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Als Geschosse nutzten wir große Kieselsteinchen oder besorgten uns aus dem am Markt ansässigen Metallwarengeschäft fette Eisenkrampen. Die flogen locker hundert Meter oder weiter. Wohin auch immer. Manchmal knallte es irgendwo. Aber wir waren doch noch Kinder!
Es kam die Zeit, als mein Schwesterchen alleine laufen lernte. Als sie das einigermaßen beherrschte, war sie in der Regel unterwegs: Sie war weg. Ihr Drang nach persönlicher Freiheit war von Beginn an extrem markant. Dagegen half nur eins: Man musste sie anbinden. Niemand konnte ständig hinter ihr her sein, also besorgte sich meine Mutter ein Halfter und befestigte die permanente Ausreißerin mit einer fünf Meter langen Leine an dem Wäschepfahl im Hof oder hinten auf der Wiese. Zehn Meter Durchmesser im Freilauf – zum Spielen.
Band sie einer aus Versehen oder aus Mitleid los, war sie wieder weg. Irgendwann brachten sie Leute vom zweihundertfünfzig Meter entfernt liegenden Marktplatz zurück, dort traf man sie an, nur mit einer Windel und Schlüpfer bekleidet. Sie war wieder mal ausgebüxt. Derweil war sie als Ausreißerin bekannt und man wusste, woher sie kam.
Je älter, umso furchtloser wurden ihre Fluchtaktionen. Selbst hohe Zäune waren für sie kein wirkliches Hindernis. Unser Garten war in südliche Richtung mit einem etwa zwei Meter hohen, schön satt mit altem Motorenöl schwarz getünchten Holzlattenzaun versehen. Jede einzelne Latte war oben angespitzt, sollte ja niemanden dazu einladen, von außen her drüberzuklettern. Die einzelnen Abschnitte wurden durch dicke Granitsäulen gehalten.
Eines Tages hörte mein Opa, der sich auf dem Gemüsebeet seinen Anpflanzungen widmete, ihre Rufe: „Oooopaaaaa – ich häääänge!“
Tatsächlich, er traute seinen Augen kaum, beim Versuch, diesen Zaun zu überwinden, rutschte sie ab und eine Holzlatte durchbohrte – zum Glück nur – ihr dünnes Sommerkleidchen in Brusthöhe und sie hing kopfüber im Zaunfeld! Horror!
Sie war als Kind immer der quirligere Teil der Familie. Damit wenigstens beim Essen Ruhe einkehrte, hatte mein Vater ein ganz profanes Mittel: Um sich anbahnende Unruhen bereits im Keim zu ersticken, legte er wortlos neben seinen Teller mit dem üblichen Besteck einen Holzkochlöffel ab. Dieser hatte tatsächlich beruhigende Wirkung.
DER STAAT – SEINE ORGANE UND ICH – TEIL 1
Bereits mit vier Jahren hatte die Staatsmacht auf mich einen ersten, prägenden – negativen Eindruck hinterlassen.
Ich weiß noch: Eine kurze Zeit lang musste ich den örtlichen Kindergarten besuchen. Kindergarten! Das war für mich wie Gefängnis mit Außenschläfer oder wie man das nennt. Ich und Kindergarten, die härteste Strafe überhaupt! Noch weit vor Stubenarrest. Ich habe absolut keine guten Erinnerungen an diesen Ort, habe fast alles schnell aus meinem Erinnerungsvermögen gestrichen.
Nur ein paar Fragmente blieben hängen: Es gab große Volieren mit Vögeln, Fasanen. Was sonst noch drin flatterte, weiß ich nicht mehr. Die waren mir im wahrsten Sinne des Wortes als dunkle Verschläge im Kopf verblieben, gespenstisch düster und unheimlich.
Und an noch etwas erinnere ich mich. Eines Tages mussten wir in einer Reihe antreten, als der ABV (ABV heißt „Abschnittsbevollmächtigter“ – welch hirnlose Wortprägung für einen „Volks“-Polizisten, der für einen „Abschnitt“ bevollmächtigt war), so nannte man den Ortspolizisten, uns der Nase nach begutachtete. Einer hatte wohl was ausgefressen, kann mich aber nicht mehr erinnern, wer und was. Wie gesagt, es war im Kindergarten, wir Kinder waren etwa vier Jahre alt!
Dieses widerwärtige Schnüffelgesicht des ABV erinnert mich im Nachhinein an ein Hausschwein, welches genüsslich mit der Schnauze im Dreck wühlt und vor sich hin grunzt. Uns machte das Angst.
Dieses Ereignis hat sich mir äußerst negativ eingeprägt. Vielleicht war es ein Ziel dieses Staates, mit der Einschüchterung früh zu beginnen? Ab diesem Moment waren bei mir die „Volks“-Polizisten als „Freunde und Helfer“ unten durch.
Den Kindergarten hasste ich wie die Pest. Und schließlich hatte meine Methode, während des täglichen Anmarsches so herzzerreißend zu heulen – wie, wenn man jemanden zum Abdecker bringen würde – bei meinem Opa so einen durchschlagenden Erfolg, dass er vor lauter Mitgefühl wieder mit mir nach Hause ging. Zum guten Schluss beschlossen meine Eltern, bei mir auf diese Einrichtung zu verzichten. Und so konnte ich mich wieder dem Spielen mit meinem besten Freund – der ebenfalls nicht in diese Einrichtung gehen musste – und den gemeinsamen Erlebnissen unserer Art der Freiheit widmen.
MOHN – KANN MAN DAVON EINEN RAUSCH BEKOMMEN?
Im Grunde genommen waren meine Schwester und ich liebe Geschwister, okay, meistens, na gut – oft. Die meiste Zeit verbrachte ich eh mit meinem Freund. So kamen wir uns selten ins Gehege.
Wir zwei Jungs waren viel unterwegs, falls wir uns nicht gerade gegenseitig mit Hacken drangsalierten und aufgrund dessen zwangsgetrennt wurden. Ob es regnete oder schneite, interessierte uns nicht im Geringsten. Hauptsache draußen.
Die schlimmste Strafe für uns war Stubenarrest. Damit könnte man der heutigen Computergeneration einen Riesengefallen tun. Für mich und ihn war es das blanke Elend, zu Hause eingesperrt zu sein. Wir hatten ja auch traumhafte Bedingungen zum Ausgehen.
Auf unseren Touren wurde permanent nach Essbarem geforscht. So entdeckten wir beispielsweise den Mohn als schmackhaften „Snack“. Der Mohnanbau war im Osten, so weit ich weiß, nicht verboten. Das Produkt Mohn sollte auf dem Kuchen landen und nicht in der Spritze.
Zu jener Zeit hatte ich zwei Arten der Begegnung mit dieser Kapselfrucht. Die eine, die ich fürchterlich fand, wenn meine Mutter auf die Idee kam, Mohnkuchen zu backen oder Pflaumenklöße herzustellen und ich dazu den Mohn mahlen musste. Dazu diente die Mohnmühle, eine hölzerne Handmühle, ähnlich einer alten Kaffeemühle, in die man oben die Mohnsamen reinschüttete und dann die Kurbel drehen und drehen und drehen musste, es ging kaum was durch. Reinste Strafarbeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich erinnere mich, zwölf bis fünfzehn Minuten benötigte ich für ein Döschen zerquetschten Mohns, welchen man dann unten rauszog. Die drei- oder vierfache Menge wurde für die Pflaumenklöße benötigt, für den Kuchen noch mal das Doppelte. Die Resultate aber waren einfach köstlich.
Mohn – natur! Frisch vom Feld, das war die zweite Variante, eher was für uns Jungs. Mein Opa hatte auf einem seiner Äcker ein Teilstück mit Mohn bestellt, hellblau blühender Mohn (Schlafmohn) war es. Im Sommer auf dem Weg zu unserem Lieblingsziel, dem Steinbruch, nutzten wir die Gelegenheit, um uns hier erst einmal richtig zu stärken. Am besten schmeckte uns der Mohn, wenn er noch unreif war, innen helle, weiße Samen hatte. Nun ja …
Warum man später keinen Mohn mehr anbauen durfte, muss man nicht verstehen, uns hat’s geschmeckt und es ist uns gut gegangen, vorher und danach. Dass wir davon „high“ geworden wären, kann ich nicht behaupten, abgesehen mal davon, dass wir diesen Zustand als solchen nicht kannten. Eher wohl nicht, denn der Sauerampfer (der wuchs besonders gut auf den naturgedüngten Kuhwiesen, also Bio vom Feinsten), den wir ebenfalls frisch geerntet verzehrten, hat diesen Effekt bestimmt neutralisiert.
Wir tranken auch das Wasser aus den kleinen Bächen. War es klar – war es (für uns) sauber und trinkbar. Krank wurden wir davon nie. Wir hatten auch niemals einen Bandwurm oder so ein Zeug.
IM PARADIES
Regelmäßigstes Ziel in der warmen Jahreszeit war unser Steinbruch, etwa fünfundzwanzig Kinder-Gehminuten vom Haus entfernt – eine wirklich traumhafte, natürliche, wunderschöne Idylle. Ich kenne keinen anderen Ort meiner Kindheit, der mir so im Hirn festgeschrieben blieb wie dieser kristallklare, dunkelblaue See, gesäumt von einem Grün, wie man es nur im Paradies noch schöner hätte finden können. Na ja, so in etwa.
Man muss sich das so vorstellen: Von innen betrachtet sah es dort aus wie in einem kleinen, erloschenen Vulkan, mit etwa zwanzig Meter hohen, schräg aufsteigenden Granitfelsen und zum Teil mit sattem Grün, Bäumen und Sträuchern bewachsenen Wänden, an denen man als sportlicher Junge relativ gefahrlos hochklettern konnte. In Richtung Süden war dieser vulkanähnliche Kegel aufgeschnitten. An dieser Stelle konnte man in den Steinbruch hineinlaufen oder hineinfahren. Hier war das Wasser auch sehr flach und fiel Richtung Mitte weiter steil ab. Um den See herum, er hatte etwa vierzig bis fünfzig Meter Durchmesser, konnte man im Kreis laufen.
Bis nach der Mittagszeit waren wir zwei fast immer alleine vor Ort. Oft sind wir dort schon so zwischen neun und halb zehn Uhr eingetroffen. Später, nachmittags, kamen dann die Älteren, die sich ein Blockhaus auf einem Vorsprung am Wasser gebaut hatten. Sie grillten dort, machten Lagerfeuer, tranken und badeten im doch recht kühlen Wasser. Mit uns hatten sie aber nichts am Hut. Sie duldeten uns, wir hielten uns von ihrer Hütte fern, gegenseitig einvernehmlich.
Aus den umliegenden Haselnussbüschen, Weiden und anderen Hölzern schnitten wir uns Ruten für Pfeil und Bogen und bastelten daraus unsere Katapulte oder Pfeifen (die zum Krachmachen, nicht die zum Rauchen, Letztere nutzen wir erst später).
Das Wasser war so sauber, dass man es wahrscheinlich hätte trinken können. Aus dem glasklaren Nass angelten wir Flussbarsche mit unserer auf eine Holzgerte gebundenen Handangel, die man für neunzig Pfennige im Sportgeschäft kaufen konnte. Mit etwas Glück und Geschick holten wir selbst Krebse raus. Um die Viecher zu erwischen, mussten wir die Angel ganz behutsam hochziehen, dann hatten sie den Brotklumpen noch fest zwischen den Scheren. Beide Tierarten überleben bekanntermaßen nur in absolut sauberen Gewässern, besonders Flussbarsche haben hohe Ansprüche an die Wasserqualität. Also waren diese Lebewesen Indikatoren, es musste gut sein.
Rings um den See gab es alles, was man so zum Leben brauchte: Walderdbeeren, Brombeeren, Himbeeren, rote, weiße und schwarze Johannisbeeren, Sauerampfer, Taubnessel (die süßen Enden der kleinen Blüten saugten wir aus), Weizenäpfel, Nelkenäpfel (eine köstliche Delikatesse! – findet man so gut wie gar nicht mehr, diese saftigen, knackigen kleinen Äpfel mit dem wunderbaren Geschmack), Vogelkirschen, Sauerkirschen, Süßkirschen, Pflaumen, Rüben- und Möhrenfelder … Auch mein Opa hatte hier noch eine weitere große Wiese gepachtet und auf der anderen Seite des Steinbruchs ein Kartoffel- und Rübenfeld. Alles Mögliche probierten wir auf Essbarkeit. Wie die Survival-Künstler. Es war einfach richtig grandios, traumhaft und ruhig.
Die Natur stand bei uns hoch im Kurs. Bei den damaligen Kommunalpolitikern weniger. Die suchten stets nach Möglichkeiten, allen Schutt und Unrat ablagern zu können. Jedes Loch, das sich anbot, wurde mit allem, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen dürfte, verfüllt. Irgendwann gab es wohl keine Option mehr in der näheren Umgebung. Da besann man sich auf unseren Steinbruch.
Pures Entsetzen! Unser Paradies wurde eine Mülldeponie, eine Schutthalde! Die Idylle wurde sinnlos und unwiederbringlich zerstört, die wunderbare Natur starb. Wir waren sehr betrübt. Denn wir konnten es schon damals nicht verstehen, warum man so etwas tun konnte. Aber das war Alltag, Alltag im Osten! Nur im Osten? Vermutlich nicht.
DIE SAMMLER
Aber auch diesen – für uns überaus traurigen – Umstand wussten wir entsprechend auszunutzen. Nicht nur wir, besonders der älteste Bruder meines Vaters, mein Onkel H., der alles sammelte, was im Entferntesten nach Wert aussah und sich damit, clever, wie er war, mehr als nur die eine oder andere Mark dazuverdiente. Besonders das legte er beiseite, was man schon seinerzeit als Antiquität vermarkten konnte. Das fand sich dann auf dem von ihm gelenkten städtischen Lkw, einem S4000, den er neben noch einer „Ameise“, so einem einsitzigen Minigefährt, das sich im Größenverhältnis zu einer Ameise nur bedeutend langsamer bewegte, als alleiniger Fahrer nutzte und mit dem er wohl auch seine beliebigen Privatfahrten erledigen konnte. Ich glaube, wenn man nebenherlief, konnte man in etwa Schritt halten.
Und weggeworfen wurde ja viel. Alles, was im Weg stand, wurde entsorgt oder zerhackt. Dass es heute einen unschätzbaren Wert haben würde, hatte damals keinen interessiert. Ich erinnere mich, wie mein Vater ein richtig gutes Klavier zerlegte, was nur ein wenig verstimmt war, ihm aber im Weg rumstand. Oder wie er handwagenweise zig riesige Hirschgeweihe zur Müllhalde brachte. Die stammten aus dem Nachlass der enteigneten Textilunternehmer, deren Fabrik, eine Spinnerei, schräg gegenüber von unserem Garten stand. Aus deren Villa erhielten wir auch schöne, alte, massive Holzmöbel – die heute ein Vermögen wert wären, wenn die Axt nicht schneller zugeschlagen hätte.
Was brennbar war, landete im Ofen, Metall beim Schrotthändler (der sich wohl öfters die Hände vor Freude rieb) und der übrige Rest auf dem Schuttplatz.
Auch wir sammelten das, was Geld brachte. Pappe beispielsweise (Wellpappe, es gab zehn Pfennige für das Kilo), eine Kerzenfabrik aus der Umgebung lud nun in dem zum Schuttplatz gewordenen Loch gleich verladefertig gebündelte, wachsdurchtränkte Kartonagen ab. Wir luden sie auf unseren Zweiräder (Handkarren) und je nach Menge auf unsere zusätzlich schnell geholten Leiterwagen, versteckten diese im Wald und fuhren sie nacheinander einzeln zum Altstoffhändler. Leicht erstaunt über das Gewicht der gefalteten Kartons, zahlte er uns aber das Geld aus. (Wir Schlitzohren hatten außen, oben und unten saubere Pappdeckel draufgebunden, so war vom Wachs nichts erkennbar.)
Ein anderes Mal fanden wir zig leere, verschnürte Zementsäcke. Zum Teil richtig keimig, aber mit dem gleichen Trick machten wir sie auch zu Geld.
Den Volltreffer landeten wir, als wir eines Tages riesige Walzen mit massig schweren Aluscheiben an jeder Seite entdeckten, Durchmesser fast einen Meter. Die Walzen wurden von einer der umliegenden Textilfabriken dort entsorgt. Eine Scheibe wog bestimmt so an die dreißig Kilo. Und für Alu gab es richtig gutes Geld. Hier konnten wir aber nur einige beiseiteräumen. Denn als wir unsere ersten Wagen geholt hatten, lagen die restlichen verbliebenen schon wieder auf der Pritsche des Lkws meines Onkels.
HAUS UND HOF
Auf unserem Grundstück stand neben dem Haus die riesige Holzscheune. Zwischen diesen beiden Gebäuden hatten die Hühner, Enten und Gänse ihre Gatter. Der ideale Ort für Kinder, denn in der Scheune gab es oben einen großen Heuboden. Und wenn mein Opa genügend Heu eingefahren hatte, war auch unten noch alles voll, sodass man sich von der oberen Etage schön herunterfallen lassen konnte. Das machte riesigen Spaß.
Bei uns gab es recht viel an Getier: Hühner, Enten, Gänse, Karnickel, Katze, ein Schwein, auf dem man reiten konnte – wenigstens ein kurzes Stückchen … Und um die Weihnachtszeit ab und zu noch eine oder zwei Tauben, die ich von der Tombola der jährlich stattfindenden Geflügelausstellung mitbrachte. Hier gewann man immer etwas, Wellensittiche, Eier, Hühner und eben auch mal Tauben.
Als man mir den Gewinn dann aus dem Käfig holte, musste ich erst immer böse werden, als der blöde Mann mich fragte, ob er ihr gleich den Kopf abreißen sollte. Was um Himmels willen wollte ich mit einer Taube ohne Kopf, hääh? Bescheuert? Manchmal hatten sie wirklich nicht mehr alle, die Alten.
Das glaubte ich erst recht, als ich daraufhin vor der Tür des Kulturhaussaales, in dem die Ausstellungen stattfanden, im blutverschmierten Schnee wieder die abgerissenen Taubenköpfe sah. Entsetzlich primitiv, diese Erwachsenen! Ich war mir sicher, die waren nicht normal.
Mit Beginn jeden Frühjahrs wurde es zunehmend lebhafter auf unserem Gehöft. Die Karnickel sollten Junge bekommen. Opa sorgte für „frisches Blut“, so sagte er mir. Deshalb kamen Wendelbácsi oder Onkel Weber mit Kisten, worin sich ein paar Karnickelmänner befanden. Opa holte dann eine Karnickelfrau an den Ohren aus unserem Stall, setzte es vor den Karnickelmann von Wendelbácsi oder Onkel Weber – rappel di zappel –, wartete ein paar Sekunden (relaaaax …) und tat sie wieder in den Stall zurück. Dann trank man einen Schnaps oder ein paar Schnäpse mehr oder auch was von dem selbst gegorenen Wein aus Johannisbeeren und die beiden gingen – je nach Genussanteil an diesem Event mehr oder weniger geradlinig – wieder zufrieden nach Hause. Und nach neun Monaten … Blödsinn, denn die Karnickel waren doch viel, viel fixer. Süß, die kleinen Wollknäuel.
Im Mai holte meine Oma auch neue Küken aus dem Nachbarort. Die Katze hatte bereits ein Auge auf sie geworfen, tat aber zu meiner Verwunderung nichts. Vermutlich ahnte sie, was ihr blühen würde, wenn … Nur bei meiner Schwester musste man aufpassen, dass sie den armen Tierchen vor lauter Freude den Hals nicht zu stark zudrückte. Denn wenn sie bereits die Augen verdrehten, war die Zeit knapp, um noch Leben zu retten. Jedenfalls, die meisten – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als man was für die Suppe brauchte – haben überlebt.
Hühner und Enten konnte ich prinzipiell auch ganz gut leiden, die taten mir ja auch nichts. Ganz im Gegenteil dazu die verfressenen Monstergänse: Der Chef der fiesen Herde, ein weiß-grauer Gänserich war bestimmt – alleine schon von der Statur her – ein verwunschener Kampfhund. Er und sein Gefolge sorgten stetig dafür, dass meine Beine immer irgendwo blau gezwickt waren. Und die Viecher waren so verdammt schnell, dass man kaum eine Chance hatte, zu entfliehen. Da half selbst die Weidenrute nicht immer, sich die Bestien vom Hals zu halten.
Selbst vor fremden Erwachsenen hatten die Ungeheuer keinen Respekt. Besonders gern hatten sie es auf meinen Onkel H. abgesehen. Er war fast ein Riese, hatte aber vor dem kleinsten Hund fürchterliche Angst und erst recht vor diesen Ungetümen. Also, wer uns besuchte, musste schon etwas aufpassen, dass er heil an den Tieren vorbeikam.
Darum hatte ich auch kein Mitleid mit ihnen, wenn meine Oma das Messer wetzte. Gerechte Strafe muss nun mal sein. Und schließlich brauchten unsere Kopfkissen auch ab und zu wieder neue Federn.
Letztendlich landete alles essbare Getier irgendwann im Kochtopf oder in der Pfanne. Hundert Prozent Bio! Und der Rest kam aus dem Garten oder von den zwei Schrebergärten und gepachteten Flächen. Wir hatten alles an Gemüse, was in unseren Breitengraden (auch schon vor der Klimaerwärmung) wuchs und was zum Kochen benötigt wurde.
Wenn ich mich an das selbst gemachte, knackige Sauerkraut erinnere, da wurde ein kinderbadewannengroßes Behältnis vollgehobelt und in Tontöpfe gestampft – einfach gesund und lecker! Oder die Salz- und Brotgurken. Hmm.
Meine Oma war meistens zu Hause und kochte vermutlich für ihr Leben gern. Exzellente Speisen, schmackhaft, rustikal. Und für uns Kinder fiel beim Zubereiten immer etwas zum Naschen ab. So auch beim Nudelnherstellen: Die runden Ränder vom Nudelteig, bevor er in feinste Fadennudeln verwandelt wurde, schnitt sie ab und legte sie direkt auf den holzbefeuerten heißen, gusseisernen Herd. Nach kurzer Zeit wurde daraus ein leckerknuspriger Knabbersnack für uns.
DER TIERHALTER – TEIL 1
Als Kinder wollten wir Tiere natürlich auch selbst halten, alles, was sich uns anbot. Vom Regenwurm über diverse Raupen, Blindschleichen oder Ringelnattern, die wir – wenn wir Glück hatten – bei der Heuernte vor Opas Sensenhieb erretten konnten oder aus dem Zufluss beim Badeteich fingen, Tauben, mal eine junge Krähe, alles Mögliche an Fischen, selbst gefangene oder die Goldfische, die mein Vater aus dem Zuchtteich eines ungeliebten Arbeitskollegen mit nach Hause brachte, mit dem er sich zuvor in den Haaren hatte und ihm sozusagen als Entschädigung ein paar Fische aus dessen Teich entnahm, Molche, Krebse, Eidechsen, mal eine Fledermaus und was weiß ich noch alles.
Auch mit der Zucht hatte ich mich versucht. Mein anderer Opa, väterlicherseits, hatte damit viel Glück, besonders mit seinen Kanarienvögeln. Die hatten ständig Nachwuchs in Massen. Davon wollte ich mir ein paar abzweigen. So besuchte ich ihn.
WARUM RASIERT MAN EINEN KNÖDEL? ODER: MEIN ANDERER OPA
Fünfzehn Kinder-Gehminuten entfernt wohnte er im Haus meines zweiten Onkels J. – der mit der kräftigen Ohrfeige, siehe Kapitel 1.
Mein Opa arbeitete zusammen mit Onkel H. beim Rat der Stadt auf dem Bauhof. Als alter Rossbrunner (Lókúter) hatte er natürlich viel Ahnung vom Gärtnern, Rosenveredeln, Bäumeverschneiden und vom Bauen, also verschönerte er – solange er noch nicht in Rente war – die Straßen und Plätze unserer kleinen Stadt oder legte die vielen Blumenrabatten an.
Beim Betrachten der historischen Fotos werden hin und wieder mal ein paar alte Storys über ihn ausgegraben, die wohl ihresgleichen suchen dürften.
Zahnpflege war bekanntlich früher weniger ausgeprägt als in der Neuzeit. So trug er – wie viele ältere Menschen – eine Prothese. Heutzutage ist der Zahnarzt auch für den Zahnersatz zuständig. Mein Opa erledigte damals seine Probleme mit der Prothese eher unkonventionell: Brach ein Zahn aus der Halterung, klebte er ihn selbst wieder ein. Und was eignete sich dafür zu Ostzeiten am besten? DUOSAN! Ein penetrant nach Lösungsmitteln stinkender, transparenter Alleskleber. Viel mehr Auswahl gab es ja auch nicht. Damit konnte er jedenfalls wieder richtig beißen. War der rausgefallene Zahn nicht mehr zu retten, wusste er Abhilfe: So hat er auf dem städtischen Schuttplatz – also auf unserer bekannten Müllhalde – Hundezähne entdeckt, die er sich als „Hobbyzahntechniker“ passend feilte, um die Lücke im Gebiss zu schließen. Nun ja.
Da er ja ohne Pause rauchte, schien sich das Thema Desinfektion auch von selbst erledigt zu haben. Nicht umsonst gibt es ja das Haltbarmachen durch Räuchern.
Man muss eben nur die richtigen Ideen haben und sich zu helfen wissen. Nun konnte er also wieder richtig beißen. So lange musste das Essen auf dem gusseisernen, holzbefeuerten Herd warten. Vielleicht Tage? Ob es noch gut war? Vermutlich, denn an einer Lebensmittelvergiftung ist er definitiv nicht erkrankt, geschweige denn gestorben. Nicht dass es keinen Kühlschrank gab, den hatte er auch, der war nagelneu, aber diente eher als Zierde statt zur Nutzung.
Und wie sehen denn grüne Klöße nach ein paar Tagen aus, so ganz ohne Kühlung? Da bildet sich etwas, sie „wachsen“. Kann man auch als Schimmel bezeichnen. Schimmel war früher wohl auch nur ein ästhetischer Mangel am Essen, was heute alles komplett weggeworfen wird, wo kaum die erste Spore zu sehen ist, wurde seinerzeit noch aufgearbeitet.
„Opa, wo hast du denn die verschimmelten Klöße hingetan?“, so fragte ihn meine Cousine.
„Die hoab i rasiert.“ Und natürlich gegessen.
Eines seiner Hobbys waren Kanarienvögel. Er züchtete sie schon viele Jahre lang, die quirligen, hübschen exotische Gesellen. Davon wollte ich gern welche haben. Ich klopfte an seiner Wohnungstür. Um mich einzuschmeicheln, grüßte ich nach dem „Joo!“ laut mit: „Grüß Gott!“
Mit „Guten Tag“ hätte ich nichts erreicht, darauf hat mein Opa viel Wert gelegt. Mit einem „Grias Good“ antwortete er und reichte mir seine große, von der Arbeit zerfurchte Hand.
Schließlich gehörte ich mit dem „Grüß Gott“ auf den Lippen nicht zur „Daivaszucht“ („Teufelszucht“ auf Hochdeutsch), denn so titulierte er den Rest der (in seinen Augen) Ungläubigen, den Gelüsten der heidnischen Welt verfallenen, selbst auch einen nicht unerheblichen Teil seiner (aller-) nächsten Verwandten. Diese „Auserwählten“ (aus der Zucht des Teufels) konnte man sich anhand seiner Bildergalerie – eine Art aktuelle „Hitliste des Bösen“ – auf dem großen hölzernen Radio oder darüber im Regal betrachten. Auf diesen Fotos konnte ich sehen, wen er gerade brandaktuell zur „Daivaszucht“ gekürt hatte: Derjenigen Person auf der Fotografie hatte er mit roter Tinte gemalte Hörner verpasst. Es gab ein paar, denen wurde diese Auszeichnung öfters zuteil, sozusagen die „Top Ten“ der „Daiva“.