Spruches: Ellenbogen in die Rippen – mit Kommentar.
„Hör auf, Frechling.”
Jelato lacht nur.
Sie beschliessen, gleich morgen einen Strandkorb zu mieten und gehen erstmal wie alle anderen auch an der Grenzfläche Erde-Wasser entlang. Eine Fokussierung an Grenzflächen, das kannten sie. In der Schweiz findet das Phänomen auch statt, allerdings überwiegend an der Grenzfläche Erde-Luft in den Bergen. Da sind dann auch erstaunlich viele Menschen auf einem kleinen Ort oben fokussiert und es wird eng in der Hütte.
Die See ist also wie ein Strich durch eine Ameisenstrasse. Da sammeln sich dann auch links und rechts vor dem Strich die Tiere und laufen ratlos am scheinbar nicht überquerbaren Strich entlang.
Die Ostsee beeinflusst die Psyche der Menschen auf eine sonderbare Art. Ganz offensichtlich macht die Ostsee die Menschen alle melancholisch und schwermütig und nachdenklich. Diagnose: manisch depressiv. Eine bipolare Störung durch die vielen H2O-Dipole, müsste also besser dipolare Störung heissen, weil – kommt vom Wasser. Auf jeden Fall laufen sie dort alle mit gesenktem Kopf rum und schauen nur ab und zu auf, um mit keinem anderen Schwermütigen zusammenzustossen. Gelegentlich hat eine solche traurige Gestalt aber ein Glückserlebnis und alle anderen Schwermütigen drumherum werden mit einem Schrei darauf aufmerksam gemacht.
Wenn das einem Kind passiert, läuft es anschliessend zu Mama und Papa, zeigt stolz die Muschel oder den Stein oder sonst was, und dieses Objekt verschwindet dann in der mitgebrachten Plastiktüte. Dann geht es mit gesenktem Kopf weiter.
Der absolute Höhepunkt einer solchen freiwilligen Strandreinigung ist das Auffinden eines sogenannten Hühnergottes. Das ist ein Stein mit Loch, also eigentlich kaputt, und wer sowas findet, den hat der Glücksgott gerne.
Ihn erinnerte dieses Verhalten der Schwermütigen an den einen alten Spruch und er fragte seine Frau: „Weisst du, wodurch sich ein extrovertierter Physiker von einem introvertierten Physiker im Gespräch unterscheidet?”
„Nein.”
„Der Extrovertierte schaut auf die Schuhe seines Gesprächspartners.”
„Jööh.”
Jelato war ein umweltbewusster Mitbürger und machte sich ernste Gedanken um dieses sensible Ökosystem.
Er fragte seine Frau unvermittelt: ”Wenn alle Touristen seit Jahrzehnten jedes Jahr jede Menge Steine von hier mitnehmen, wieso hat es dann eigentlich überhaupt noch welche? Steine sind doch kein nachwachsender Rohstoff! Die treiben doch nicht im Meer und stranden hier – Bernstein mal ausgenommen.”
„Nein, sicher nicht, aber es kommen trotzdem immer neue. Vom abbröckelnden Ufer, oder angespült über Jahrhunderte von den Bergen. Und eine grosse neue Lieferung aus dem Norden ist schon angekündigt mit der nächsten Eiszeit.”
„Das mit der nächsten Eiszeit kann noch dauern, im Moment soll es ja erst mal wärmer werden. Nach Meinung der Klimaforscher soll der Meeresspiegel deshalb langsam ansteigen, wegen dem Abschmelzen der Polkappen. Wenn aber jeder Urlauber ein paar Steine vom Meer mit heim nimmt, dann wird der Meeresspiegel fallen müssen und zwar um genau die Höhe, die etwa dem Volumen der abgeschleppten Steine entspricht.”
„Vielleicht gleichen sich die beiden Effekte auch aus und alles bleibt wie es ist am Strand, mit der Ausnahme, dass die Steine weniger werden.”
Sagte ich schon, dass Kriminalisten pedantisch sind und eine Deformation professionelle haben? Wenn ja, dann sei es hiermit wiederholt.
„Es ist schön hier.”
„Deswegen kommen wir ja auch oft her.”
„Weisst du noch, wie wir früher mal in einer Kurzeitung irgendwo gelesen haben, der und der ist schon zum 25. mal da und erhält als Anerkennung eine Ehrennadel oder eine Urkunde?”
„Ja. Damals haben wir gesagt, hoffentlich werden wir nicht mal so! Und jetzt? Jetzt sind wir doch bestimmt schon zum 7-ten mal hier und finden das gut. Ich fürchte, wir werden alt.”
„Natürlich werden wir alt, und zwar genau deswegen. Warum sollen wir denn wie vergiftete Affen in der Welt herumrasen, wenn es hier so schön ist. Andere haben ein Ferienhaus und sind jeden Sommer und an vielen Wochenenden da, also immer am selben Ort. Das ist ja noch weniger Abwechslung, aber die Leute fühlen sich wohl, weil es das ist, was sie wollen.”
„Ja, die Menschen sind komisch. Da rasen sie tatsächlich aus ihrem hektischen Alltag heraus wie verrückt in die Ferien, am liebsten zu einem einsamen Inselvolk, bewundern, wie die in Ruhe leben, und dann rasen sie wieder zurück in ihren hektischen Alltag.”
„Was meinst du, wie oft fahren wir noch auf unsere Insel?”
„Bis sie mal rauskriegen, womit man noch alles Geld verdienen kann und grosse Bettenburgen bauen und dann immer ein Riesenbetrieb ist.”
„Ja, das wäre es dann mit der Ruhe. Da wäre sogar nachts noch Party am Strand. Irgendwann taucht dann noch die übliche Schickeria auf und alles ist kaputt: die Ruhe, die Preise, das Wohlfühlen. Hier wären nur noch die Angeber und ihre Gefolgschaft.”
„… und dann rasen sie mit Jet-Skis über das Wasser und irgendwelche Klatschreporter würden dauernd irgendwelchen Promis hinterhersteigen. Sie würden hier grosse Bootsstege bauen für die Angeber-Yachten, Zufahrten und teure Schickimicki-Restaurants – alles würde anders werden.”
„Und sie müssten schöne Parkplätze bauen. Für die tiefer gelegten Sportwagen sind die zur Zeit gar nichts und die teure Nobelkarosse wird womöglich schmutzig. Stell dir nur mal vor, die gnädige Frau müsste aussteigen und würde genau in eine Pfütze treten, das würde sicher zu irrsinnigen Schadensersatzansprüchen führen.”
Langsam wurde es frisch und sie beschlossen, zurück in die Ferienwohnung zu gehen, sich umzuziehen und anschliessend ab zum Essen. Morgen wären sie bestimmt den ganzen Tag am Strand. Schönes Wetter war angekündigt, und genau deswegen waren sie ja hier, zum Herumlungern am Strand, ohne Stress, ohne Handy, ohne Termine, ohne früh aufstehen und ohne Hektik auf dem Weg zur Arbeit, ohne Sachzwänge …
Es kam anders.
Denn seine Frau fragte beim Essen unvermittelt: „Hey Struppi, wie wäre es mit Frisör morgen? Du könntest das Winterfell jetzt ablegen. Es geht in den Sommer.” „Ja, und du könntest dich wieder mal enteseln lassen. Das Graue kommt wieder durch.”
„Was?”
„Du könntest dich wieder ent-eseln lassen.”
Logische Folge: Ellenbogen in die Rippen.
Er lachte nur.
Das kennen wir nun schon und werden es in diesem Buch noch öfter erleben. Diese spezielle Art der nonverbalen Kommunikation ist hocheffizient und hat mit häuslicher Gewalt deswegen nix zu tun, weil sie draussen im Freien genauso oft vorkommt. Es handelt sich mittlerweile auch eher um ein Gewohnheitsrecht.
Ellenbogen in die Rippen ist auch als Form der Anerkennung interpretierbar, etwa nach dem Motto: dieser Mist ist wieder mal ausserordentlich, wer ausser dir kann sich nur so einen Mist ausdenken? Eine modifizierte Art des Schulterklopfens. Auf jeden Fall ist Ellenbogen in die Rippen mental bequem und drückt doch viel aus. Es ist eher eine verbindende Geste als eine trennende Aggression. Das müssen wir uns merken, denn es passiert in diesem Buch noch öfters.
Morgen würden sie also erstmal getrennte Wege gehen. Zusammen nach Wismar fahren, dann getrennt jeder zu seinem Frisör, bei ihm nur schneiden, bei ihr auch färben, dann Einkäufe und so weiter. Sie hatten ja Zeit. Das Meer läuft nicht weg, also hier im Osten jedenfalls nicht.
Er wollte in eine Buchhandlung, er brauchte noch einen Ferienkrimi und ein paar neue Karten von der Umgebung. Ein Stadtführer wäre auch nicht schlecht. Man lernt doch immer noch was dazu.
Sie bräuchte etwa 2’000 Ansichtskarten – weiss der Teufel, wem sie wieder alles schreiben will – und Briefmarken. Offensichtlich muss die ganze Welt über ihre neuen Koordinaten informiert werden.
„Und die Bluse aus dem Outdoorladen bei uns, die gibt es doch hier bestimmt auch.”
„Da kannst du auch im Karstadt schauen.”
„Was? Die haben hier auch ein Karstadt?”
„Nein, Frau. Die anderen haben auch ein Karstadt. Von hier kommt der. Das erste Geschäft wurde 1881 hier in Wismar gegründet.”
„Man lernt nie aus! Woher weisst du das?”
„Das steht in dem Reiseführer, den ich mir morgen kaufen werde.”
„Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?”
„Nee, das habe ich schon bei unserem letzten Aufenthalt hier gehört.”
Der nächste Tag war somit grob geplant.
Dunkle Gestalten und Gerome
Jelato und seine Frau fuhren also wie besprochen am nächsten Tag morgens zusammen nach Wismar, trennten sich dort und verabredeten sich auf eine bestimmte Zeit später an der Wasserkunst. Wir kommen noch darauf zu sprechen, was das genau ist. Auf jeden Fall ist das ein charakteristischer Punkt, ideal für Verabredungen. Heute heissen solche idealen Treffpunkte auf neudeutsch Meeting-Points. Na dann doch lieber die Wasserkunst. Das klingt doch nach was, irgendwie spektakulär, irgendwie avantgardistisch, kultur-elitär – macht auf jeden Fall einfach mehr her.
Jelato traf dort in der Nähe zufällig seinen alten Freund Gerome wieder. Gerome, wer ist das überhaupt? Wie kam es zu diesem Treffen? Dazu müssen wir etwas zurück in der Zeit ...
… früher:
Gerome und Jelato waren vor gefühlten Millionen Jahren zusammen auf der Polizeischule gewesen und hatten sich dann irgendwie später aus den Augen verloren. Es war viel Zeit inzwischen vergangen.
Ein einziges mal hatten sie sich in den vergangenen Jahren zufällig in der Schweiz getroffen. Jelato besuchte damals zur Weiterbildung einen Kongress an der Universität in Lausanne mit dem Arbeitstitel „European Meeting of Forensic Science”. Sein Hauptinteresse galt zwei oder auch drei Gebieten, wo er sich mit den neuesten Entwicklungen aus der Welt der Spurensicherung vertraut machen wollte.
Karli, der Forensiker aus Basel, der, den sie immer Mr. Hmm nannten (warum, erfahren wir später auch noch), hatte ihn auf den Kongress aufmerksam gemacht. Jelato hatte sich das Programm schicken lassen und dann drei Schwerpunkte ausgesucht: Forensic Paint Analysis – Forensic Drug Analysis – Firearms And Gunshot Residues.
Da könnte er auch als Nicht-Forensiker sicher jede Menge nützlicher Details lernen. Und natürlich Kollegen aus der ganzen Welt kennenlernen. Vor allem mit den Jungs vom FBI hätte er sich doch ganz gerne mal unterhalten, was da so läuft auf der anderen Seite vom grossen Teich.
Nach dem Mittagessen auf dem Weg zurück zum Vortragssaal fiel ihm ein dunkelhäutiger Kongressbesucher auf. Er kam im Pulk der anderen Zuhörer zur Tür rein und Jelato erkannte ihn sofort. Das war doch Gerome, sein Kumpel aus alten Tagen! Die Überraschung! Da gab es natürlich erstmal eine anständige Begrüssung und die nächste Veranstaltung wurde selbstverständlich geschwänzt, um die genannten alten Zeiten auch entsprechend aufzuwärmen.
Gerome war englischsprachig, aber er sprach auch exzellent deutsch. Jelato beherrschte im Gegenzug auch ein bisschen englisch, so etwa auf Schulniveau, aber ausreichend. Die Sprache war also noch nie ein Problem gewesen. Nebenbei, die Hautfarbe auch nicht. Ich sage das hier nur, damit das klar ist, denn die beiden pflegten gelegentlich einen robusten Umgangston miteinander und Aussenstehende könnten schon manchmal denken, da wird einer in rassistischer Weise fertig gemacht. Das stimmt aber nicht, das gegenseitige Foppen ist absolut gleichberechtigt und findet, wie man heute so sagt, auf Augenhöhe statt, und das, obwohl sie nicht gleich gross sind.
Und wie zu erwarten wurde das gegenseitige Gefrotzele von früher nahtlos wieder aufgenommen, so als wäre die Zeit stehen geblieben.
„Na, schwarzer Mann, du willst wohl hier ein paar Tricks lernen, damit sie dich nicht erwischen, alter Gauner, häh?”
„Und du, weisser Mann, glaubst du im Ernst, dass du in deinem Alter noch was dazulernen kannst?”
„Ha, ich habe schon viel gelernt. Zum Beispiel die Bestimmung des Todeszeitpunktes von Mordopfern am Schmatzgeräusch der Maden.”
„Habe ich auch gehört. Manche Themen sind originell seltsam oder seltsam originell, wie man will.”
„Erinnert mich an eine andere Arbeit, da haben wir schon als Schüler darüber gelacht: Der Sauerstoffverbrauch des Maikäfers im Rückenflug.”
„Schutz des Grashalmes vor dem Sensenschnitt.”
„Ja, ja. Kenne ich. Einfluss des Blitzschlages auf das Wachstum der Eiche und so.”
„Alles ganz wichtige Beiträge.”
„Das beste, was ich bei Doktorarbeiten bis jetzt gelesen habe, das war bei einem Mediziner. Thema: Untersuchungen zur optimalen Lochgrösse in Salzstreuern.”
„Häh?”
„Ja. Die Mediziner sind doch der Meinung, dass zuviel Salz gesundheitsschädlich ist. Bluthochdruck und so. Und da hat einer untersucht, wie sich der Salzverbrauch in der Kantine über die Lochgrösse von Salzstreuern steuern lässt.”
„Und was hat Schweinchen Schlau rausgefunden?”
„Ist das Loch zu gross, kommt zuviel Salz.”
„Nein.” „Doch.” „Ohh!”
„Warte, es kommt noch besser. Ist das Loch zu klein, dann ist das noch schlechter.”
„Wieso das denn?”
„Weil die Gäste es dann mit der Gabel grösser bohren und es kommt noch mehr Salz.”
„Nein.” „Doch.” „Ooohh!”
„Warte, ich bin noch nicht fertig. Er hat schlussendlich auch noch rausgefunden, wie der Salzverbrauch in der Kantine am effizientesten zu senken ist.”
„Wie?”
„Der Salzverbrauch ist am niedrigsten, wenn keine Salzstreuer auf dem Tisch stehen.”
„Nein.” „Doch.”
„Bo eye! Das ist jetzt aber nicht wahr! Diese Bildungsbestie!”
„Das ist eben die geistige Elite hierzulande, da können wir einfach strukturierten Leute abstinken.”
„Sicher summa cum laude.” „Mindestens!”
„Nobelpreiskandidat.”
„Sooo schlau. Dem platzt bestimmt mal der Kopf.”
„Nur so kommt die Menschheit voran, glaub mir’s.”
So ging das damals auf dem Kongress eine Stunde lang und jeder erzählte dann auch, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Jelato war bei der schweizer Polizei gelandet und fühlte sich dort als Kommissar auch wohl. Gerome war ebenfalls bei der Kripo, irgendwo im grossen Kanton, wie man in der Schweiz zu Deutschland sagt, im Norden. Gerome hatte schon länger die deutsche Staatsbürgerschaft, er war sogar auch irgendwie Doppelbürger, scheinbar geht das, sonst hätte das ja mit dem Beruf nicht geklappt.
Das war also Gerome, diese Begegnung auf dem Kongress war schon Jahre her und nun trafen sie sich also zufällig in Wismar wieder …
… heute:
Ihr Zusammentreffen hier stand aber zu Beginn unter keinem guten Stern. Das hätte leicht auch anders ausgehen können.
Jelato kam gerade vom Frisör, den er selbstverständlich nach schweizer Art Coiffeur nannte, und suchte eine Buchhandlung, irgend sowas wie eine Papeterie mit Büchern und Landkarten und Reiseführern.
Gerome hatte Jelato in der Stadt vor sich von weitem erkannt und wollte ihn einholen. Er folgte ihm mit schnellem Schritt, und als er auf ungefähr 30 Meter heran war, da sah er mit kriminalistisch geschultem Blick für sich anbahnende Gefahren, wie vier Jugendliche Jelato entgegenkamen und ihm auf dem Bürgersteig keinen Platz liessen.
Gerome sah also, wie Jelato und die vier Kapuzengestalten aufeinander zu gingen.
Gefährlich sah das aus.
Spannend.
Eigentlich eine coole Western-Szene. Django beim Duell. Wer zieht schneller? Show-down in Wismar.
Aber es war kein Spiel, sondern Wirklichkeit.
Da wurde kein Platz gemacht für Jelato. Das könnte schnell bitterer Ernst werden. Gerome wollte schon hinlaufen, um Jelato bei der drohenden Auseinandersetzung zu helfen. ‘Das wird eskalieren, das ist doch vorprogrammiert, da läuft eine Provokation’, dachte er. Vier gegen einen, da müsste er eingreifen.
Sein Adrenalinspiegel stieg. Er war körperlich bereit, die Muskeln waren angespannt, die Sinne geschärft. Er beobachtete gespannt jede Bewegung.
Aber dann sah er seinen alten Freund Jelato, wie der einfach durch ging durch die vier Kapuzen-Träger, einfach durch die Mitte, als wäre das gar nichts, und links und rechts flog so ein Kerl etwas unsanft zur Seite. Die stürzten nicht, aber der Rempler machte Jelato den Weg frei.
Danach geschah etwas, was wohl keiner erwartet hätte. Die zwei so hart zur Seite Gestossenen murmelten sowas wie „Entschuldigung” und alle gingen weiter. Kein Streit, kein Gezänk, nichts.
Gerome war inzwischen bei Jelato und begrüsste ihn. „Na, weisser Mann, immer noch der Alte, was?”
„Hey, Gerome, du Sohn der Dunkelheit, was treibst du denn hier? Mensch, so eine Überraschung. Wielange haben wir uns nicht gesehen? Wo kommst du denn her?”
Gerome antwortete nicht, sondern fragte: „Was war das denn eben?”
„Die Vier wollten keinen Platz machen für einen alten Mann.”
„Die haben wohl nicht gewusst, dass du früher Handball gespielt hast.”
„Genau. Durch die Abwehrreihe des Gegners durch ist ohne Ball viel leichter als mit Ball.”
„Ich hätte trotzdem Stürmerfoul gepfiffen.”
„Du meinst übertriebener Körpereinsatz?”
„Na ja, die haben sicher was gelernt.”
„Hoffentlich. Ist doch wahr, die hätten mir doch auch eine kleine Lücke lassen können.”
„Schon. Hattest du einen Plan B? Es waren immerhin vier und es hätte auch anders ausgehen können. Und der Jüngste bist du auch nicht mehr.”
„Doch, doch, einen Plan B habe ich immer. Ich bin zwar schon älter, aber ich kann noch ganz gut wegrennen.”
Sie lachten und sprachen noch eine ganze Weile miteinander. Leider war ihre Zeit knapp. Jeder hatte noch was zu erledigen in der Stadt.
Aber bei so einem zufälligen Treffen konnte es doch nicht bleiben! Nicht bei diesen beiden, nicht nach so langer Zeit!
Sie verabredeten sich daher auf den nächsten Tag im Hafen, ist doch klar, wenn man sich solange nicht gesehen hat, vielleicht Stadtrundgang, vielleicht Kaffee trinken, vielleicht was ganz anderes, es würde ihnen sicher was einfallen, auf jeden Fall, wir kennen es: alte Zeiten aufwärmen.
Alte Zeiten aufzuwärmen scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Übrigens auch von denen, die sich früher über ihren Opa nervten, weil der immer vom Krieg erzählt hat.
Nachdem die diversen Vorhaben wie Ferienliteratur und Stadtführer inclusive Stadtplan erledigt waren, traf sich Jelato wie abgesprochen mit seiner Frau an der Wasserkunst (wir kommen wirklich noch drauf zu sprechen, was das ist, das wird nicht vergessen) und sie waren beide sichtlich stolz auf ihre jeweilige neue Haartracht.
Seine Frau sagte voller Stolz: „Siehst du, jetzt bin ich kein Esel mehr! Neue Frisur, neue Farbe. Nix Graues mehr zu sehen! Total ent-eselt.”
Jelato nickte anerkennend. Wehe, wenn nicht! Mann kennt das, frau ist so. Dann sah er gegenüber einen sogenannten Schwedenkopf im Portal des Hauses, das Alter Schwede heisst, und sofort ging ihm der literarische Gaul durch und er fing an:
„Am Lockenkopf und Spitzenkragen
Empfandet Ihr ein kindliches Behagen,
Ihr trugt wohl niemals einen Zopf?
Heut schau ich Euch im Schwedenkopf.”
„Was war das denn?”
„Das war Goethe, Faust II, zweiter Akt, Gotisches Zimmer.”
„Gesundheit.” „Danke.”
„Und wie kommst du jetzt da drauf?”
„Ist doch klar. Der Schwedenkopf war damals eine moderne Kurzhaar-Frisur. Goethe wollte also sagen, dass da ein moderner, frei denkender Mensch vor ihm stand und nicht einer mit der damals üblichen, womöglich verlausten Perücke.”
„Das war also ein Kompliment für mich?”
„So solltest du das sehen. Das erspart uns den Paartherapeuten.”
„Bei dir hat es sich aber auch gelohnt. Du siehst jetzt mit deinen kurzen Haaren wieder aus wie ein Mensch.”
„Danke. Übrigens, ein paar Zeilen weiter sagt der Goethe:
Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.”
„Ich fühle mich ertappt.”
Gemütlich schlenderten sie zufrieden zurück zum Parkplatz. Auf der Rückfahrt in die Ferienwohnung fragte Jelato seine Frau: „Rate mal wen ich vorhin in Wismar getroffen habe?”
„Ach, Mann, es gibt ein paar Milliarden Menschen auf der Welt, ich habe keine Lust, lange zu raten, also sag schon.”
„Den Gerome.”
„Welchen Gerome?”
„Ach, ich habe dir doch mal erzählt. Der schwarze Kollege, der mit der Geschichte mit den Kindern auf dem Spielplatz. Ich bin sicher, ich habe das schon erzählt.”
„Kann ja sein, aber mir sagt das jetzt nichts.”
„Gut, dann erzähle ich es halt nochmal. Du vergisst in letzter Zeit sehr viel. Muss ich mir Sorgen um dich machen?”
„Das musst du gerade sagen. Wer sucht denn in letzter Zeit immer seine Brille, du oder ich? Und jetzt erzähl schon diese Geschichte.”
„Gut. Also: Gerome ging mal in einem Dorf an einem Spielplatz vorbei und die Kinder bemerkten ihn. Aber nicht abwertend oder rassistisch, sondern einfach so, wie Kinder halt etwas bemerken, was sie nicht so häufig sehen. Er hatte sofort die Anerkennung der Kinder. Sie bewunderten ihn und sagten: „Guck mal, der hat‘s gut, der muss sich nicht waschen“. Die Kinder meinten das durchaus ernst, kein bisschen bösartig. Jemand der sich nicht waschen muss, das ist doch klasse, das will ich auch, so ungefähr. Er realisierte das und anstatt sie zu beschimpfen, wie sie dazu kämen, sich über einen Neger lustig zu machen, dämpfte er ihre Begeisterung und zeigte ihnen seine helleren Handinnenseiten: „Wieso? Ich wasche mich doch.“ Da war er bei ihnen sofort der Grösste, sie erkannten das neidlos an. Ich bin sicher, seitdem haben sie grossen Respekt vor Schwarzen.”
„Ach die Geschichte. Ja, das hast du schon erzählt, jetzt erinnere ich mich. Du hast damals auch gesagt, dass Kinder, die solche Lehrer hatten, niemals Rassisten werden können. Und was macht dieser Gerome jetzt?”
„Der ist auch bei der Kripo, hier im Norden irgendwo, muss ihn mal fragen wo.”
„Sachen gibt’s.”
„Wir haben uns für morgen mittag im Hafen verabredet, und ich gehe mit ihm vielleicht durch die Stadt oder so. Ist das okay für dich? Wir haben uns solange nicht gesehen.”
„Das trifft sich sogar gut. Dann mache ich morgen mein Wellness-Programm. Ich habe irgendwo in der Ferienwohnung einen Prospekt gelesen, da trifft sich jeden Tag eine Gruppe am Strand. Gymnastik, Joggen, Walking, immer was anderes.”
„Das passt ja prima!”
„Aber was anderes. Du hast vorhin Neger gesagt. Darf man das überhaupt noch, ich meine von wegen pc?”
„PC – Personal Computer?”
„Nein, pc, political correctness.”
„Ah. Gute Frage. War mir auch nicht klar. 40 Jahre lang haben wir das gesagt, ohne an was Böses zu denken. Damals gab es sogar noch den Sarotti-Mohr. Und jetzt wird man nieder gemacht, wenn man das sagt. Man wird ja richtig unsicher. Da habe ich einfach mal den Gerome gefragt.”
„Und, was hat der gesagt?”
„Der hat nur den Kopf geschüttelt wegen dem Blödsinn. Neger wäre absolut okay und überhaupt nicht rassistisch, jedenfalls für ihn nicht. Im Gegenteil, der zwanghafte Wahn, das Wort Neger zu vermeiden, führt jetzt zu neuem Rassismus.”
„Wie das denn?”
„Diese Zwangsneurose, nur ja nicht rassistisch sein zu wollen, führt dazu, dass nun alle diejenigen diskriminiert und verfolgt werden, die das Wort verwenden. Obwohl die das nicht rassistisch meinen. Jetzt gibt es sogar Fanatiker, die alle möglichen Bücher und Geschichten umschreiben lassen wollen. Zehn kleine Negerlein soll gestrichen werden, Wilhelm Buschs Geschichte Die Rache des Elefanten mit dem Neger und dem Elefanten soll womöglich verboten werden. Da ist zum Beispiel folgende Stelle drin:






