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»So wie ich, meinst du.«
»Nein! Nein – nun ja.«
»Blöd«, flüsterte Wikant. Er würde mit dem Jungen ein ernstes Wörtchen reden müssen, und nur, damit Tinek zufrieden war. Nützen würde es sowieso nichts. Bei diesem Schnösel war alles vergebens.
Er wollte gerade trinken, als die Tür heftig aufgestoßen wurde. Vor Schreck zuckte er zusammen und goss sich den Wein über das Hemd. »Ver-«
Er hatte seinen Fluch nicht einmal zu Ende gesprochen, als Kelon hereinstürzte. Kelon war in der Kelterei für alles und jedes zuständig, ein kundiger und verlässlicher Mann, der die Verantwortung übernahm, wenn Wikant sich seinen Traurigkeitsanfällen hingab. Vielleicht stellte sich Blöd einen ähnlichen Posten vor, aber dann hatte der Junge nicht begriffen, wie viel dazu gehörte, überall dabei zu sein und zu überprüfen, wie die Dinge liefen.
Es gehörte nicht zu Kelons Aufgaben, hier einfach so hereinzuplatzen. Höchstens vielleicht, wenn es brannte.
Tinek sprang auf. »Was ist passiert?«
»Piraten!«, rief Kelon. »Sie haben den Hafen blockiert, sie sind überall, sie kommen die Straße hoch – hierher!«
Wikant vergaß sein Hemd. Er stand auf. Und dann stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sie sahen ihn an, beide, Kelon und Tinek, als wäre er derjenige, der sie retten konnte. Er war der Weinfürst. Er musste etwas tun, den Piraten entgegentreten und sie vertreiben. Aber stattdessen stand er nur da und konnte sich nicht rühren.
»Wikant!«, schrie Tinek. »So tu doch was!«
»Was?«, fragte er zurück. »Wir haben keine Waffen. Oder doch? Im Keller?«
»Dort könnten ein paar Hellebarden liegen«, gab Kelon zu. »Und an der Wand im Empfangssaal hängt ein Schwert.«
»Erion!«, rief Tinek plötzlich. »Wo ist Erion? Erion!« Laut nach ihrem Sohn schreiend rannte sie aus dem Zimmer.
Wikant trat ans Fenster. Von hier aus konnte man das Dorf und den Hafen überblicken; vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Tatsächlich sah er ein großes fremdes Segelschiff zwischen den kleineren Booten liegen. »Es sieht nicht aus wie ein Piratenschiff«, sagte er zu Kelon. »Vielleicht übertreibst du ein bisschen?«
»Wenn es doch nur so wäre«, seufzte der Mann. »Wikant, wir sollten ein paar Dinge verstecken, die von Wert sind.«
»Hast du das Tor verriegelt?«
»Natürlich.«
Wikant nickte erleichtert. »Dann brauchen wir auch nichts zu verstecken. Durchs Tor kommt niemand.«
Es war ein stabiles Tor aus uralten Eichenbohlen. Warum regten sich alle so auf? Selbst wenn es Piraten waren, die die Insel heimsuchten, würden sie sich an den Dörflern schadlos halten und nicht ins Gut kommen. Er trat zurück an den Tisch, auf dem noch der halbvolle Becher stand. »Wir sollten einfach Ruhe bewahren und …«
Bumm.
Der Schlag war so heftig, dass die Wände vibrierten. Wikants Becher schwappte schon wieder über. »Was war das!«, rief er aus. »Jetzt reicht es aber!«
»Sie sind am Tor«, sagte Kelon. »Ich – ich gehe mal nachsehen.« Es klang, als hätte er lieber gesagt: Ich gehe mich verstecken. Aber Kelon war hier für alles zuständig. Und deshalb tat er seine Pflicht und ging, um einen Blick auf das schützende Tor zu werfen.
Bumm.
Wieder das laute Dröhnen, begleitet von einem Krachen, dass Kelon durch Mark und Bein ging. Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Feinden entgegenzutreten. Ein paar Arbeiter hatten tatsächlich die Hellebarden aus dem Lager geholt und bemühten sich, Haltung anzunehmen und wie Soldaten auszusehen. Die Verteidiger standen im Hof und wichen bei jedem Krachen einen Schritt zurück.
»Für den Fürsten!«
Es war nicht Kelon, der gerufen hatte. Wikant drehte sich um und sah Erion dort stehen, mit einem langen Stock bewaffnet, an den er ein Küchenmesser gebunden hatte.
»Was hast du da, einen Besenstiel?«
Der Junge war blass. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, aber er versuchte krampfhaft, wie ein Prinz auszusehen. Vielleicht hoffte er, aus seinen Augen würde Mut und Zuversicht strahlen, aber es wäre wirkungsvoller gewesen, wenn er nicht so heftig geblinzelt hätte.
»Blöd! Komm da weg!«
Erion drehte sich um und schrie auf, als er den dunklen Fleck auf dem Hemd seines Vaters bemerkte. »Du bist verletzt! Ich werde dich rächen!«
Der Weinfürst grinste, während er mit vorsichtig tastenden Schritten über den Hof ging. Er schien zu schweben, leichtfüßig und gleichzeitig halb tot, das selige Lächeln eines glücklich Sterbenden auf den Lippen.
Kelon biss die Zähne zusammen und wandte sich an die zitternden Arbeiter.
»Nein«, sagte er. »Nicht für den Fürsten. Für Neiara. Für eure Familien draußen im Dorf. Für jeden einzelnen von uns. Wir sind keine Krieger. Aber wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nichts tun.« Dasselbe, was uns erwartet, wenn wir uns wehren, dachte er. Sie werden keinen von uns verschonen. Sie werden uns alle niedermähen. Wenn das wirklich Piraten sind, dann gnade uns Rin.
Bumm.
Es war so dumm, sich ihnen in den Weg zu stellen. Es gab nichts Dümmeres. Aber wenn sie sich verbarrikadierten – irgendwo im Keller, wo die Piraten sie vielleicht nicht finden würden – und später nach oben kamen und sahen, wie das Gesindel im Dorf gewütet hatte … Wer würde dann noch leben wollen?
Bumm. Und das Tor zerbarst. Und dann Stille.
»Für den Fürsten!« Eine helle Jungenstimme hallte durch den Hof. Kelon hielt die Luft an, als er den Sohn seines Arbeitgebers nach vorne rennen sah, die selbstgebastelte Lanze in der Hand. Er erwartete, jeden Moment die Piraten hereinstürzen zu sehen; der Junge lief ihnen direkt in die Arme.
»Nein!« Er hörte Tineks Aufschrei. »Oh nein! Erion!«
Ein Mann schritt über die zersplitterten Balken. Hinter ihm kam eine Horde wilder, bärtiger Gestalten – die Piraten, der Abschaum der Meere. Aber es war ihr Anführer, der alle Blicke auf sich zog, ein Mann, mindestens zwei Kopf größer als die anderen und doppelt so breit: Ein Riese. Sein blondes Haar, zu einem Zopf geflochten, der sorgfältig gestutzte Bart und die Kleidung, die er trug, ließen ihn eher wie einen vornehmen Herrn aussehen als wie einen Piraten. Keine Lumpen, sondern Beinkleider, Wams und Umhang aus allerfeinstem, dunkelblauem Stoff – Kelon erkannte sofort, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Räuber war. Und doch, ein einziger Blick in dieses Gesicht genügte und man wünschte sich, es nie wiederzusehen. Zu fliehen und sich zu verstecken und ihm nie, nie wieder zu begegnen. Nicht, weil er hässlich war oder schrecklich anzusehen, sondern weil er lächelte, weil er hier hereinkam und lächelte, und weil ihm in dem Moment, in dem er das Gut betrat, alles hier gehörte, alles und jeder.
Erion, mitten im Lauf, konnte nicht mehr anhalten, als der Riese erschien, und als würden ihn die verzweifelten Schreie seiner Mutter noch mehr anfeuern, stürmte er geradewegs auf den Eindringling zu.
Sie sahen alle, dass dies das Ende war. In keinem flammte die Hoffnung auf, der Junge könnte es schaffen, könnte seine alberne Waffe dem Feind in die Brust bohren. Sie sahen ihn nur in den Untergang rennen. Der Riese wandte dem schreienden Angreifer das Gesicht zu und lächelte ihm mit mildem Erstaunen entgegen. Er bewegte lässig die Hand und pflückte den Jungen mitsamt Besenstiel und Messer vom Boden auf. Einen flüchtigen Moment, nur einen Lidschlag lang, hielt er ihn, dann ließ er ihn fallen wie ein lästiges Insekt, das er sich vom Ärmel geklaubt hatte. Tinek schrie wieder, aber Erion war unverletzt geblieben. Er setzte sich auf und blickte überrascht um sich.
»Für den Fürsten«, wiederholte der Riese die Worte des Jungen. »In der Tat, deshalb bin ich hier. Du?« Er richtete die Frage an Kelon, der wie erstarrt neben den Arbeitern stand und noch am meisten wie der Besitzer von irgendetwas wirkte.
Kelon drehte sich halb und nickte zu Wikant hinüber, der gelähmt dastand und immer noch aussah wie jemand, den man gerade erst ermordet hatte.
Der Riese hob kaum merklich die Brauen, aber verächtlicher hätte eine so kleine Geste kaum sein können.
»Vielleicht können wir Euch – einladen?«, fragte Tinek mit zitternder Stimme und schien nicht einmal zu merken, dass sie ihn angeredet hatte wie einen adligen Herrn. »Ein … ein Glas Wein?«
Sie bebte unter seinem Blick, aber dann verzog sich sein Mund zu einem nicht mehr abfälligen, sondern eher amüsierten Lächeln. »Ist das nicht ein Weingut hier?«
»Ja! Ja, das … ist es.« Tineks Stimme sank von aufgeregt wieder zu verängstigt. Sie beobachtete, wie Erion sich aufrappelte und auf dem Pflaster nach seinem Stock tastete. »Bitte, Herr, bitte tut ihm nichts, er ist nur ein Kind.«
»Dies ist ein Weingut«, sagte der Riese zu seinem Gefolge. »Und wir sind eingeladen, wie ihr gehört habt. Ich bin sicher, der gute Mann dort«, er wies auf Kelon, »wird sich darum kümmern, dass ihr ordentlich bewirtet werdet.«
Als die Piraten auf ihn zuströmten, wankte Kelon, aber er hielt sich aufrecht und gab seinen Arbeitern mit einem Wink zu verstehen, dass sie die Waffen niederlegen sollten. Er hatte keine Ahnung, was dieser Kerl vorhatte, aber vielleicht würde dieser Tag doch nicht mit einem Blutvergießen enden. Es war nur sein Herz, das blutete, während er die Eindringlinge in den Weinkeller führte.
Zukata legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Und du führst mich in euren Thronsaal oder was immer ihr für einen Raum habt, um darin Gäste zu empfangen.«
Erion stolperte vorwärts, und hinter ihnen kamen Tinek und Wikant, als würden sie abgeführt.
Natürlich gab es keinen Thronsaal. Auch auf die edelsten Besucher wartete nur ein aus dunklem Holz vertäfeltes Zimmer mit einem Kristallleuchter an der Decke. Auf dem Tisch standen und lagen noch mehrere geleerte Becher. Hastig machte Tinek sich daran, abzuräumen, während der Riese aus dem Fenster auf die kleine Hafenstadt hinausblickte. Seine Hand lag immer noch schwer auf Erions Schulter.
»Das sieht Blöd mal wieder ähnlich«, murmelte Wikant verdrossen. »Sich selbst zur Geisel zu machen.«
Er hatte nicht laut gesprochen, aber der Riese hob den Kopf. »Blöd? Du nennst deinen Sohn Blöd?«
»Ich heiße Erion«, knurrte der Junge. »Erion von Neiara.«
»Wo ist der zweite Sohn?«
»Wir haben nur diesen einen, Herr«, sagte Tinek. Sie war mit dem Tablett auf dem Weg zur Tür und zögerte. Ob es klug war, jetzt hinauszugehen und den Feind mit ihrer Familie alleinzulassen?
»Ach.« Der Riese hob wieder die Brauen. »Ich nahm schon an, ihr hättet mindestens zwei. Wenn ihr den einen beschimpft, müsstet ihr doch noch einen anderen haben, den ihr bevorzugt?«
»Nein, nur den einen«, wiederholte die Frau.
Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einer wütenden, trotzigen Grimasse. Trotzdem bewahrte er Haltung. Er stand neben dem Riesen, als würde er zu ihm gehören. In seinen Augen lag nicht der Wunsch, seine Eltern möchten ihn retten, sondern das dringende Verlangen, sich in dieser Situation zu beweisen. Er weinte nicht, obwohl es um seine Mundwinkel zuckte.
Tinek hatte sich entschieden, nicht hinauszugehen. Sie stellte das Tablett neben die Tür und holte aus einem hohen, mit Intarsien verzierten Schrank ein weißes Tuch, mit dem sie den verschütteten Wein aufwischte.
»Möchtet Ihr etwas essen?«
»Essen können wir später, nachdem wir alles besprochen haben«, sagte der Riese.
»Was gibt es denn zu besprechen?«, fragte Wikant, der bis jetzt möglichst unauffällig an der Wand gestanden hatte, und schlurfte ein paar Schritte näher. »Äh, Herr?«
Tinek eilte ängstlich vor und reichte dem Riesen hastig einen Becher Wein, den sie entweder im Schrank gefunden und sonstwie hergezaubert hatte. Er nahm ihn aus ihrer Hand und führte ihn zum Mund.
»Dieser Wein ist dreizehn Jahre alt«, flüsterte Wikant. »Warum hast du ihn aufgemacht? Er war für Erions Hochzeit bestimmt.«
»Was tut er dann in diesem Schrank?«, zischte sie zurück. »Das war dein geheimer Vorrat, wenn du so tust, als würdest du hier arbeiten.«
»Die Glücklichen Inseln«, sagte der Besucher, als wäre er ein Gast, den sie zu einer Weinprobe eingeladen hatten. »So schmecken sie also?«
»Gefällt es Euch?«
Der Riese sah auf den Becher in seiner Hand. »Selbst in Kirifas trinken sie ihn, also muss er gut sein. Gegen das, was man auf einem Piratenschiff zu trinken bekommt, ist alles andere umwerfend.« Er lachte. »Neiara, das Königreich des Weins! Das Königreich des Glücks. Nennt ihr es so? Würdet ihr es so nennen?« Er stürzte den Wein hinunter und begegnete ihren erschrockenen Blicken mit einem Lächeln. »Wisst ihr, wer ich bin? Nein? Ich bin Prinz Zukata, der Sohn Kaiser Kanuna El Schattiks, des Gesegneten. Ich bin der, der nach ihm auf dem Thron in Kirifas sitzen wird. Und das bedeutet, ich bin auch euer zukünftiger Kaiser.«
»Huh«, meinte Erion ehrfürchtig, »das ist …«
»Sei still, Blöd«, fuhr Wikant dazwischen. »Das geht uns nichts an. Neiara gehört nicht zum Kaiserreich.«
»Noch nicht«, sagte Zukata. »Habt ihr euch je gefragt, warum die Glücklichen Inseln frei sind? Warum sie nicht längst von den Küstenländern annektiert worden sind? Sicher nicht, weil ihr so eine schlagkräftige Truppe habt. Das haben wir heute ja gesehen.«
»Warum – warum dann?«, stammelte Wikant, nachdem Zukata ihn lange angesehen hatte, als erwarte er wirklich eine Antwort von ihm.
»Der Schutz des Kaisers«, erklärte Zukata. »Ja, schon immer hat der Kaiser, den ihr nicht als euren anerkennt, euch beschützt. Nur der Kaiser verhindert, dass Drian oder Tors euch einfach schlucken. Nur der Kaiser, der euch angeblich nichts angeht, gibt euch die Freiheit, hier euer eigenes Leben zu führen. Habt ihr euch nie gefragt, warum?«
»Ähm, warum?«
Zukata hielt seinen leeren Becher Tinek vor die Nase, und sie schenkte ihm hastig nach. Er trank ein paar Schlucke, bedächtig, genießerisch.
»Vielleicht war es der Fischerkönig«, sagte er dann langsam. »Weiß ich es denn? Ich rate nur. Ich bin noch nicht Kaiser. Was weiß ich von den geheimen Verabredungen, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden? Was weiß ich von der Freiheit dieser Inseln? Ich weiß nur eins. Wenn ich Kaiser bin, lieber Wikant, verehrteste Tinek«, beide zuckten zusammen, denn sie hatten nicht erwartet, dass er ihre Namen kannte, »dann werden diese Inseln zu meinem Reich gehören, ohne Wenn und Aber. Dann werde ich sie für Deret-Aif in Anspruch nehmen.«
»Aber«, begann Wikant, »aber das …« Er verstummte. Was wollte er sagen? Das geht nicht? Es ist nicht recht?
»Bis ich Kaiser werde«, sprach Zukata weiter, »können noch viele Jahre vergehen. Ich bin hergekommen, damit ihr Zeit habt, euch darauf vorzubereiten. Nicht, dass ihr meint, ihr müsstet ein Heer aufstellen, um euch gegen die Soldaten aus dem Kaiserreich zu verteidigen. Wie viele Krieger passen auf diese Insel? Vergesst es. Was ich euch bringe, ist keine Warnung, sondern ein Angebot.«
»Was für ein Angebot?«, fragten Wikant und Tinek gleichzeitig, er misstrauisch, sie eifrig.
»Fürst Wikant.« Zukata warf ihm den Titel hin wie etwas Schmutziges. »Nennst du dich nicht so? Dabei bist du nichts als ein Mann, der durch Erbschaft um einiges reicher ist als der Rest der Inselbewohner. Du bist kein Fürst, so wenig wie die Apfelkönigin in Arima eine Königin ist. Falls es je einen König auf den Glücklichen Inseln gab, muss es der Fischerkönig gewesen sein, der sich Freund des Kaisers nennen durfte, doch es gibt niemanden mehr mit dem Anspruch auf diesen Titel. Wenn ich Kaiser bin, wird das Königreich Drian seine Grenzen um einen Weinberg und einen Obstgarten erweitern – es sei denn, die Glücklichen Inseln schaffen es bis dahin, sich ihr eigenes Königreich aufzubauen.«
»Du willst, dass mein Vater König wird?«, fragte Erion mit leuchtenden Augen.
»Sei still, Blöd.« Wikants Gesicht hatte sich verändert, während Zukata sprach. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, aber gleichzeitig musste er sich darum bemühen, beherrscht und vorsichtig zu reagieren. »Das geht nicht, Prinz. Ich bin kein König. Ich will kein König sein. Die Leute hier werden das niemals akzeptieren.« Ein hoheitsvoller Zug lag auf seinem Gesicht, er stand aufrecht da und wirkte so nüchtern wie schon seit Jahren nicht mehr. »Wie könnt Ihr so ein unglaubliches Ansinnen hier vortragen? Wenn Ihr diese Insel erobern wollt – wir können Euch nicht daran hindern. Aber von uns zu verlangen, dass wir es selbst tun, dass wir die Menschen hier zu etwas zwingen, was sie nicht wollen, was sie nicht einmal wollen können! Es gab nie einen König hier auf Neiara, noch nie in tausend Jahren …« Er hatte sich verausgabt und sank wieder in sich zusammen.
»Ich möchte schon gern ein König sein«, ließ Erion sich vernehmen.
»Ich sagte, sei still!«
»Einen König werden die Inseln bekommen, so oder so«, sagte Zukata. »Es liegt an euch, ob ihr diese Chance nutzt, es selbst zu sein. Ich werde Deret-Aif größer machen, als es jemals war. Wenn ihr das erste neue Königreich in meinem Herrschaftsbereich sein wollt, dann beglückwünsche ich euch dazu. Wenn nicht – wenn ihr euch Drian unterwerfen wollt, dann bitteschön. Aber das wird deinen Leuten vielleicht noch weniger gefallen.«
»Und was ist mit Arima?«, fragte Tinek. »Habt Ihr schon mit Binajatja gesprochen? Was hat sie dazu gesagt?«
»Die sogenannte Apfelkönigin? Nein, ich werde nicht mit ihr sprechen. Mit euch wollte ich reden. Ich gebe euch nichts vor. Ob jede Insel einen eigenen König hat, wenn ich Kaiser bin – oder eine Königin? –, was geht es mich an? Oder einen König für beide Inseln? Auch das wäre mir recht. Glaubt nicht, dass ihr keine Wahl hättet.«
»Ich werde ein Prinz sein«, flüsterte Erion verzückt.
»Bei Rin, sei endlich still!«, brüllte Wikant.
»Wikants Bruder Norha ist zur Zeit auf Arima«, dachte Tinek laut. »Binajatja hat ihn zu ihrem Verwalter gemacht. Ich meine nur, da sie keine Erben hat … Wenn Norha die Gärten eines Tages übernimmt … Und wir sind hier … Es wäre ja fast so, als wenn wir – Könige über beide Inseln wären?« Sie benutzte das Wort »König«, als wäre es etwas Unanständiges.
»Er ist nur der Verwalter«, beharrte Wikant. »Nichts weiter. Diese beiden Inseln sind in Freundschaft verbunden. Immer nur in Freundschaft.«
»Aber du«, Zukata wandte sich an den Jungen, »du wärst gerne ein Prinz? Du wärst gerne einer der Könige, die an des Kaisers langer Tafel speisen. Du wärst gerne des Riesenkaisers Freund, so wie es Arimas Fischerkönige immer waren – aber offen, nicht heimlich, so dass jeder weiß, wie weit du es gebracht hast. Nicht wahr?«
Erion nickte eifrig.
»Blöd«, flüsterte Wikant untröstlich, als ahnte er schon, was geschehen würde.
»Dann komm mit mir«, sagte Zukata. »Komm mit mir auf mein Schiff. Du wirst der Freund des Kaisers sein, noch bevor deine Eltern sich entschieden haben, ob sie eine Krone tragen möchten.«
»Nein, Herr«, flehte Tinek. »Wir tun es ja. Wir werden Könige werden. Wir werden ein Schloss bauen und einen Thronsaal, in dem wir Euch das nächste Mal empfangen können. Bitte, Prinz! Lasst ihn hier. Wir werden es ja tun. Es kam nur etwas plötzlich. So unerwartet. Aber wir können es schaffen, wir werden es …«
Wikant schüttelte nur stumm den Kopf.
»Es müssen beide Inseln sein«, sagte Zukata. »Ein König für jede Insel oder ein König für beide. Das Königreich der Glücklichen Inseln. Überstürzt nichts. Ihr habt Zeit. Mein Vater ist ein Riese und Riesen leben lange. Zehn Jahre oder zwanzig oder fünfzig? Ein Schloss baut man nicht in fünf Jahren. Oder gar zwei Schlösser, eins für jede Insel? Denkt darüber nach. Und nun könnt ihr euch darum kümmern, etwas aufzutischen. Setz dich hier neben mich, Junge. Deine Mutter wird dafür sorgen, dass wir königlich speisen.«
Diesmal musste Tinek den Raum verlassen. Aber Wikant blieb da. Die ganze Zeit stand er an der Wand, gegen die glatte, kühle Holzpaneele gelehnt, und starrte auf seinen Sohn.
2. Zu viele Geheimnisse
Ü B E RI H N E NW Ö L B T Esich das grüne Dach des Sommers. Hier unten, unter den Zweigen, geschützt von Blättern, hätte es eigentlich angenehm frisch und kühl sein sollen. Mino stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Warum ist es so heiß?«
Keta blickte lächelnd auf sie herunter. »Seit wann macht dir das etwas aus?«
Sie lehnte sich gegen einen Baumstamm und rang nach Luft. »Mir ist schwindlig … Oh Rin, was bin ich müde.«
Obwohl der Riese verwundert den Kopf schüttelte, setzte sie sich zwischen die Baumwurzeln, die einen natürlichen Sessel bildeten.
»Ein schöner Platz«, sagte er. »Aber wir wollten heute ein gutes Stück schaffen, Möwe.«
»Mino«, verbesserte sie ihn. Sie legte den Kopf zurück, ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
»Für mich wirst du immer Möwe bleiben«, sagte er. »Auch wenn die Möwe, die ich kenne, etwas härter im Nehmen ist. Was ist eigentlich los mit dir?«
»Nichts«, beteuerte sie. »Ich bin einfach nur müde.«
Er kniete sich neben sie und griff nach ihrem Handgelenk.
»Ach, lass das, Vater. Ich bin nicht krank.«
»Vater«, wiederholte er. »Siehst du, und du bist doch Möwe. Nur Mino versucht ständig, sich daran zu erinnern, dass ich nicht ihr Vater bin. Möwe weiß genau, wo sie hingehört.«
Das weißhaarige Mädchen schüttelte den Kopf. »Nach Arima«, sagte sie leise. »Ich muss zurück nach Arima … Was ist mir schwindlig.«
»Trink.« Er reichte ihr die Wasserflasche, die sie durstig leerte. Aufmerksam beobachtete er sie. »Diese Reise ist anders als alle unsere vorherigen Wanderungen.«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich habe mein Gedächtnis wieder. Wir haben ein Ziel, wir wandern nicht mehr einfach so durch die Gegend. Du bringst mich nach Hause. Natürlich ist es anders.«
»Das meine ich nicht.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Möwe«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll.«
»Was denn?« Sie goss sich den Rest des Wassers über ihr Gesicht. »Du nimmst doch sonst kein Blatt vor den Mund, Keta.«
»Könnte es sein, dass du schwanger bist?«
Sie ließ die Flasche sinken und starrte den großen, blonden Riesen an, diesen Mann, der wie ein Vater für sie war. Drei Jahre lang, bis sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte, war er ihre Familie gewesen. Und doch hatte sie ihm nie alles erzählt, was in den Festtagen in Kirifas vorgefallen war. Er hatte es nie erfahren sollen. Niemand hatte es je wissen sollen und sogar sie selbst, so hatte sie sich geschworen, würde es vergessen, als wäre es nie passiert.
»Schwanger?« Ihre Augen begegneten sich, ihre blassen Albinoaugen, seine blauen Himmelsaugen. Er konnte den Schrecken in ihrem Blick erkennen, bevor sie das Gesicht abwandte.
Keta machte keinen Hehl aus seiner Verwunderung. »Möwe! Möwe, das … Und auch von ihm – nein, das hätte ich nicht erwartet. Lässt sich von allen feiern, der kleine Held, und dann das!« In sein Gesicht trat der Zorn. Er ballte die Fäuste. Mino war den Anblick eines wütenden Riesen gewöhnt und ließ sich nicht so schnell beeindrucken.
»Nein, Keta …«
»Ich rette ihm das Leben und er dankt es mir auf diese Weise? Du warst verwirrt. Du warst so verletzlich in diesem Moment, in dem dir alles wieder ins Gedächtnis kam … Wie konnte er das ausnutzen? Und dabei hat er diese schöne, junge Frau! Das ist der Mann, dem der Kaiser seine Tochter anvertraut? Das ist der Mann, für den ich den Segen geopfert habe?«
»Du hast was?«, fragte Mino verblüfft. Sie vergaß für einen Moment, was sie ihm hatte sagen wollen. »Du hast für Blitz den Segen hergegeben? Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe Zukata dazu gebracht, Blitz zu verschonen«, erklärte Keta grimmig, und in diesem Moment erkannte Mino, dass sie nicht die Einzige war, die Geheimnisse hatte.
»Aber – wie konntest du das tun, Vater? Für diesen Preis? Du hast Zukata versprochen, ihn zu segnen? Das durftest du nicht!«
»Ich weiß«, sagte Keta, auf sich und ebenso auf alle anderen zornig, »und nun wünschte ich mir, ich hätte es auch nicht getan!«
»Vater, Blitz hat mit – mit diesem Kind nichts zu tun.« Sie sagte es leichthin, aber in ihr brannte der Schmerz wieder auf, dieser verfluchte Schmerz, der sie wünschen ließ, dass Blitz sehr wohl etwas damit zu tun gehabt hätte. Wieso bekam sie ein Kind? Nur ein einziges Mal war sie schwach gewesen. Wie konnte sie davon schwanger geworden sein?




