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Ketas Zorn verrauchte auf einen Schlag. »Nicht? Aber – dann hast du Jamai endlich erhört? Und ich dachte schon … Weißt du, irgendwie habe ich es geahnt. Er liebt dich schon so lange. Aber warum ist er dann verschwunden? Warum gehst du überhaupt mit mir nach Arima, Möwe? Habt ihr euch gestritten? Vielleicht – deswegen?«
Mino seufzte. »Muss ich dir wirklich alles sagen?«
Der Riese schrak zurück, vielleicht vor seiner eigenen Neugier, vielleicht, weil das Mädchen, das bis jetzt immer ein Kind für ihn gewesen war, sich auf einmal als erwachsene junge Frau entpuppte, die ihm nicht alles offenbarte.
»Nein«, antwortete er schnell, »nein, das musst du nicht.«
Sie richtete sich langsam auf. »Es geht schon wieder. Wir können weiter.«
»Ich könnte dich ein Stück tragen«, bot er an.
»Ach nein, Vater!«
Wenn er es eilig gehabt hätte, hätte er darauf bestanden. Aber ihm lag nichts daran, möglichst schnell die Glücklichen Inseln zu erreichen und Möwe ihrer Mutter zu übergeben. Nachdenklich ging er neben ihr her und wünschte sich, er hätte irgendjemanden dafür umbringen können, für diese Schwere, die ihm plötzlich auf dem Herzen lag.
Er hatte das Feuer nur entfacht, um die Mücken zu vertreiben. Wärme hatten sie genug. Die Nacht war schwül und lag drückend über ihnen.
»Ein Gewitter wäre jetzt nicht schlecht«, sagte Keta. »Ein Sturm, der die Luft reinigt. Blitz und Donner …«
»Blitz«, wiederholte Mino leise.
»Mein Vater hält sehr große Stücke auf ihn«, sagte Keta. »Ich bin froh, dass ich meine Meinung über ihn nicht ändern muss.«
Nicht einmal ihrem Vater konnte sie ihre wahren Gefühle für Blitz anvertrauen. Wie eine ganze Welt in ihr aufgegangen war, als sie ihn gesehen hatte, erblüht und wieder eingestürzt, alles in einem Augenblick.
»Jamai ist ein guter Junge, Möwe. Weiß er eigentlich etwas von dem Kind? Nein, wie könnte er, wenn du es selbst bis jetzt nicht geahnt hast. Wir müssen ihn benachrichtigen. Alles wird gut, Möwe, das verspreche ich dir. Jamai wird sich mit uns freuen, er …«
»Das Kind ist nicht von Jamai«, sagte sie.
Wieder ging ein Teil ihres Geheimnisses verloren. In seinen erstaunten Augen erblickte sie die ganze Schmach, die über sie hereingebrochen war. Nicht Blitz und nicht Jamai. Nein, Jamai war geflohen, als er gesehen hatte, wie sie Blitz umarmte. Jamai war fort und sie wusste zu gut, warum.
Keta bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem Feuer zu – um seine Verlegenheit zu überspielen oder seine Missbilligung? Er legte etwas Holz nach und stocherte in den Flammen. »Ein einzelner Funke könnte diesen ganzen Wald in Brand setzen«, sagte er. »Doch nein, wir kriegen Regen. Riechst du es? Die Wolken kommen. Ich höre schon das Grollen des Donners. Das Unwetter zieht her.«
Möwe konnte noch nichts hören. Die schärferen Sinne der Riesen entlockten ihr jedoch längst kein ungläubiges Lächeln mehr. Sie dachte nicht darüber nach, was passieren würde, wenn der Sturm sie hier im Wald überraschte, zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Sie rang mit sich, ob sie Keta noch mehr erzählen sollte. Er würde es akzeptieren, wenn sie ihm nichts verriet. Aber er würde sich darüber Gedanken machen, wer sie war und warum er so wenig von ihr wusste. Nein, er hatte nicht gedacht, dass sie so etwas tun könnte. Blitz, den sie liebte. Jamai, der ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte. Wer kam denn sonst in Frage?
»Toris«, sagte sie leise, sie sah ihn an. »Das ist es doch, was du wissen willst, nicht? Wie kann deine Möwe schwanger sein? Wo sie doch immer auf Blitz gewartet hat, auf ihr altes Leben, tugendhaft und standfest … Treibt sie sich mit fremden Männern herum? Wer ist sie? Ich sehe dir an, dass du dich das fragst. Mach mir ruhig Vorwürfe. Sprich es ruhig aus. Sag es doch: Möwe, das hätte ich nicht von dir gedacht. Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Unsere kleine Möwe? Aber so ist es.« Sie lachte bitter auf. »So ist es.«
Keta streckte die Hand aus und wischte eine Träne von ihrer Wange. »Nicht weinen, Schatz. Nicht weinen, Liebes, meine liebe Möwe … Es ist gut. Es ist gut, mein Kind.«
»Gut? Wie könnte es gut sein?« Sie schluchzte auf, sie barg das Gesicht in ihren Händen.
Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. »Du bekommst ein Kind, Möwe. Wie könnte das schlecht sein? Es wird ein wundervolles Kind und wir werden alle stolz darauf sein. Ich kenne Toris seit seiner Geburt. Er ist ein guter Junge. Du hast keinen Grund, dich zu schämen. Glaubst du, nur weil ich zuerst an Jamai dachte, nehme ich es dir übel, dass es Toris ist?«
»Blitz hättest du es übelgenommen«, wandte sie ein.
»Weil Blitz verheiratet ist. Nur deswegen. Und weil – nun, vielleicht ist es immer so, dass Väter sich Sorgen machen und junge Mädchen trotzdem tun, was sie wollen. Ich habe nicht daran gedacht, wie viel Zeit du mit Toris verbracht hast. Er ist der beste Jongleur, den ich kenne, und ich habe viele gesehen. Ah, deswegen hat er dich also bestürmt, bei der Sippe zu bleiben.«
Sie nickte nur. Sie sagte ihm nicht, dass Toris auch jetzt noch nie mehr als ein guter Freund für sie sein konnte. Er würde, daran zweifelte sie nicht, für sie und das Kind sorgen, wenn sie zur Sippe zurückkehrte; er war ja sogar bereit gewesen, mit ihr nach Arima zu gehen und sesshaft zu werden. Aber sie wusste, dass das kein Leben für ihn war, den Ziehenden, der die Wälder liebte und auf den Jahrmärkten zu Hause war. Und sie war nicht für das Leben einer Zinta geboren worden. Sie lebten in verschiedenen Welten, sie und Toris, und nur eine starke Liebe, so stark wie ihre Liebe zu Blitz, hätte sie dazu bringen können, ihre Pflichten zu vergessen, die daheim auf sie warteten. Nur Blitz hätte sie dazu bringen können, dass sie alles hinter sich ließ, dass sie sich in den Sturm warf und ins Wasser sprang und alles vergaß, ihr ganzes Leben und ihre Vergangenheit und sich selbst. Aber Blitz hatte eine Frau.
Dies, dachte sie, ist eine Krankheit, gegen die nicht einmal der gesegnete Prinz mit den heilenden Händen etwas ausrichten kann. Dies ist ein Fluch, den ich selbst auf mich herabgezogen habe und von dem es keine Erlösung gibt. Dies ist etwas, von dem ich nie, niemals frei sein werde …
Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Keta legte seine schützenden Arme um sie, aber sie löste sich von ihm und kroch aus dem behelfsmäßigen Unterschlupf, den er aus Ästen und dem Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes errichtet hatte. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und durchnässte sie. Hagelkörner schlugen wie winzige Geschosse in ihre Haut ein. Sie hielt sich dem Sturm hin und wünschte sich, er könnte sie verschlingen, sie wünschte sich, er wäre ein Ungeheuer, das Menschen fraß. Aber er konnte weder ihr Gedächtnis auslöschen noch ihre Liebe. Der Schmerz brannte so heiß in ihr, dass nichts sie davon befreien konnte.
Keta ließ sie in Ruhe, aber danach, als die Wolken weitergezogen waren, trat er zu ihr und musterte sie besorgt. »Was kann so schlimm sein?«, fragte er, aber sie antwortete nicht.
»Versuch nie, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen«, riet er ihr, aber was scherten sie seine weisen Ratschläge?
Schmerz gegen Schmerz. Es war die einzige Waffe, die ihr zur Hand war.
Es war meine Schuld … Wir hätten beide auf dem Schiff sein können, wir beide, und Blitz hätte dieses andere Mädchen nie getroffen …
»Du bist völlig durchnässt«, meinte Keta. »Du musst dich unbedingt umziehen.«
Sie wollte sein Verständnis nicht und sein Mitleid und seine Fürsorge. Es gab nur einen Weg, damit aufzuhören, sich Vorwürfe zu machen, und das war, die Waffe jemand anders in die Hand zu legen und sich unter den Zorn eines anderen zu beugen.
»Mutter«, flüsterte sie, »ich will zu meiner Mutter …«
Er erfüllte ihr auf dieser Reise fast jeden Wunsch. Damit sie sich nicht überanstrengte, hatte er ihr einen Esel gekauft – er wusste, dass sie Esel weitaus mehr liebte als Pferde – und hatte sich dem Schritt des hin und wieder störrischen Tieres angepasst. Er hatte versucht, Mino durch Geschichten und Lieder aufzuheitern, und wenn sie Appetit auf etwas Bestimmtes bekam, scheute er keine Mühen, es für sie aufzutreiben. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin und er war der König. Als sie ihm das sagte, lachte er. »Ja, die Prinzessin des Waldes und der König der Zintas. Und dies ist unser Schloss – ganz Deret-Aif, größer und schöner als jeder Palast. Jedes Dorf ist Kirifas und jede Lichtung, auf der Brombeeren wachsen, ist mein Schlosspark. Du reitest auf dem edelsten Ross aus meinem Stall, meine Liebe. Alles ist dein, ich schenke dir die ganze Welt.«
Doch dann hörte er auf zu lachen und sie beide dachten daran, wem er die ganze Welt versprochen hatte, und Mino fürchtete sich davor, was aus dieser Welt werden könnte, wenn er es tat.
»Was wird das noch für ein Deret-Aif sein, in dem mein Kind aufwachsen wird?«, fragte sie. »Wenn es erst Zukatas Kaiserreich ist?«
»Vielleicht wird der Segen ihn verändern, so wie er mich verändert hat.«
»Aber das weißt du nicht.«
Mino ließ ihren Blick über die Landschaft wandern, durch die sie auf dem Esel mit dem samtweichen Fell ritt. Sie waren in Sitra und durchquerten weite, lichte Felder, in denen die späte Sommersonne wie mit goldenen Fäden ein Netz aus Licht sponn. Ketas glitzerndes Waldschloss war schöner, als jeder Palast es sein konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, wenn sie daran dachte, dass sie bald wieder in einem Haus leben würde, mit einem Dach zwischen sich und dem in allen Farben blühenden Himmel.
»Hab keine Angst«, sagte Keta. »Es ist Rins Segen und dies ist Rins Welt.«
Mino schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es so … Aber ich werde nie vergessen, welche Mühen es gekostet hat, Zukata Prinzessin Manina abzuringen. Stell dir vor, was es erst kosten würde, wenn wir ihm das Kaiserreich aus den Händen winden müssten, um es zu retten.«
»Und wenn ich mein Versprechen nicht halte?«, fragte Keta, und er musste nicht hinzufügen: Was ist dann mit Blitz?
Ich würde ihn verstecken, wollte sie sagen. Ich verberge ihn, ganz nah bei mir. Ich halte ihn fest, ich beschütze ihn, ich passe schon auf, dass ihm nichts geschieht … Aber Blitz hatte eine Frau.
Bevor sie auf die Fähre stiegen, die vom Drianer Hafen nach Arima ablegte – und natürlich hatte Keta sich durch nichts davon abbringen lassen, sie zu begleiten –, kam ihr plötzlich der Gedanke, ob es nicht doch ein Fehler war. Noch konnte sie umkehren, wieder zurück in den Sommerwald, der sich in einen goldbunten Herbstwald hineinverwandelte. Angst ergriff sie und ihr Herz schlug, nicht in freudiger Erwartung, sondern voll des Wissens, was sie dort in Arima erwartete. Keta merkte wohl, dass sie aufgeregt war, aber er nickte ihr freundlich zu.
»Nun ist es gleich soweit.«
»Ja.« Instinktiv legte sie ihre Hand auf den Bauch, in dem das Kind heranwuchs. Man sah noch kaum, dass sie schwanger war, aber sie konnte manchmal bereits die Bewegungen des Ungeborenen spüren.
»Ich werde dich regelmäßig besuchen«, versprach er, als hätte er das nicht schon unzählige Male gesagt. »Ich muss doch sehen, wie es meiner Tochter, der edlen Kaisergängerin, und meinem Enkel ergeht.« Er grinste. »Dem Urenkel des Kaisers, vergiss das nicht.«
»Ach, Vater …« Sie seufzte. »Ich bin doch bloß ich. Und Arima gehört nicht mal zum Kaiserreich.«
Er lächelte zufrieden, weil sie ihn wieder Vater genannt hatte, und zugleich schmerzlich, denn er wollte sie nicht hierlassen und ihrer alten Familie zurückgeben. Sie war nicht sein Fleisch und Blut, aber es fühlte sich längst so an – und doch durfte er nichts sagen. Er wusste, dass ihre erste Familie ein älteres Recht auf sie hatte.
Sie gingen von Bord, in diesem winzigen Hafen. Die Häuser der Fischer kamen Keta kleiner als sonstwo vor, schmucke weiße Häuschen, die sich aneinanderkuschelten.
»Dort geht es zu den Plantagen«, sagte sie und zeigte auf den Weg, der durch die Dünen führte. »Und das Dorf der Arbeiter liegt hinter den Hügeln.«
Es war unglaublich, wie wenig sich hier verändert hatte. Alles sah noch genauso aus wie vor drei Jahren. Die Häuser, die Menschen …
»Mino?« Sie begegneten einer Gruppe von Obstpflückern, die sie ungläubig anstarrten, sie und den Riesen, der sie begleitete. Auf den Glücklichen Inseln lebte kein Einziger aus Larings Stamm; die Leute wussten nicht, wen sie mehr bestaunen sollten – die totgeglaubte Tochter der Apfelkönigin oder den Hünen, den sie mitgebracht hatte.
»Ja!« Sie lachte. »Ja, ich bin’s!«
Als sie ihr altes Zuhause erreichte, war Binajatja längst benachrichtigt worden. Sie stand vor der Tür ihres Hauses und wartete.
»Wie alt sie geworden ist«, flüsterte Mino. Vielleicht war sonst alles gleich geblieben, aber für ihre Mutter schienen mehr als drei Jahre vergangen zu sein. Tiefe Furchen hatten sich in ihr Gesicht gegraben, aber sie war immer noch schön. Sie stand da wie eine Königin, aufrecht und stolz, auf ihre Würde gestützt wie auf eine Krücke, und lächelte nicht, als sie ihre Tochter wiedersah.
»Mutter!«, rief Mino und umarmte sie, aber Binajatja stand stocksteif da, ohne sich zu rühren.
»Du lebst also doch«, stellte sie fest. »Und du hast es nie für nötig befunden, mich zu benachrichtigen, wenn es dir schon nicht eilig damit war, zurückzukommen?«
»Ich hatte das Gedächtnis verloren …«, begann Mino, aber Binajatja unterbrach sie. »Und wer ist das?« Sie musterte Keta unverhohlen feindselig. »Seit wann gibt es Riesen auf dieser Insel?«
»Das ist Prinz Keta«, sagte Mino. »Er hat mich hergebracht. Und davor hat er mich geheilt, weil ich fast gestorben wäre, und … Oh Mutter, ich habe dir so viel zu erzählen. Du ahnst ja gar nicht, was ich alles erlebt habe!«
Die Apfelkönigin öffnete die Tür. »Komm nach drinnen«, sagte sie, »das brauchen ja wirklich nicht all diese Leute mit anzuhören. – Ihr könnt wieder an die Arbeit gehen, es gibt hier nichts zu sehen.«
Sie konnte nicht verhindern, dass Keta sich bückte und unter dem Türrahmen hindurch über die Schwelle trat.
Es gab nicht viel zu sagen. Die Worte erstarben auf Minos Zunge, bevor sie ihren Mund verlassen konnten. Sie überließ es Keta, ihre Mutter davon zu unterrichten, dass sie eine Kopfverletzung davongetragen und das Gedächtnis verloren hatte. Als er erwähnte, dass sie in der Zwischenzeit bei den Ziehenden gelebt hatte, hob Binajatja die Brauen.
»Na schön«, meinte sie schließlich. Keta war noch gar nicht dazu gekommen, von ihrer Suche nach Zukata und Maninas Rettung zu berichten, aber Minos Mutter hatte anscheinend genug gehört. »Du warst also krank. Du hast drei Jahre verpasst, in denen sich hier einiges getan hat. Ich habe einen Verwalter eingestellt, der die Arbeit übernommen hat, die ich dir zugedacht hatte. Diesen Vorsprung, den er jetzt dir gegenüber hat, wirst du schwerlich einholen können. Aber wir werden sehen.«
Keta legte Mino beruhigend die Hand auf den Arm. Nimm von meiner Kraft, konnte das heißen, nimm von meiner Stärke, nimm, was immer du brauchst.
»Und Ihr – Prinz Keta, richtig? – steht wie genau zu meiner Tochter? Habt Ihr Euch mit ihr vermählt, während sie krank war und Euch hilflos ausgeliefert war?«
Keta lief rot an.
»Er ist wie ein Vater für mich!«, warf Mino schnell ein.
»Du hattest einen Vater«, erinnerte Binajatja scharf. »Und er hat uns im Stich gelassen. So wie dein Bruder auch.«
»Das hat er nicht!« Sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, das zu sagen. »Lexan hat uns nicht im Stich gelassen! Er ist in Rinland angekommen, Mutter, ist das nicht wunderbar? Ich muss dir von dem Brief erzählen!«
»Genug!«, fuhr ihre Mutter sie an. »Ich will nichts mehr hören. Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen? Du hast die Gewohnheiten dieses ganzen Gesindels übernommen, wie? Aber vermutlich sollte ich noch dankbar sein, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Dass du nicht entehrt und mit einem Balg am Hals hergekommen bist. So«, sie wandte sich wieder an Keta. »Ich danke Euch für Eure Hilfe, aber nun ist sie ja wieder zu Hause. Ich werde Euch Eure Mühe selbstverständlich entgelten. Wartet hier einen Moment.«
Sie erhob sich und verließ das Zimmer.
»Möwe«, flüsterte Keta, »Möwe, komm mit mir. Lass uns nach Hause gehen, zu Variti und den anderen.«
Aber Mino schüttelte den Kopf. »Das ist meine Mutter.«
»Möwe, bitte …«
Binajatja kam zurück. »Hier.«
Keta starrte ungläubig die Münzen an, die sie vor ihm auf den Tisch legte. »Du willst mich dafür bezahlen?«
Mino nickte ihm stumm zu, flehend, aber er stand auf und wandte sich wutentbrannt an Binajatja. »Du bittest mich nicht in dein Haus, du reichst mir nicht einmal die Hand … Und jetzt willst du mich auch noch bezahlen?«
»Wenn ich es recht verstanden habe, habt Ihr sie geheilt«, sagte Binajatja. »Seit wann arbeiten Ärzte umsonst?«
Keta stand auf. Er ragte gewaltig über ihr auf, aber da die Decke zu niedrig war, konnte er nicht aufrecht stehen. Vorgebeugt, als wollte er jeden Moment auf sie niederfahren, machte er seinem Ärger Luft.
»Du hast mich nicht hereingebeten, du bietest mir nichts zu essen und trinken an, du missachtest alle Regeln der Gastfreundschaft, die es gibt – und glaub mir, ich kenne viele verschiedene Bräuche und Sitten –, und dann willst du mich auch noch bezahlen? Aber das alles könnte ich dir verzeihen, wenn du wenigstens dein eigenes Kind beachten würdest! Dies ist deine Tochter, die ich dir nach Hause gebracht habe! Sie ist mit mir durch ganz Deret-Aif gewandert, sie wurde geehrt im Hause des Kaisers für ihre Hilfe bei der Rettung der Tochter des Kaisers. Sie hat Zukata in die Falle gelockt und gefangengehalten, einen Riesen von meiner Größe. Mit dreiundzwanzig Königen hat sie an einer Tafel gesessen und mit ihnen gespeist. Kanuna El Schattik nannte sie seine Enkelin und machte sie zu seinem Kaisergänger. Im ganzen Kaiserreich gilt ihr Wort so viel wie seins!«
Binajatja blickte ungerührt zu ihm auf.
»In meinem Haus gilt nur mein Wort«, sagte sie.
Mino schämte sich so sehr für ihre Mutter, dass sie kaum sprechen konnte.
Und Keta wünschte sich, er hätte ein ganzes Heer bis an die Zähne bewaffneter Soldaten vor sich. Eine wehrlose Frau, so unverschämt sie auch war, würde er nicht schlagen.
»Komm, Möwe«, sagte er. »Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Lass uns nach Hause gehen, zu Variti und den anderen.«
Aber Mino schüttelte den Kopf. »Nein, Keta, ich …«
Er öffnete die Tür so ruckartig, dass er sie halb aus den Angeln riss. Mino sprang auf.
»Du bleibst hier«, befahl Binajatja. »Das wäre ja noch schöner.«
Aber Mino folgte ihm nach draußen. »Keta! Warte! Ach, Vater, bitte …«
Keta wandte sich zu ihr um. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen. »Was?«, rief er ihr entgegen. »Was denn noch? Du hast es gewusst, nicht wahr? Du wusstest, was dich hier erwartet!«
»Sie ist meine Mutter«, sagte Mino leise.
»In den vergangenen drei Jahren hat Variti dir mehr Liebe gegeben als diese Frau in deinem ganzen Leben! Ach, Möwe, was soll ich machen? Ich möchte dich packen und mitnehmen und zurückbringen. Ich kann dich doch nicht hierlassen. Wie soll ich gehen und wissen, dass du hier bist, bei dieser Frau ohne Lächeln?«
Sie sah die Tränen in seinen Augen und es schnürte ihr die Kehle zu.
»Sie war nicht immer so«, sagte Mino. »Als mein Vater noch da war, hat sie mit uns gespielt und gelacht … Keta, ich – ich kann nicht anders. Mein Platz ist hier. Ich kann sie nicht alleine lassen, nur weil sie unhöflich und starrsinnig ist und weil Familie ihr etwas anderes bedeutet als den Zintas. Sie hat doch nur mich!«
Der Riese blickte sie an, nachdenklich, und schüttelte den Kopf. »Vermutlich sollte ich stolz auf dich sein, weil du so denkst. Aber es bricht mir das Herz, dich in diesem Haus zu lassen. Wie kann ich dir erlauben, dass du dir das antust?« Er seufzte. »Und wie könnte ich es dir verbieten? Auf einer Insel zu leben, auf der niemand dich liebt?«
»Sie liebt mich, glaub mir«, versicherte Mino. »Sie dachte, ich sei tot. Sie hat alle ihre Gefühle begraben, weil sie weitermachen musste. Sie muss so sein, verstehst du, sonst würde sie zusammenbrechen … Aber jetzt werde ich bei ihr sein. Ich kann ihr helfen. Es war heute ein Schock für sie, aber du wirst sehen, wenn du mich das nächste Mal besuchst, sieht alles schon ganz anders aus. Du wirst herkommen und sehen, wie glücklich ich hier bin. Meine Mutter wird dich begrüßen und hereinbitten und wir werden den Tisch decken und dich bewirten. Du wirst uns Nachrichten aus dem Kaiserreich bringen und Grüße von der Sippe …«
Er streckte die Hand aus und wischte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Ich werde jetzt gehen. Aber ich bleibe noch einige Tage hier auf der Insel. Wenn du es dir überlegst, findest du mich schon. Jemand wie ich wird hier kaum unbemerkt abreisen können.«
Sie sah ihm nach, wie er ging, mit großen, ausgreifenden Riesenschritten, dann seufzte sie und ging zurück ins Haus.
Binajatja saß am Tisch und wartete, die Hände gefaltet.
»Da bist du ja. Ich dachte schon, du würdest wieder verschwinden. Jemandem, der drei Jahre lang in der Weltgeschichte herumgondelt und sich einen Dreck darum schert, wie ich hier alleine zurechtkomme, ist das wohl zuzutrauen.«
»Mutter, ich …«
Binajatja ließ sie nicht ausreden. »Ich habe schon immer gewusst, dass du ein selbstsüchtiges Mädchen bist, das seine Zeit lieber mit Herumtreibern verbringt, statt mir zu helfen. Daher wundert mich gar nichts mehr. Was hast du dir dabei gedacht, einen Riesen nach Arima zu bringen? Wir sind hier jemand, Mino. Setz unseren Ruf nicht so leichtfertig aufs Spiel.«
»Mutter, Keta zu beherbergen ist eine Ehre, für jeden. Er ist ein edler Mann und der beste Heiler, den es gibt!«
»Sie sind wild wie Tiere«, wusste Binajatja. »Sie hausen im Gebirge und jeder weiß, warum. Sie können nicht bei den Menschen leben, weil sie keine Menschen sind.«
»Selbst der Kaiser ist ein Riese! Es kann ja wohl nicht so schlimm sein …«
»Ich weiß genug über Riesen.« Die Apfelkönigin verzog vor Abscheu das Gesicht. »Sie sind unberechenbar. Es waren die Riesen, die Jahrhunderte lang Krieg geführt und ein Königreich nach dem anderen unterworfen haben. Die Glücklichen Inseln sind noch frei von ihnen und so soll es bleiben.« Sie musterte ihre Tochter aus zusammengekniffenen Augen. Mino senkte den Kopf. Sie wollte sagen: Du weißt noch nicht alles, ich bin schwanger. Aber sie brachte es nicht über die Lippen.
Zum Glück klopfte es. Den Mann, der verwundert die beschädigte Tür betrachtete, bevor er über die Schwelle stieg, hatte sie noch nie gesehen. Er war mittelgroß und vielleicht doppelt so alt wie sie, ein rothaariger Mann mit einem glattrasierten, von Sonne und Aufregung geröteten Gesicht.
»Binajatja! Ich habe gehört …« Dann fiel sein Blick auf Mino. »Also ist es wahr? Deine Tochter ist heimgekehrt?« Er nickte ihr freundlich zu und reichte ihr die Hand.
»Ich bin Norha«, sagte er. »Herzlich willkommen zu Hause.«
»Unser Verwalter«, stellte Binajatja vor. »Norha von Neiara. Du erinnerst dich doch wohl noch, dass auf unserer Nachbarinsel Wein angebaut wird?«
»Ja, natürlich«, stammelte Mino.
»Nun, Norha ist der Bruder von Wikant, dem Weinfürsten. Wir haben beschlossen, dass unsere Familien in Zukunft enger zusammenarbeiten werden. Norha ist ein Experte für den Weinbau.«
Mino verstand gar nichts mehr. »Was hast du dann mit unserem Obst zu tun?«, fragte sie ihn verwirrt.
»Mittlerweile kenne ich mich schon ganz gut damit aus, werte Mino.« Er verbeugte sich leicht vor ihr, dann wandte er sich wieder der älteren Frau zu. »Binajatja, wir müssen noch diese Sache besprechen, du weißt schon.«
»Die Arbeiter wollen wieder mehr Geld, wie?« Die Apfelkönigin seufzte. »Gut, setz dich her. Mino, du kannst ruhig zuhören. Es wird Zeit, dass du dich wieder mit den Dingen beschäftigst, die dich etwas angehen.«
Sie braucht mich nicht, dachte Mino. Ich bin den ganzen Weg hergekommen, um sie zu sehen, aber sie braucht mich nicht.
Keta hatte den Weg über die Hügel eingeschlagen, durch die Plantagen hindurch. Die Bäume hingen voller Äpfel, rot und golden und hellgrün. Er merkte plötzlich, wie hungrig er war und stopfte sich kurzerhand die Taschen voll. Seine Laune besserte sich wieder.




