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»Ein König sitzt in seinem Schloss, in seinem eigenen Land, und regiert und verwaltet und urteilt und verschwendet seine Zeit mit tausenderlei Dingen«, erklärte Zukata, seine Stimme klang beinahe liebevoll. »Dich brauche ich hier, mein Junge, hier bei mir. Es gibt nur wenige, denen ich einen Auftrag wie diesen anvertrauen kann. Du bist hier, im Herzen der Macht, nur wenig unter mir. Meinst du nicht, dass das mehr ist, als König von Laring, Diret oder Mindonien zu sein?«
»Ja, Herr.« Er neigte den Kopf.
»Wenn du das für mich tust«, sprach Zukata weiter, »wenn du der Mann bist, der Sorayn vor mir in die Knie zwingt, werde ich dich zum König von Aifa machen. Das ist doch ein Königreich, das dir hoffentlich groß genug ist? Nun, willst du König von Aifa werden?«
»Aber«, stammelte Erion, »das seid Ihr! Das ist immer der Kaiser!«
»Das war bisher so«, bestätigte der Riese ungerührt, er lächelte über die Aufregung, die seine Worte bewirkten. »Aber mir gehört ganz Deret-Aif. Herrscher zu sein über die halbe Welt ist keine Kleinigkeit. Ich habe gar nichts dagegen, wenn du dich um einen Teil meines Landes kümmerst. Das hat den Vorteil, dass der König von Aifa hier in Kirifas residiert. Du würdest also als mein engster Vertrauter und Ratgeber in meiner Nähe bleiben.«
»Ihr ehrt mich, Herr.« Diese Aussichten waren überwältigend. »Aber – und Eure Tochter Ilinias?«
»Wieso Ilinias? Was hat das mit ihr zu tun?«
»Sie ist die Prinzessin von Kirifas, ist sie dann nicht eigentlich die rechtmäßige Anwärterin auf Aifa?«
»Das entscheide immer noch ich«, sagte Zukata. »Und ich gebe es demjenigen, der Sorayn für mich besiegt. Seine Mutter Ilinias wird das wohl kaum tun.«
Erion verneigte sich fast bis zum Boden.
»Dann geh«, beschied sein unvergleichlicher Herr. »Mach, dass ich wieder schlafen kann. Sorayn soll mir dienen, so wie du es tust, und er soll seine Knie vor mir beugen. Dann erst werde ich wahrhaft Kaiser sein.«
Majas Flötenspiel konnte niemand auf dem ganzen Schiff entkommen. Sogar die Ruderer verhielten, wenn es gar zu schlimm wurde, was zur Folge hatte, dass der Rhythmus, der den Frachter die Strömung hinauftrieb, stockte. Die Männer lauschten gebannt der wilden, stürmischen Melodie, die einen Orkan auf sie herabzurufen schien. Es hörte sich an, als ob jemand schrie.
»Solche Lieder bringen Unglück«, presste Kapitän Dogla zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er fügte hinzu, dass die Dame, die mehrere Königreiche wert war, gefälligst damit aufzuhören hatte, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten.
Maja saß auf dem Bett, die Knie angezogen, in ihrer Hand die kleine Flöte, dieses so unschuldig aussehende Stück Holz. Ihre Finger tanzten auf den Löchern. Sie spielte einfach weiter, als Erion hereinkam.
»Schluss damit«, befahl er streng.
»Sonst was?« Die Zinta blickte ihn herausfordernd an. »Werft Ihr mich sonst über Bord?«
Er konnte sie nicht ausstehen. Solche Frauen machten nichts als Ärger.
»Nichts lieber als das«, knurrte er, und sie lachte. »Nun zeigt Ihr endlich einmal Euer wahres Gesicht, Herr Halber König von Neiara.«
Ihm war danach, sie zu verprügeln, in ihr herausforderndes Lächeln zu schlagen, aber er hatte sich vollkommen in der Gewalt. Er streckte die Hand aus.
»Gebt mir die Flöte.«
»Nein.« Sie hielt sie mit beiden Händen fest. »Nein!«
»Dieses verdammte Musikinstrument hat Euch schon einmal verraten.«
»Was?«
Eigentlich wollte er es ihr nicht sagen. Die Reise würde viel leichter sein, wenn sie dachte, dass Sorayn sie in Kirifas erwartete. Andererseits würde es mit Sicherheit nicht lange dauern, bis sie sich dafür entschieden hatte, lieber nicht zu diesem treulosen Sorayn zurückzukehren, von dem er ihr erzählt hatte. Vielleicht war es unklug – und Erion hasste es, etwas Unkluges zu tun, nur weil ihn seine Gefühle dazu verleiteten –, aber er konnte einfach nicht widerstehen. Er wollte ihr Entsetzen sehen, wenn sie endlich erfuhr, worum es ging. Ihm fiel kein anderes Mittel ein, um ihr die Frechheiten ein für alle Mal auszutreiben, um ihr wehzutun, ohne blaue Flecken zu hinterlassen.
»Sorayn hatte eine ungewöhnlich musikalische Frau bei sich, als er mit seinem Riesenheer unterwegs war«, sagte er. »Das war nicht schwer herauszufinden. Man muss nur den richtigen Personen die richtigen Fragen stellen. Euch zu finden, hat eine Weile gedauert, aber als meine Spione von einem schwarzhaarigen Mädchen berichteten, das in einem Gasthaus in Laring die Gäste mit Flötenspiel unterhält, da wusste ich, dass Ihr das seid, Prinzessin Maja.«
»Es gibt unzählige Spielleute im ganzen Land.«
»Tatsächlich? Wenn man die Leute über Euer Spiel reden hört, könnte man glauben, es gäbe nur eine einzige Frau auf der Welt, die es vermag, so damit zu verzaubern. Auf diese Weise habe ich Euch gefunden. Schneller, als Sorayn es vermochte. Er sucht nach Euch, wusstet Ihr das? Überall fragt er nach Euch.«
»Er sucht nach mir?« Ihre Augen weiteten sich.
»Natürlich. Schon lange. So viel ich weiß, ist er mit den Ziehenden unterwegs. Aber sie kommen nicht gut voran, seit der Kaiser den alten Tribut wieder gestattet hat. Meine einzige Hoffnung war es, schneller zu sein als Sorayn. Und Euch nach Kirifas zu bringen, bevor er weiß, dass Ihr in meiner Hand seid.«
»Was will Zukata von mir?«, fragte sie. »Ich kann ihm nie so gefährlich werden wie Manina. Und wenn er glaubt, ich könnte es, warum bringt Ihr mich dann überhaupt zu ihm? Ihr hättet mich auch gleich umbringen können. Werdet Ihr mich töten?« Sie versuchte immer noch, furchtlos und trotzig zu klingen.
»Keineswegs, Prinzessin. Ich werde Euch kein Haar krümmen«, versicherte Erion. »Euer Gemahl wird keinen Grund haben, sich über Eure Behandlung zu beschweren, wenn er in den Palast kommt. Und das wird er, sobald er erfährt, dass Ihr dort seid. Nie wird jemand so schnell angerannt kommen wie er. Und nie wird jemand so eifrig darum betteln, Zukata aus der Hand fressen zu dürfen.«
Es überlief sie eiskalt.
Erion sah, wie sie langsam anfing zu begreifen. Sehr langsam. Bei Rin, war sie gutgläubig und naiv! Hatte sie nicht gewusst, dass die Liebe das Schlimmste war, was einem Menschen widerfahren konnte?
»Wenn Sorayn bis jetzt dachte, er könnte Zukata kontrollieren«, fuhr er mitleidslos fort, »wenn er glaubte, er könnte der heimliche Herrscher über Deret-Aif sein, während sein Großvater auf dem Thron sitzt, dann hat er sich geirrt. Dann hätte er besser darauf achtgeben müssen, dass ihn niemand mit irgendetwas erpressen kann. Und deshalb, meine Liebe, seid Ihr die Fessel, mit der wir Sorayn binden werden. Die Kette, an die wir ihn legen werden. Wie fühlt es sich an, Prinzessin Maja? Königin über ein sehr kleines, aber sehr wichtiges Königreich zu sein – über das Herz des Mannes, den Ihr vernichten werdet?«
»Ich bin … und Fria?«
»Fria?«, fragte Erion verächtlich. »Eine Zeitlang glaubte ich tatsächlich, sie könnte der Schlüssel sein. Aber er brach bereits mit ihr, bevor er Euch traf. Er tötete ihren Bruder. Glaubt Ihr, er würde Euch jemals solchen Schmerz zufügen? Oh nein, mit Sicherheit nicht. Er würde lieber sterben, als Euch zum Weinen zu bringen.«
Ihr Gesicht. Diese Stille, die über sie gekommen war, während sie jeden seiner Schläge aushalten musste. Fast hätte sie ihm leidtun können. Und er würde jedes seiner Worte bereuen, wenn sie gleich anfing, gegen ihn zu kämpfen. Er sah schon die Wut durch all den Schmerz und den Schrecken der Erkenntnis schimmern.
»Ihr seid ein mieses kleines Scheusal«, flüsterte Maja. »Ich verfluche Euch.« Und dann sprang sie mit einem Mal auf und stürzte sich auf ihn. Nur weil er darauf gefasst gewesen war, gelang es ihm, durch die Tür zu schlüpfen, bevor sie ihm das Gesicht zerkratzen konnte, und draußen lehnte er sich gegen die Bretter und hörte zu, wie sie drinnen in der Kajüte tobte. Erion lächelte.
7. Die Last auf den Schultern
D I ES O L D A T E NH A T T E NSorayn einen Strick um die Handgelenke geschlungen und führten ihn daran hinter sich her. Mit Leichtigkeit hätte er ihn zerreißen können, doch natürlich tat er es nicht. Dafür war es noch zu früh. Erst musste er sehen, wohin sie ihre Gefangenen verschleppten, was mit denen geschah, die aus ihren Sippen herausgerissen wurden, um einem fremden Fürsten zu dienen.
Zunächst brachten sie ihn zu einem unerwartet großen Haus am Waldrand. Ein Kampf der Sippenbrüder hätte, so sah Sorayn nun, keine Chance gehabt. Hier waren mindestens dreißig oder vierzig Männer untergebracht. Im angrenzenden Stall hörte er ihre Pferde stampfen. Vor dem Gebäude lungerten ein paar gelangweilte Kerle herum.
»Wen bringt ihr denn da mit?«, rief einer, der ihnen mit aufgerissenen Augen entgegensah. »Da habt ihr euch einen Burschen gekrallt, wie?«
»Zinta«, sagte der Soldat, der die Leine hielt, verächtlich.
»Ach, werden die so groß?«
»Die gibt es in allen Größen, glaub mir.« Sie redeten über ihn, als hätten sie im Garten ein besonders beachtliches Exemplar einer Gemüsesorte gefunden. Keine außergewöhnliche Spezialität, die man auf den Tafeln der Reichen finden würde, sondern etwas Schlichtes, nahrhaft und kräftig, für das einfache Volk.
Der Mann trat näher und befühlte Sorayns Oberarm. »Dafür wird Pidor uns ein Fass öffnen lassen.«
»Fürst Pidor?« fragte Sorayn. »Nie gehört. Ist er schon lange im Amt?«
»Du, ich glaube, der dreckige Zinta redet mit uns.«
»Das scheint mir auch fast so.« Sie musterten ihn aus zusammengekniffenen Augen. Wahrscheinlich ließ seine Größe sie davor zurückschrecken, ihn zu misshandeln. Obwohl sie ihn für sicher gefesselt hielten, ließ der Soldat, der schon den Arm zum Schlag hob, die Hand wieder sinken.
»Fürst Pidor hat es nicht gern, wenn sie beschädigt sind.«
»Wo bringen wir ihn diese Nacht unter? Heute schaffen wir es nicht mehr bis zum Fluss.«
Der andere zeigte auf den Stall. »Da, wo sonst? Glaubst du, ich schlafe mit einem Ziehenden unter einem Dach?«
Bei jeder abfälligen Bemerkung, bei jeder Beschimpfung war Sorayn froh, dass er hier war und nicht einer aus der Sippe. Toris hätte sich wahrscheinlich schon längst brüllend auf sie gestürzt, und einen der jüngeren Brüder hätten sie bestimmt schon zusammengeschlagen, wenn er sich empört gewehrt hätte. Der Riesenprinz ließ sich dagegen ohne Gegenwehr zu den Pferden schubsen, die ihn neugierig beäugten. Zwischen ihnen an einen Pfahl gebunden, verbrachte er die Nacht. Der warme Geruch der Tiere lullte ihn ein, ihr Schnauben und Stampfen, war sein Schlaflied. Lang ausgestreckt lag er im Stroh und fühlte die trägen Gedanken der freundlichen Stallbewohner durch seinen Geist treiben. Grüne Wiesen erstreckten sich vor ihm, Apfelbäume lockten mit duftenden roten Früchten. Süßer Hafer füllte seinen Mund, duftendes Heu, würzig, mit vielen Kräutern durchmischt, war sein Kissen.
»He!« Ein derber Fußtritt weckte ihn. »Aufstehen, es geht los!«
Sorayn gähnte, setzte sich auf und merkte, dass er gar nicht mehr gefesselt war. Im Schlaf musste er den Strick aus Versehen zerrissen haben. »Oh, Verzeihung. Der schöne Strick.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und zupfte sich Strohhalme von der Kleidung.
»Komm, wird’s bald?«
»Ohne Frühstück?«, hakte er nach.
»Aufstehen!«, bellte der Soldat. »Gegessen wird erst nach der Arbeit!«
Trotz seiner intensiven Träume davon, was Pferde glücklich machte, hatte der junge Prinz keinerlei Appetit auf Heu und Gras. »Nicht einmal eine Tasse Tee? Schön heiß?«
Seine gute Laune schien den Mann glauben zu machen, dass er es mit einem Schwachsinnigen zu tun hatte. »Noch mal schön langsam: Du – jetzt – aufstehen! Gehen. Arbeiten. Dann essen. Kapiert?«
»Wird man so, wenn man in Fürst Pidors Diensten steht? Dass man nicht mehr die einfachsten Sätze zustande bringt? Welch bedauerliches Schicksal.«
Er rappelte sich auf und streckte sich. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, dass der Soldat einige Schritte zur Seite wich und unwillkürlich nach seinem Schwert griff. Auch wenn Sorayn nicht wie ein Riese aussah, war er immer noch größer als jeder andere hier. Nun, sollten sie sich ruhig von seinem freundlichen Auftreten täuschen lassen.
»Du läufst.« Sein Bewacher sattelte eins der Pferde, machte aber keinerlei Anstalten, den vermeintlichen Zinta noch einmal zu fesseln. »Und vergiss nicht: Du gehörst jetzt dem Fürsten. Weglaufen nützt gar nichts. Du bist zu Fuß, wir sind beritten. Bis jetzt haben wir noch jeden erwischt, der es versucht hat.«
Wenn man freiwillig gefangen war, konnte man dazu nicht viel sagen. Er hatte nicht vor zu fliehen. Wenn er genug gesehen hatte, würde er einfach wieder gehen. Sollten sie ruhig versuchen, ihn aufzuhalten!
Der Weg führte durch einen lichten Wald, in dem der Herbst bereits Einzug gehalten hatte. Ihre Schritte raschelten durch Unmengen von Blättern, und es roch nach Moder und Pilzen. Sehnsüchtig dachte Toris’ Schwiegersohn an die Gemeinschaft der Ziehenden, die nun ohne ihn das Land durchquerten und vielleicht gerade jetzt um ein Feuer saßen und miteinander schwatzten. Vielleicht brieten sie Eier und Pilze zum Frühstück, garniert mit Kräutern.
»Dort ist der Rianang«, sagte der Soldat stolz.
Und Sorayns gelöste Stimmung fiel von ihm ab wie ein goldenes Herbstblatt.
Am Ufer schufteten Menschen. Etwa zwei Dutzend Arbeiter wankten dort mit gebeugtem Rücken unter der Last riesiger Säcke. Eine niedrige Mauer hatten sie daraus bereits errichtet.
»Was tun sie da? Bauen sie einen Deich? Wozu?«
Der Zinta-Verächter ließ sich ausnahmsweise dazu herab, ihm Auskunft zu geben. »Weil der Fürst es angeordnet hat. – Heda! Schau, was ich hier habe!«
Der Aufseher, der sie bemerkt hatte und ihnen entgegentrat, unterzog den Neuen einer kurzen Musterung und nickte zufrieden. »Mit wie viel Nachschub können wir noch rechnen?«
»Ein oder zwei Wagenkolonnen müssten noch bei uns durchkommen, bevor der Winter beginnt.«
»Das ist zu wenig. Ich brauche mehr Leute. Ein Mann von jeder Sippe ist nicht genug. Bringt mir jeden, der mit anpacken kann, ist das klar?«
Der Soldat verzog das Gesicht, aber er nickte. »Du wirst doch dem Fürsten mitteilen, wie gut wir die neuen Arbeiter auswählen?«
»Natürlich«, versprach der Aufseher kühl. Er war ein kleiner, hagerer Mann mit wenig Haaren. »Und jetzt muss ich weitermachen.« Er winkte Sorayn mit einer kaum sichtbaren Kopfbewegung, mitzukommen.
»Da liegen die Säcke. Die Weiber befüllen sie, du wirst sie mit den anderen Männern ans Ufer bringen.«
Obwohl sie jetzt am frühen Morgen gerade erst mit der Arbeit angefangen haben konnten, wirkten die Frauen an der Sandbank erschöpft. Eine von ihnen hätte vom Alter her seine Großmutter sein können, sie erinnerte den Prinzen an Liravah. Mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen schaufelte sie den Sand in einen Sack, den ein kleines Mädchen offen hielt.
»Dich hat uns Rin geschickt«, sagte einer der zerlumpten Männer, der sich gerade einen frisch gefüllten Sack auf den Rücken lud. »Jetzt geht es hoffentlich etwas schneller.«
Nicht alle waren Zintas. Einige von ihnen gehörten unzweifelhaft zum Ziehenden Volk; ihre braune Haut, ihre dunklen Augen und ihr schwarzes Haar wiesen sehr stark darauf hin. Falls diese Ähnlichkeit zufällig war, mussten sie jedenfalls trotzdem damit rechnen, als der letzte Abschaum behandelt zu werden. Andere Gefangene jedoch, wie die grauhaarige Frau und ihre blonde Enkelin, kamen wahrscheinlich aus dieser Gegend.
»Warum seid ihr hier?«, fragte Sorayn, während er sich gleich zwei Säcke griff. »Was ist das für ein Fürst, dieser Pidor?«
»Sehr hohe Steuern verlangt er«, antwortete die alte Frau und seufzte laut. »Nicht jeder kann sie zahlen.«
»Sag ihm nichts«, rief die Arbeiterin neben ihr. »Vielleicht ist er geschickt worden, um uns auszuhorchen.«
Sorayn trug die Säcke zu der langsam wachsenden Mauer und wuchtete sie obenauf. Er sah am Flussufer entlang. Der Rianang grub sich hier in einer langen Krümmung ins Land hinein. Man konnte sich gut vorstellen, dass es hier Überschwemmungen gab, sobald die Herbststürme begannen.
»Ist das Dorf sehr nah?«, fragte er.
Einer der Männer schnaubte durch die Nase. »Das Dorf? Welcher Idiot würde so nah am Fluss ein Dorf anlegen? Der Fürst hat dort hinter der Biegung sein Domizil. Die Dörfer liegen höher.«
»Still«, warnte ein braunhäutiger, glutäugiger Bursche. »Nichts über den Fürsten, zu niemandem! Haben wir nicht schon genug Ärger?«
»Von welcher Sippe bist du?«, erkundigte sich Sorayn.
»Warum fragst du? Was kümmert dich das Ziehende Volk? Sie haben uns gesagt, sie würden einen Zinta bringen, aber du bist keiner von uns.«
»Ich habe gesagt, sie würden uns aushorchen lassen«, warnte ein dritter Mann. »Lasst euch bloß zu nichts hinreißen.«
Sorayn schüttelte besorgt den Kopf. Zintas waren normalerweise nicht ängstlich. Sie gaben nichts auf Könige und andere Würdenträger, hatten nur Spott übrig für ihre Gesetze und ihre Macht; normalerweise fürchteten sie sich nicht davor, alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kam. Auf den Märkten verhöhnten Puppenspieler und Liedermacher die Mächtigen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass sie dafür im Kerker landen könnten. Welcher Landesherr hätte sich eine Blöße gegeben, indem er sie ernstnahm? »Wer dem Sänger auf den Mund schlägt, wird schon wissen, warum«, hieß es. Und wenn jemand doch seine Soldaten schickte, waren sie schon wieder weitergezogen.
»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte der Riesenprinz. Er versuchte zu erkennen, wie weit die aus Sandsäcken aufgestapelte Mauer reichte.
»Seit dem Frühling.«
»Sag ihm nichts!«, fuhr der andere dazwischen, doch der Erste starrte Sorayn herausfordernd an.
»Seit dem Frühling«, wiederholte er. »Aber für mich ist es, als wären meine Fußknöchel gebrochen und als würde die ganze Welt ohne mich weiterwandern. Wird es für dich auch so sein, wer auch immer du bist? Mein Rücken schmerzt und ich kann mich kaum aufrichten, aber es sind meine Füße, die wehtun, weil ich nicht fortgehen kann.«
»Warum nicht?«, fragte Sorayn. »Warum bist du nicht geflohen? Deine Sippe ist längst weit fort und in Sicherheit. Keiner der Soldaten wird dich von dort zurückholen. Da ist der Fluss. Es wäre ein Leichtes, sich hineinzuwerfen und wegzuschwimmen. Warum bist du noch hier?«
Die beiden Männer sahen sich an.
»Er wüsste es, wenn Pidor ihn geschickt hätte«, sagte der Zinta.
»Was wüsste ich?«
»Wir können nicht fliehen. Für jeden, der es versucht, muss einer der anderen dran glauben.«
»Was?« Er starrte seinen Mitgefangenen an, der Sandsack glitt ihm vom Rücken. »Da fehlen mir die Worte.«
»So ist es«, sagte der junge Ziehende. »Was meinst du, weshalb wir keine Fesseln tragen? Dort hinten sind die Soldaten. Einer könnte möglicherweise an ihnen vorbei, vielleicht, wenn er viel Glück hat, sich sogar ein Pferd schnappen … Aber wer wird für ihn sterben? Die Frauen an der Sandbank tragen Fußfesseln.« Er schüttelte den Kopf. »Glaubst du immer noch, es wäre so einfach?«
Der Aufseher stolzierte auf sie zu, in der Hand etwas, das wie eine Reitgerte aussah. »Weitermachen! Was starrst du in die Luft?«
Sorayn hörte ihn gar nicht. Er sah zu den Frauen hinüber, von denen keine es wagte, aufzublicken und die Aufmerksamkeit des Hageren auf sich zu ziehen.
»Nimm den Sack, schnell!«, zischte der Zinta hinter ihm. »Wenn du dir Ärger einhandelst, bekommen wir alle nichts zu essen.«
Der junge Riese bückte sich und schleppte den schweren Sandsack zum Deich, und auch er vermied es, das dürre Männlein mit einem Blick aus seinen zornigen Augen herauszufordern. Die Wut begann bereits in ihm zu kochen, aber immer noch hatte er sich in der Gewalt.
Gegen Mittag gab es einen dünnen Getreidebrei, dem weder Salz noch Honig beigefügt worden waren. Danach arbeiteten sie bis zum Abend. Bei Anbruch der Dunkelheit wurden sie in einem Schuppen eingeschlossen, in dem sie sich aus Haufen von Stroh ihre Nachtlager bereiten konnten.
»Sag mir deinen Namen, Bruder«, forderte Sorayn den Zinta auf, neben dem er sich einen Platz im Stroh wählte.
»Ich bin nicht dein Bruder. Schweig still. Wenn der Wachsoldat draußen hört, dass wir reden, bekommt jeder einen Schlag auf den Rücken.«
»Jeder?«
»Jeder. Hast du es noch nicht begriffen? Wir werden immer alle bestraft.«
»Welches dunkle Herz hat sich dies alles ausgedacht«, flüsterte Sorayn. »Und doch bin ich dein Bruder. Ich suche Maja, meine Frau, eine Zinta.«
Der andere sog scharf die Luft ein.
»Der Name sagt dir etwas? Ich kann kaum glauben, dass ihr die Namen von allen aus den vielen Sippen kennt.«
»Manche Namen«, flüsterte der Ziehende, »kennt jeder von uns. Jetzt weiß ich, wer du bist. Aber das ändert überhaupt nichts. Du gehörst nicht zu meinem Volk. Du hast gegen Remanaine gekämpft, und der ist einer von uns.«
»Ich bin nicht sein Feind. Wenn du so vieles weißt, solltest du auch das wissen.«
»Schweig endlich still! Wenn du nur ein Quäntchen Mitgefühl hast, sprich nicht so viel mit mir. Denn falls du doch daran denkst zu fliehen, möchte ich ungern derjenige sein, den sie umbringen.« Der Zinta drehte ihm demonstrativ den Rücken zu, doch vielleicht spürte er Sorayns bohrenden Blick, denn er seufzte leise und erzählte so leise, dass er kaum zu verstehen war, von der letzten Flucht.
»Das war einer, der den Fürsten irgendwie beleidigt hatte. Hatte ihn einen Banditen genannt und wurde dafür hier zu uns geschickt. Der Mann hielt sich für besonders mutig, so wie du, und hat sich gewundert, warum wir gehorchen, warum keiner sich traut, wegzulaufen. Ihm waren die anderen gleichgültig, er hat mit kaum jemand geredet. Mit mir ein paar Mal, mit einem anderen Kerl zuweilen. Als er geflohen ist, haben die Soldaten den anderen Gefangenen ausgewählt. Sie hätten auch mich nehmen können, weißt du? Aber ich hatte Glück.«
»Wie ist er gestorben?« Nur noch das eine wollte er wissen.
»Zu Tode geprügelt haben sie ihn. Hier vor uns allen. Sogar das Kind musste zusehen.«
Sorayn starrte in die Dunkelheit.
»Frag mich nicht nach meinem Namen. Sonst rufst du mich damit und sie denken, ich wäre dein Freund. Fragen kannst du mich, wenn du dich damit abgefunden hast, dass du hier bist. Für immer.«
»Ich bin nicht hergekommen, um zu bleiben.«
Der Zinta antwortete ihm nicht. Und der Riesenprinz lag lange Zeit da und spürte die schwere Müdigkeit in seinen Knochen, das ungeduldige Knurren seines Magens, und die Wut, die in seinem Herzen aufbrannte und seinen ganzen Körper in Flammen stehen ließ.
Mehrere Tage, während er Sandsäcke schleppte, sich mit dem schlechten Essen zufriedengeben musste und sein Hunger immer größer wurde, grübelte er darüber nach, wie er der ganzen Gruppe zur Freiheit verhelfen konnte. Der junge Zinta versuchte eine Weile, den Neuen mit ausdauerndem Schweigen dazu zu bewegen, seine Gedanken für sich zu behalten, aber schließlich zermürbten ihn die hartnäckigen Fragen und er wandte sich seinem unbelehrbaren Mitgefangenen ärgerlich zu.
»Was glaubst du, wie es für den Aufseher aussieht, wenn du pausenlos auf mich einredest? Als würdest du versuchen, mich zu etwas zu bringen, was ich nicht will. Was das wohl sein könnte?«
»Und er hätte recht«, sagte Sorayn. »Natürlich möchte ich, dass du fliehst. Ich will, dass wir alle gemeinsam die Flucht wagen.«
»Vergiss es.«
»Warum? Nur so können wir verhindern, dass jemand stirbt.«
»Sie werden nicht mitkommen. Wohin auch? Wohin würdest du sie führen?«
»Wo es besser ist.«
»Ach, und wo soll das sein?«
»Ich weiß nicht. Auf meinem Weg mit der Sippe sind wir durch viele schöne Gegenden gekommen.«
Sie waren beide lauter geworden. Hastig senkte der erfahrenere Arbeiter die Stimme. »Und dort willst du diese Leute hinbringen? Von denen einige so alt sind, dass sie kaum gehen können? Während uns vierzig Soldaten auf den Fersen sind, beritten und bewaffnet?«
»Wir nehmen die Pferde.«
»Ach, dass ich darauf nicht gekommen bin! Natürlich, wir nehmen die Pferde. Abgesehen davon, dass manche von diesen armen Leuten noch nie geritten sind, ist das ja kein Problem. Wir reiten einfach fort. Falls wir an der Landesgrenze aufgehalten werden, lässt man uns bestimmt einfach durch, wenn wir erklären, was wir wollen. Und irgendwann kommen wir in einem Land an, in dem alle freundlich sind und wo es nichts ausmacht, dass wir nichts besitzen und manche alt und krank sind. Wo man uns Häuser zur Verfügung stellt und wir Brot satt zu essen haben. Vielleicht auch noch Braten und Wein?« Er stieß die Silben hervor, kaum fähig zu sprechen, den schweren Sack auf dem Rücken, aber er war jetzt in Fahrt und hörte nicht auf.




