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So schildert Burroughs fast fünfzig Jahre später diesen ersten literarischen Versuch und auch dessen Fortschreibung: Aus Jerry, dem rothaarigen Wolf, wird der Saure Kid, ein Saxophonist im knallroten Hemd, der sich plötzlich eine Zitrone in den Mund schiebt und damit eine-Entgleisung auslöst:
›Ein Crescendo saurer Töne von Saxophonen und Trompetern: Die Sängerin steht mit offenem Mund da. Speichelfäden hängen ihr vom Kinn wie bei einer Kuh mit Maul- und Klauenseuche. Kellner und Rausschmeißer nähern sich von mehreren Seiten. Der Saure Kid spuckt die Zitrone aus, geht auf alle viere herunter und verwandelt sich in einen dürren, sehnigen, rothaarigen Wolf. Er bleckt die Zähne zu einem wölfischen Grinsen und springt mit einem Satz aus dem nächsten Fenster hinaus in die Sommernacht. Der Saure Kid demolierte nun Kirchenlieder, Nationalhymnen, irische Tenöre, jodelnde Cowboys... bei einer Wahlkundgebung von Gouverneur Wallace macht er Old Glory mit seiner Zitrone zur Schnecke...‹6
Die nächste Steigerung - diesmal attackiert der Saure Kid die schwüle Erotik mancher Tierfilme - besteht in der Zurschaustellung von Sexualität, und zwar auf eine Weise, die für eine puritanische Gesellschaft schockierend sein muss:
›Er geht auf alle viere herunter, bleckt grinsend die Zähne und ejakuliert. Reißzähne brechen aus seinem blutenden Gaumen. Kiefer, Mund und Nase schieben sich vor und werden zu einer Schnauze, rotes Fell sprießt ihm am Rücken herunter und endet in einem buschigen roten Schweif, der seine schmalen, sehnigen Lenden peitscht, seine Eier ziehen sich zusammen, der Saft schießt ihm in langen Spritzern aus seinem roten wölfischen Phallus, ein Zittern durchläuft seinen Körper, sein Atem dringt keuchend durch die gebleckten Zähne, seine Augen leuchten auf in einem knalligen Zitronengelb, ein beißender Geruch entströmt seinem dampfenden Fell, ein Gestank nach verschmortem Zelluloid und animalischen Ausdünstungen. Mit einem Satz springt er aus einem unsichtbaren Fenster und verschwindet in einer Sommernacht um 1920. Aus weiter Feme hört man den klagenden Pfiff einer Lokomotive.‹7
Zurück zu den ersten Schreibversuchen des Vierzehn-, Fünfzehnjährigen.
Nach der wölfischen Autobiographie, und tatsächlich ist er ja ein lonesome wolf, sind es aktionsreiche Western, die alle schon jene faktische Direktheit haben, für die Burroughs’ spätere literarische Werke berüchtigt sind.
Offenbar werden hier Lüste ausgelebt, die sich einzugestehen dem Schreibenden sonst verboten ist.
Billy liest seine Geschichten in der Schule vor. Er spielt sogar mit dem Gedanken, sie an ein Magazin mit dem Titel True Confessions zu schicken.
Häufig kommt in diesen Texten der die reale Welt aus den Angeln hebende Einfluss von Rauschgift vor, und immer spielen sie in exotischen Milieus.
In der neueren Psychiatrie ist die These aufgestellt worden, dass die Affinität zu Drogen einen Überschuss an Phantasie bei der betreffenden Person zur Voraussetzung habe. So entstände eine Enttäuschung über die reale Welt. Aus ihr wiederum ergäbe sich ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Phantastischem, das nur unter dem Einfluss der Droge seine Erfüllung findet.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie Burroughs sich als Jugendlicher den Beruf eines Autors vorgestellt hat: (Schriftsteller waren reich und berühmt. Sie machten sich ein bequemes Leben in Singapur und Rangun, trugen gelbe Seidenanzüge und rauchten Opium. Sie schnupften Kokain in Mayfair, erkundeten gefährliche Sumpfgebiete in Begleitung eines treu ergebenen Eingeborenenjungen und wohnten in der Kasbah von Tanger, wo sie Haschisch rauchten und lässig eine zahme Gazelle streichelten.‹8
Bezeichnenderweise ist es ein Aufsatz mit dem Titel ›Persönlicher Magnetismus‹, der als erstes Stück Prosa aus der Feder des Vierzehnjährigen in der Schulzeitung erscheint.
Tatsächlich werden die für seine Psyche bezeichnenden Obsessionen und ihre literarische Verarbeitung schon in seiner Pubertät erkennbar.
›Ist es mir nun gelungen, andere mit nichts als einem Blick zu kontrollieren? Oh, gewiss doch, aber ich hatte nicht den Mut, es auch wirklich zu tun. Aber hier will ich erklären, wie man es macht: Man muss dem Opfer geradewegs in die Augen schauen, und mit tiefer, ernster Stimme sagen: ›Ich rede, und du hast zuzuhören‹, dann muss man den Blick noch intensivieren: ›Du kannst mir nicht entkommen.‹ Nachdem ich mein Opfer völlig unterworfen hatte, hätte ich sagen sollen: ›Du kannst mir nicht entkommen. Hebe dich hinweg von mir, Satan.‹ Man stelle sich vor, ich hätte das mit Mr. Baker gemacht.‹9
Auch der besondere Burroughssche Humor - Ungeheuerliches mit gleichgültigem Gesicht von sich zu geben - deutet sich hier schon an.
Skandalöse Bücher zu schreiben und ihre Veröffentlichung zu erzwingen, ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich über andere Gewalt zu verschaffen.
1929 ist das letzte Jahr, das Billy in St. Louis verbringt. Er leidet häufig unter Trigeminusschmerzen und Asthmaanfällen, die durch einen Aufenthalt in einem trockenen und warmen Klima ausgeheilt werden sollen. Deswegen hat die Mutter ihn für die letzten beiden Jahre der High-School am Ranch School College eines gewissen Pond Ashley bei Los Alamos in New Mexico angemeldet. Er hat dort schon an einem Ferienlager teilgenommen.
Die Schule, auf die Billy da geschickt wird, samt dem Mann, der sie betreibt, muten an wie satirische Erfindungen eines Romanautors, der sich vorgenommen hat, den kapitalistisch-imperialistischen Zeitgeist in den USA der dreißiger Jahre zu geißeln.
Ponds Erziehungskonzept war simpel, imponierte aber den Superreichen im Land ganz ungemein. In seiner Schule sollten aus Muttersöhnchen harte Männer werden. Nicht Buchwissen wollte diese Anstalt vermitteln, sondern ihre Schüler auf den Lebenskampf im Ellbogenkapitalismus vorbereiten. Das Überlebenstraining inmitten einer nahezu unberührten Natur würde die Heranwachsenden fit machen für die Schlammschlachten in Wirtschaft und Politik. Die Schule gab sich ganz bewusst antiintellektuell, propagierte, einem falsch verstandenen Darwinismus folgend, das Recht der Stärksten.
Als Schuldirektor stellte Ashley Pond 1917 den Iren A.J. Connell ein, der zuvor Ranger im Santa Fe National Forest und Master der Santa Fe National Boy Scouts gewesen war.
Connell gab sich gern den Anschein eines harten Mannes.
›Selbstverständlich gibt es so etwas wie menschenfressende Haie nicht. Was aber die Krokodile betrifft, so verspeisen sie höchstens mal ab und an ein zartes Niggerbüblein, sagen wir so an die zwanzigtausend im Jahr.‹10
Sein Zimmer in der Ranch School glich dem Salon einer Madame in einem Bordell. Parfümwolken zogen zwischen Seidentapeten umher. Ständig brannten Räucherstäbchen, und aus dem Grammophon erklang der Bolero von Ravel.
Billy Burroughs kommt die Schule von Anfang an wie ein Gefängnis vor. Das einzige, was ihm dort gefällt, ist, dass es einen Schießplatz gibt. Er wird ein guter Schütze und verbringt Stunden damit, mit Wurfmessern auf Pfosten und Baumstämme zu zielen.
Im März 1930 kommt ihn die Mutter besuchen. Sie nimmt ihn und seinen Klassenkameraden, Rogers Scudder, mit nach Santa Fe, wo die Jungen allein umher spazieren. Billy geht in einen Drugstore und verlangt Chlorhydrat. Der Apotheker fragt, wozu er die Chemikalie brauche. Billy antwortet mit Grabesstimme: Um Selbstmord zu begehen. Der Apotheker nimmt an, der Junge mache einen Witz. Er händigt ihm ein Fläschchen Chlorhydrat aus. Einige Tage später nimmt Billy eine Dosis ein, die zu seinem Tod hätte führen können. Dem Schulpersonal fällt auf, dass er plötzlich taumelt. Man pumpt ihm den Magen aus. Er wird gerettet.
Als der Direktor erfährt, dass Scudder von dem Kauf des Giftes gewusst hat, bestellt er ihn zu sich und schimpft ihn aus:
›Verdammt, du hattest kein Recht, uns davon nichts zu sagen... du hättest wissen müssen, dass er etwas Verrücktes vorhat. Alles kommt nur daher, dass dem Jungen von seiner Mutter eingeredet wird, er sei ein Genie. Dabei ist er auch nur ein Menschenaffe.‹
In einem Brief an Billys Vater drückt Connell die Überzeugung aus, Billy werde dergleichen nie wieder tun.
Der Erzfeind des Jungen unter den Lehrern ist ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg namens Henry Bosworth, der Mathematik und Boxen unterrichtet.
Billy mag nicht boxen. Bosworth hält ihn für einen Drückeberger.
Billy liest in seinem Zimmer die spielkartengroßen Ausgaben der Blue Books, eine Reihe, in der französische Freigeister wie Anatole France und Guy de Maupassant erscheinen.
Die Bücher werden konfisziert. Lesen gilt in Los Alamos als dekadent und weibisch.
Auf einem Radausflug fahren die Jungen unvermutet in ein Wespennest. Billy wird viermal gestochen. Obwohl Bosworth einen Erste-Hilfe-Kasten bei sich hat, denkt er nicht daran, ihn zu verarzten.
Billys Rache besteht darin, dass er eine einen Pariser Boy-Scout darstellende, lebensgroße Puppe, die gewöhnlich am Eingang des Schulgebäudes steht, im Speisesaal über dem Kamin aufhängt... mit einem Schild um den Hals: Bozzy-bitch. Gott verdamme ihn.11
Natürlich sickert durch, wer der Übeltäter ist. Ein dritter Zwischenfall ereignet sich in Santa Fe. Ab und zu verbringen dort Gruppen von Schülern mit einem Lehrer ein Wochenende im berühmten La Fonda Hotel.
An einem Samstagabend verlässt Bill heimlich sein Zimmer. Er schleicht sich in die Stadt, um Schnaps zu besorgen.
Er trifft auf der Straße auf eine Mexikanerin, die behauptet, ihm Alkohol verkaufen zu können.
Die Frau und der Junge erregen die Aufmerksamkeit eines Polizisten, der sie anhält und kontrolliert. Der Ordnungshüter will Burroughs’ Ausweis sehen. Den hat Billy nicht bei sich, also wird er wegen Landstreicherei festgenommen und verbringt die Nacht auf der Polizeiwache, während der die Gruppe der Schüler begleitende Lehrer in Santa Fe überall nach ihm sucht.
Erst am Morgen gelingt es Billy, der Polizei klarzumachen, dass er ein Schüler aus Los Alamos ist.
Billy verliebt sich in einen seiner Mitschüler, Danny Franklin. Ein paarmal treiben sie es unter den Laken beim Licht einer Taschenlampe miteinander. Dann findet Danny keinen Spaß mehr daran, oder sein Gewissen regt sich. Jedenfalls will er plötzlich nicht mehr mitspielen. Was Billy weit mehr kränkt: Danny spricht nicht mehr mit ihm... verspottet ihn sogar vor den anderen Jungen.
Dem Direktor bleibt nicht verborgen, dass etwas mit seinem Schüler nicht in Ordnung ist. Um was es sich genau handelt, darüber tappt er angeblich völlig im dunkeln, will es vielleicht auch gar nicht wissen.
Für Juni steht die Schlussprüfung an.
Am 9. April kommt Mrs. Burroughs aus St. Louis herüber.
Billy erklärt ihr, er könne unmöglich länger auf der Schule bleiben, wolle mit ihr heimkommen.
Nach langem Zögern gesteht er ihr den wahren Grund.
Sie ist entsetzt.
Homosexualität ist in den Augen der Gesellschaftsschicht, aus der sie stammt, ein Laster, das man nicht einmal beim Namen nennen darf. Überstürzt reisen Mutter und Sohn ab. Ein Fußleiden Billys dient als Vorwand.
Ein Nervenarzt, an den sich die Mutter in St. Louis wendet, verweist auf die alten Griechen, bei denen das angebliche Laster weit verbreitet war, und versichert Laura, ihr Sohn befinde sich in einer Übergangsphase; die Sache werde sich mit der Zeit auswachsen.
Als Billy seine Sachen aus der Schule nachgeschickt werden, findet er darunter seine Tagebücher. Er liest nach, was er geschrieben hat, und ist entsetzt und beschämt bei der Vorstellung, seine Klassenkameraden könnten es gelesen haben. Er verbrennt die Hefte. Ekel gegenüber allem Geschriebenen überkommt ihn. Es wird neun Jahre dauern, bis er sich dazu durchringt, wieder etwas zu schreiben.
Für Burroughs wird die Tatsache, dass er an jenem Ort zur Schule gegangen ist, an dem später die furchtbarste aller Massenvernichtungswaffen entwickelt wird, seit deren Einsatz in Nagasaki und Hiroshima von metaphorischer Bedeutung sein. Für ihn ist die Entwicklung der Atombombe eine Art moderner faustischer Pakt, in dem Amerika seine Seele an das (teuflische) Prinzip der Macht verkauft und seine Unschuld verloren hat.
Das Amerika der Ära vor der Bombe wird in seinem Bewusstsein nostalgisch verklärt. Vor der Bombe war sein Amerika ein sicherer und beschützter Ort, ein Land, das seine eigenen Wege ging, seine eigenen Träume verfolgte. Wozu Amerika danach wurde, davon ist in seinen Schriften und in seinen Äußerungen immer wieder die Rede. In einem Restaurant in New York wird er einmal gefragt, was er bestellen wolle. Seine Antwort: ›Einen Barsch aus dem Lake Huron, gefangen im Jahr 1920.‹12
Ein Jahr auf einer Tutoring-Schule gibt Billy trotz der nicht abgeschlossenen High-School die Möglichkeit, sich im September 1932 in Harvard zu immatrikulieren.
Im November dieses Jahres wird Franklin Delano Roosevelt zum ersten Malzum Präsidenten der USA gewählt. Sein vielleicht aussichtsreichster Rivale, der Populist Huey Long aus Louisiana, ist kurz zuvor einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Mit Roosevelts Amtszeit und seinem New-Deal-Programm enden für die USA die Jahre der Depression. Es geht langsam wieder aufwärts.
Burroughs hört in Harvard zunächst Literatur, Linguistik und Anthropologie.
Er belegt Vorlesungen über Chaucer und Shakespeare. Letzteres bei George Lyman Kittredge, einem amüsanten Mann, der, ohne den Doktorgrad zu haben, an der Universität lehrt.
Kittredge hat die Angewohnheit, vor seinen Studenten lange Passagen aus Shakespeares Stücken zu rezitieren, die sich Burroughs, der ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis besitzt, für immer einprägen. Er hört T. S. Eliot mit einer kritischen Vorlesung über die Romantiker. Im übrigen verläuft sein Studentenleben nach dem Motto: ›Sofern Harvard sich mir gegenüber anständig verhält, gedenke ich mich gegenüber Harvard ebenfalls anständig zu verhalten.‹13
Freilich geht das immer noch Hand in Hand mit ziemlich exzentrischen Vorlieben. So hält er sich beispielsweise, dazu angeregt durch eine Kurzgeschichte von Saki, in der ein zehnjähriger Junge ein solches Tier abrichtet, um seine ungeliebte Gouvernante zu beißen, in seiner Studentenbude ein Frettchen, über das die Putzfrau oder der Hausmeister erschrecken, wenn es plötzlich aus einer Ritze der Sofabezüge auftaucht.
Eine gefährlichere Situation beschwört Bills Vorliebe für Schusswaffen herauf. Obwohl es gegen die Hausordnung verstößt, bewahrt er in seinem Schreibtisch einen 32er Revolver auf. Eines Tages sind einige Freunde und Bekannte bei ihm. Die jungen Männer albern herum. Billy zieht seine Waffe; er ist völlig sicher, dass sie nicht geladen ist. Er legt auf einen seiner Freunde an, der macht eine Art Ausfallbewegung. Billy drückt ab, ein Schuss löst sich und schlägt in die Wand. Erst jetzt erinnert sich Burroughs, dass er die Waffe noch in St. Louis geladen hatte, als er meinte, in der Nacht im Haus einen Einbrecher herumschleichen zu hören.
Burroughs ist noch während seiner Studentenzeit von erstaunlicher sexueller Naivität. Er hat bis dahin weder mit einer Frau noch mit einem Mann sexuell verkehrt, abgesehen von den Spielereien mit dem von ihm bewunderten Mitschüler in Los Alamos. Er hat eine geradezu ammenmärchenhafte Vorstellung vom Geburtsvorgang: Bis ihn seine Freunde an der Universität aufklären, ist er fest davon überzeugt, Kinder kämen durch den Nabel der Mutter zur Welt.
Da er sich nicht getraut, Kontakte zu anderen Homosexuellen aufzunehmen, besucht er, als er während der Ferien nach St. Louis kommt, dort ein Bordell, dessen Kuppelmutter ihn an Salt Chunk Mary erinnert. Er lässt sich immer von dem gleichen Mädchen bedienen, muss gewöhnlich auf sie in einem kleinen Raum warten, um nicht auf der Treppe ehrbaren Bürgern der Stadt zu begegnen, die ebenfalls hier verkehren.
Zu Beginn des Semesters wieder in Harvard, wagt er nun endlich, eine sexuelle Beziehung einzugehen, die seinen tatsächlichen Neigungen entspricht, und bezahlt teuer dafür. Er holt sich die Syphilis, deren Symptome erst nach einer gewissen Zeit sichtbar werden.
Im Juni 1936 legt Burroughs in Harvard sein Abschlussexamen ab, dass er damit in die gesellschaftliche Elite des Landes aufgenommen ist, bedeutet ihm wenig.
Die Belohnung der Eltern für den graduierten Sohn besteht darin, ihm eine Reise nach Europa zu spendieren, die er zusammen mit einem Freund, Bob Miller, antritt. Sie fahren zunächst nach Paris, dann nach Wien. Sie erleben ein Österreich, in dem schon die Braunhemden marschieren. Sie bewundern die schönen jungen Männer, die sich in den Strandbädern an der Donau tummeln, und reisen dann nach Budapest weiter, wo sie in dem Hotel König von Ungarn landen, in einem Haus, in dem Frauen unerwünscht sind.
Von Wien fahren die Freunde nach Dubrovnik und machen dort die Bekanntschaft einer fünfunddreißigjährigen Frau, die burschikos-männlich auftritt, aber auch erfreulich unkonventionell ist. Sie heißt Ilse Hertzfeld, stammt aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie und war mit einem Arzt namens Klapper verheiratet. Das Aufführungsverbot für die Musik Mendelssohns war für sie Warnzeichen genug gewesen, um 1934 aus Deutschland fortzugehen. In Dubrovnik hat sie sich von Dr. Klapper scheiden lassen, der hier ohne entsprechende Niederlassungserlaubnis weiter praktiziert. Ilse bringt sich mit Englischstunden und als Fremdenführerin durch. Die Beziehung zwischen den beiden jungen Männern und ihr beruht auf gemeinsamen intellektuellen Interessen und ihrer aller Abneigung gegen gesellschaftliche Konventionen.
Bill hat sich plötzlich entschlossen, Medizin zu studieren. Für ein Studium in den USA fehlt ihm dazu der Schein des Vorkurses. In Wien bestehen derartige Auflagen nicht. Seine Eltern schicken ihm monatlich 200 Dollar. Damit kann er bei dem günstigen Wechselkurs der amerikanischen Währung in Europa ohne Schwierigkeiten auskommen. Zu schaffen macht ihm immer noch seine Syphilis, die er weiter behandeln lassen muss. Er besucht in Wien medizinische Vorlesungen. Sein schlechter Gesundheitszustand und das von faschistischen Gewaltakten verdüsterte gesellschaftliche Klima Österreichs deprimieren ihn. Mit lautstarken Demonstrationen und Bombenanschlägen versuchen die Nazis den Anschluss des Landes ans Reich vorzubereiten.
Im Frühjahr 1937 muss Burroughs sich einer Blinddarmoperation unterziehen. Um sich zu erholen, fährt er wieder nach Dubrovnik. Er sieht Ilse wieder. Sie ist in Panik. Ihr Visum für Jugoslawien läuft ab. Da sie Jüdin ist, wird es nicht erneuert werden. Die Kriegsgefahr in Europa wächst. Sie macht sich keine Illusionen darüber, was ihr blühen wird, wenn die Deutschen das Land besetzen.
Bill und Ilse einigen sich auf eine Scheinehe, die für beide Teile ihre Vorteile haben könnte. Ilse wird durch die Heirat amerikanische Staatsbürgerin, ihn wird die Tatsache, dass er verheiratet ist, vor möglichen Schwierigkeiten als Homosexueller schützen. Gewiss belustigt ihn auch die Vorstellung, auf diese Weise eine bürgerliche Institution wie die Ehe zu persiflieren. Seine Eltern sind bestürzt, als sie davon hören, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn eine Fünfunddreißigjährige heiraten will. Aber Bill beharrt auf der Heirat. Er reist mit Ilse nach Athen. Die bürgerliche Trauung vollzieht der amerikanische Konsul, kirchlich getraut werden sie von einem griechisch-orthodoxen Priester. Der erste Pope, bei dem sie vorsprechen, hatte sich geweigert. Der zweite, der ihnen dann schließlich doch noch den kirchlichen Segen gibt, ist mit zehn Dollar bestochen worden.
Noch liegen die nötigen Papiere für die Einreise der Ehefrau in die USA nicht vor. Ilse kehrt also vorerst nach Dubrovnik zurück, und Billy eilt heim, um seine Eltern zu beruhigen.
Den Plan eines Medizinstudiums in Wien hat er unterdessen aufgegeben. Wegen des zunehmenden Drucks der Nazis auf Österreich sieht er für sich Schwierigkeiten voraus, denen er sich nicht aussetzen will.
Er erfährt, dass sein Freund Keils, von seiner Frau geschieden, allein in einem kleinen Haus in Harvard lebt. Er beschließt, zu ihm zu ziehen und eine Universitätskarriere in Ethnologie anzustreben. Bald jedoch wird ihm klar, dass er dem akademischen Klüngel und den Intrigen an einer Universität nicht gewachsen ist.
Das offenbar glückliche Zusammenleben mit Keils bringt ihn wieder dazu zu schreiben. Die beiden verfassen eine groteske Geschichte über den Untergang der Titanic, einen Text, der in seiner Mischung von Slapstick, Surrealismus und schwarzem Humor Burroughs’ spätere Sichtweise der Welt als eines absurden Comic vorwegnimmt. Die beiden jungen Männer schicken den Text an Esquire. Die Redaktion lehnt ihn mit der Begründung ab: ›Zu verdreht, aber dann auch wiederum nicht wirksam genug für uns.‹14
Diesmal sollten sechs Jahre vergehen, ehe sich Burroughs abermals daranmacht, etwas zu schreiben.
Die nächsten Jahre in seinem Leben gleichen dem Zickzackkurs eines Schiffes, das von niemandem gesteuert wird.
Wir erleben einen Mann, der sich dem Entree ins bürgerliche Leben verweigert, aber auch nicht recht weiß, was er sonst mit sich anfangen soll.
So macht er Erfahrungen mal hier und mal dort, und wie unterschiedlich und ungewöhnlich, ja lächerlich sie im einzelnen auch sein mögen: sie geben ihm Selbstvertrauen und verhelfen ihm zu einer unkonventionellen Art von Lebensweisheit. Den American way of life wird er von nun an nur noch zynisch-sarkastisch sehen und kommentieren.
Burroughs entwickelt einen schwarzen Humor, der ihn zusammen mit seiner anarchistisch-kriminellen Energie und seiner formalen Experimentierfreudigkeit als Chronisten des außer Kontrolle geratenen Bösen, der Suchtverfallenheit und des Autoritären geradezu prädestiniert. Er beginnt zu dieser Zeit mit seinen observer notes, Aufzeichnungen über bestimmte soziale Milieus und die zugehörigen Menschen, ein Einfall, der ihm wahrscheinlich durch seine anthropologischen und völkerkundlichen Studien nahegelegt worden ist.
Er muss dafür sorgen, dass Ilse Klapper in die USA einreisen kann. Er wird von der Einwanderungsbehörde scharf befragt, ob die Ehe vielleicht nur eingegangen worden sei, um Ilse die Einreise zu ermöglichen. Mit todernstem Gesicht erklärt er, er liebe seine Frau und wolle mit ihr leben.
In Amerika im Frühjahr 1939 eingetroffen, wird Ilse die Sekretärin des aus Nazideutschland emigrierten Schriftstellers Ernst Toller, der in den zurückliegenden Monaten versucht hat, eine humanitäre Hilfsaktion für die zivilen Opfer des spanischen Bürgerkriegs ins Leben zu rufen. Da bricht nach einer erneuten nationalspanischen Offensive die spanische Republik endgültig zusammen. Bei seiner selbstgestellten Aufgabe gescheitert, von den Nazis verfolgt, von seiner jungen Frau verlassen und von der Vorstellung bedrängt, als Künstler in den Vereinigten Staaten in Vergessenheit zu geraten, begeht Toller Selbstmord.
Ilse findet ihn, als sie einmal verspätet vom Lunch ins Büro kommt, im Badezimmer. Er hat sich mit dem Gürtel seines Bademantels erhängt.
Die Erklärung, die Burroughs für das Ereignis gibt, von dem er durch Ilse erfährt, ist typisch für seine Sichtweise der Wirklichkeit. Er erzählt ihr, dass Ratten zweierlei nicht ertragen könnten, nämlich ins Wasser geworfen oder ihrer Schnauzhaare beraubt zu werden. Toller sei beides widerfahren.
Ilse findet eine neue Anstellung bei einem österreichischen Schauspieler. Seinem Biographen erzählt Burroughs später: ›Sie hat nie einen Cent von mir verlangt.‹
In die zweite Hälfte des Jahres 1939 fällt Burroughs’ intensive Beschäftigung mit den Lehren Alfred Korzybskis.
Korzybski bezeichnet einen der Fixpunkte europäisch-abendländischen Denkens, nämlich das Entweder/Oder der aristotelischen Philosophie, als grundsätzlichen Irrtum, weil so zwischen der Realität und der Sprache eine Kluft entstehe. Korzybski sagt die politische Herrschaft der Naturwissenschaften und die Manipulation menschlicher Physis und Psyche durch sie voraus - Gedanken, die sich fiktional verarbeitet in Burroughs’ Romanen wiederfinden.
Zu dieser Zeit verliebt sich Burroughs in New York in einen schönen, aber intellektuell anspruchslosen jungen Mann namens Jack Anderson, der als Laufbursche arbeitet und als Sexualpartner von Frauen und Männern dazuverdient.
Burroughs, nun endgültig von seiner Syphilis geheilt, entwickelt für das windige Bürschchen, das ihn schlecht behandelt, eine wilde Leidenschaft. Er trennt sich mit dem Sägeblatt einer Geflügelschere ein Glied vom kleinen Finger der linken Hand ab. Er will damit Anderson, der ihn ständig mit anderen Männern und Frauen betrügt, die Intensität seiner Gefühle beweisen.