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Die See lag erstaunlich ruhig vor ihm, als hätte sie sich langsam vom letzten Sturm erholt und atmete tief durch, bevor das nächste Unwetter heraufzog. Noch ließen sich am Himmel keine Wolken blicken und der Wind war zwar frisch, aber nicht sehr stark. Das Meer, das er seit seiner Kindheit kannte, war unberechenbarer geworden und blieb doch vertraut. Als Blitz ins Boot stieg, wusste er, dass sich die Wetterlage innerhalb kürzester Zeit ändern konnte, doch er zögerte keinen Moment. Dies war seine einzige Gelegenheit zur Flucht. Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Das Festland war nicht weit, aber ohne die Strömung, auf die er sich stets verlassen hatte, war nicht gewiss, wo er ankommen würde. Die Flut sollte ihn in Küstennähe tragen. Doch auf dieses unruhige, unwillige Meer war kein Verlass. Wie friedlich es tat, seine wilde, unbezähmbare Freundin! Launisch, mutwillig, vielleicht in der Stimmung, ihn zu verschlingen, vielleicht willens, ihm zu helfen. Wer konnte das wissen? Aber hier war das Boot. Hier war er, bereit, dem Tod erneut ein Schnippchen zu schlagen. Alles andere ging ihn nichts an; es würde kommen, wie es kommen musste.
Wieder einmal gab er sich ganz in die Hände des Riesen.
Glänzende Tropfen perlten von dem behelfsmäßigen Paddel. Die Sonne küsste seine trockenen Lippen. Als er um die Insel herumruderte, sah er noch einmal hoch zu Tineks und Wikants schwarzem Schloss auf der Spitze der Felsnadel. Dort, über dem Donnern der Brandung, war sein Gefängnis gewesen. Bitterkeit über die verlorenen Jahre wollte ihn erfüllen, stand schon bereit wie ein grimmiger Soldat in voller Rüstung, um in der Kammer seines Herzens wild mit der Lanze um sich zu stechen.
»Nicht verloren«, stieß er hervor, »nein, das nicht. Dort habe ich gelebt wie ein Prinz in einem Schloss. Wie ein Matrose auf seinem Schiff. Wie ein Einsiedler im Wald. Ich habe kein einziges Jahr verloren.« Und zugleich kam der Ruf aus seinem Mund: »Hilf mir. Oh Rin, bitte, hör mich an. Ich fürchte mich davor, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Lass mich nicht verloren sein. Ich wünsche mir, dass kein Tag meines Lebens vergeudet war.«
Konnte er nicht einmal einen Gedanken denken, ohne dabei um Hilfe zu bitten? Er schloss für einen Moment die Augen, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, den Wind, das Meer.
Lass mich nicht verloren sein …
Glück füllte sein Herz. Er war frei. Was brauchte er mehr als das – frei zu sein und ein Boot zu besitzen? Was scherten ihn der Hunger, die Nadelstiche der Kälte, die nassen Füße?
Erschrocken blickte er nach unten, wo eine Pfütze sich um seine Füße ausbreitete. Ein Leck! Die Reparatur hatte nur kurz gehalten. Immer schneller drang das Wasser durch den Riss. Und dabei war das Land schon zu sehen! Dort hinten – fern und noch leicht verschwommen, die sanften Erhebungen der Küste von Drian. Es durfte nicht wahr sein!
»Was machst du, Rin?«, fuhr er auf, während er verzweifelt Wasser schöpfte, hastig, mit bloßen Händen, ein Kampf gegen einen übermächtigen Feind. »Was tust du denn? Warum nimmst du mir dieses Wunder wieder weg? Rin! Rin!«
Rin antwortete nicht. Er antwortete nie, immer blieb er unsichtbar, immer einen Schritt hinter ihm oder vor ihm, immer lag dieses wissende Lächeln in der Luft.
»Tu das nicht! Oh nein, nicht jetzt, nicht jetzt!«
So schnell, wie das Wasser stieg, konnte er nicht schöpfen. Hier, mitten im Wasser, hier versagte der Kahn, hier, zwischen der Insel und dem Kaiserreich, musste er untergehen? Blitz konnte nur noch zusehen, wie das Meer sich lachend über das winzige Gefährt hermachte und es mit gierigen Zähnen herunterschluckte. Ihn ließ es übrig, als sei er eine Gräte, ungenießbar. Oder als sei er ein besonderer Leckerbissen, den es sich noch aufsparte. Denn entkommen lassen würde es ihn nicht. Von hier aus war es unmöglich, das Land schwimmend zu erreichen, er wusste das, und doch schwamm er los.
So lange ich kann. Ein Schwimmstoß und noch einer. Langsamer. Während das finstere Wasser meine Kleidung tränkt und die Tiefe mich ruft. Ist es dein Ruf, Rin, zu dir? Hältst du deine Hände unter mir, ausgebreitet, um mich zu dir zu holen?
»Noch nicht!«, rief er, doch eine große Woge schwappte über ihn und erstickte seinen Ruf.
Zu dir. Er konnte es fühlen, Rin war da. Ein Riese, größer als alles, ein Riese mit einem Lächeln. Fast konnte er es sehen. Fast konnte er seinen Atem auf der Stirn spüren und die großen warmen Hände.
Hab keine Angst.
Fast hätte Blitz gelacht. Während er mit den Wellen kämpfte und keinen Augenblick nachließ, war es doch so, als würde er nicht im kalten Wasser um sein Leben ringen, sondern als würden ihn die Hände des Riesen über die Untiefen hinwegtragen. Er atmete Wasser ein, hustete und spuckte und würgte, und doch glaubte er dieser Stimme, die zu ihm sagte: Gib nicht auf. Hab Mut. Sei stark. Fürchte dich nicht.
Wie war es möglich, sich gleichzeitig der Kraft des Riesen zu überlassen und weiterzumachen? Trotz Kälte und Schwere unermüdlich Arme und Beine zu bewegen? Wie konnte er einverstanden sein mit dem, was ihn erwartete, und doch immerzu weiterschwimmen, mit einer Ausdauer, die der eines Riesen gleichkam?
»Ich hab ihn! Na los. Und hepp!«
Arme um seine Schultern. Blitz brauchte eine Weile, bis er begriff, dass die Hände, die ihn gepackt hatten, nicht dem Riesen gehörten, der ihn begleitete, sondern einem Mann, und dass auch die anderen Hände zu fremden Menschen gehörten. Dass das Boot, in das sie ihn zogen, echt war. Und dass das Schiff, zu dem sie ruderten, schon eine ganze Weile in der Nähe gewesen sein musste. Er hatte es nur nicht gesehen.
Erst als sie ihm an Bord geholfen hatten, als er an Deck saß, ein grobes Tuch um die Schultern, und einige Schlucke eines sehr starken und sehr übelschmeckenden Getränks hinuntergekippt hatte, wurde ihm allmählich bewusst, wo er gelandet war. Etwas Vertrautes war an den Gestalten, die ihn umringten, an der Art, wie sie redeten, wie sie aussahen, wie sie lachten. Seeleute hatten immer eine raue Sprache, aber diese hier waren fast zu gut gekleidet für ein solches Schiff, das nicht nach einem Handelsfrachter aussah. Schöne Hemden mit großen Knöpfen, geflochtene Ledergürtel, gefärbte Tücher. Wenn dies ein reiches Kaufmannsschiff gewesen wäre, das gerade besonders gute Geschäfte gemacht hatte, hätte der Kapitän darauf geachtet, dass an Bord alles sauber war, die Galionsfigur neu gestrichen, die Segel geflickt. Doch dieses Schiff wurde schlampig geführt, von Leuten, die lieber tranken, als die Bohlen zu schrubben. Kein nüchterner Kapitän hätte so etwas geduldet. Diese Leute hier waren nicht stolz auf ihr Schiff, und wenn sie es doch waren, dann liebten sie es nicht. Lange genug hatte er unter Räubern gelebt, um zu erkennen, zu welchem Schlag ein Mensch gehörte. Das hier waren unzweifelhaft Piraten. Er musste sich nicht einmal umwenden und zu der schwarzen Flagge hinaufsehen.
»Oh bitte, Rin«, murmelte er. »Musste das wirklich sein?«
Er fühlte immer noch das Lächeln über sich, ein riesiges, gütiges und zudem äußerst amüsiertes Lächeln.
»Kapitän Suresch will dich sehen«, teilte ihm einer der Matrosen mit. Blitz ließ die Decke liegen, obwohl ihm immer noch kalt war, doch eingewickelt wie eine melgianische Pilgerin wollte er nicht vor dem Herrn des Schiffs erscheinen. Dass er kein Hemd trug, keine Schuhe und auch seine Hosen kaum bis zu seinen Waden reichten, würde einen Piraten nicht stören. Falls der Kapitän beschloss, ihn am Leben zu lassen, würde man ihm andere Kleidung geben; falls nicht, spielte es sowieso keine Rolle, was er anhatte. Das Messer, das er im Gürtel trug, nahmen sie ihm nicht ab. Besser für sie, dass sie es nicht versuchten.
Der Anführer der Piraten war ein großer, kräftiger Kerl mit einem Bart, der in seinem Gesicht wucherte wie Unkraut. Er musterte Blitz aus dunklen, halb zusammengekniffenen Augen.
»Schiffbrüchig, eh?«, fragte er. »Und wie, bitteschön, kommst du dazu, mitten im Meer zu schwimmen, ohne ein untergegangenes Schiff weit und breit?«
»Ich hatte ein Boot«, erklärte Blitz.
»Ein Boot? Haben sie dich ausgesetzt? Was hast du ausgefressen? Sag es mir lieber gleich, ich finde es doch heraus.« Suresch ließ seinen Blick über Blitz’ zahlreiche Narben wandern. »Wie heißt du? Von welchem Schiff bist du?«
»Er lügt. Weder die Löwenbiss noch die Greifenklaue sind in diesen Gewässern unterwegs«, warf ein anderer Pirat ein, bevor Blitz überhaupt antworten konnte.
Blitz schenkte dem Sprecher, einem langen, hageren Mann neben dem Kapitän, ein abfälliges Lächeln und legte die Hand ganz ruhig an den Griff seines Messers. »Du nennst mich einen Lügner? Was bist du hier, der Maat? Wenn ich mich einen Lügner schimpfen lasse, dann allerhöchstens vom Kapitän dieses Schiffes.« Wenn man solchen Leuten nicht von vornherein zeigte, dass man keine Angst hatte, war man verloren.
»Warte, du …«
Kapitän Suresch hob die Hand, und der Maat ließ die Fäuste wieder sinken und trat einen Schritt zurück.
»Ich habe nie behauptet, ich wäre von der Löwenbiss oder der Greifenklaue«, sagte Blitz und wunderte sich darüber, wie die Piratenschiffe heutzutage hießen.
»Von welchem Schiff bist du dann?«, verlangte der Kapitän zu wissen.
»Ich bin …«
»Er lügt«, rief der Maat, bevor Blitz zu Ende reden konnte. »Er denkt sich gerade eine Geschichte aus!«
»Mein Name ist Jakebeny.« Seinen eigenen Namen durfte er nicht nennen, nicht, wenn die Gefahr bestand, dass Zukata davon erfuhr, dass er noch am Leben war. Den Namen seines Vaters zu tragen, erfüllte ihn mit einem erhabenen Gefühl des Stolzes. Auch dies war wie ein Schlag in Zukatas Richtung. Sieh her, ich habe schon einen Vater, nach dem ich mich nenne. Nicht du. Niemals du. »Ich bin von der – äh, Riesenfaust.«
»Nie gehört«, knurrte der Maat, doch diesmal scheuchte ihn Suresch mit wenig sanften Worten ganz fort, und trat so nah an Blitz heran, dass dieser seinen stinkenden Atem riechen konnte.
»Ich erkenne Zukatas Auserwählte, wenn ich einen vor mir habe, Jakebeny«, sagte er. »So wie jeder hier. Denkst du, ich wüsste nicht, was ich einem Kaisergänger schuldig bin?«
Blitz sagte nichts dazu. Aber die Narbe an seinem Arm schien aufzubrennen, dieses Zeichen, das ihn für immer mit Zukata verband: das eingebrannte Z und darüber die Krone. Zukata, der Kaiser. Damals hatte der Riesenprinz noch davon geträumt, eines Tages in Kirifas auf dem Thron zu sitzen, und dieses Zeichen, das er allen seinen Gefolgsleuten eingebrannt hatte, war wenig mehr als die Verheißung von Macht und Einfluss und unermesslichem Reichtum gewesen. Schlimmer noch – für jeden, der Zukatas Zeichen, das Mal eines Verbrechers, an sich trug und von Soldaten aufgegriffen wurde, bedeutete es das Todesurteil. Doch nun war Zukata selbst der Herrscher des gesamten Kaiserreichs und das Brandmal verlieh allen seinen Gefolgsleuten die Macht, im Namen des Kaisers Befehle zu erteilen.
Blitz konnte die Narbe nicht ausstehen, doch er hatte nicht die Absicht, den Irrtum des Kapitäns aufzuklären. »Ich kann nicht erklären, wie ich hierher geraten bin«, behauptete er. »Aber ich verlange, bis zum nächsten Hafen mitzufahren.«
»Die Krone ist kaum noch zu erkennen«, bemerkte Suresch. »Du warst ein Mitglied von Zukatas alter Bande, richtig? Du warst von Anfang an dabei?«
»Das stimmt.«
»Und du hast kein Königtum bekommen wie die anderen? Keinen Thron und kein Gut?« Wieder glomm das Misstrauen in den geröteten Augen auf.
»Die letzten Jahre habe ich in einem Schloss gewohnt«, bekannte Blitz freimütig, natürlich ohne zu erwähnen, dass er dort in einem winzigen Zimmer hinter einer schweren Tür gelebt hatte, die sich niemals öffnete. »Aber ich habe das Meer vermisst und Schiffsplanken unter meinen Füßen. Sehe ich aus wie jemand, der von goldenen Tellern speist? – Wo ich gerade dabei bin, gibt es vielleicht etwas Essbares an Bord?«
Der Kapitän lächelte breit. »Das gibt es.« Er schlug Blitz auf die Schulter und rief einen Matrosen, der ihn hinunter zur Kombüse führen sollte. Vielleicht fragte Suresch sich, ob der Gerettete ein Kaisergänger war, der in Ungnade gefallen war. Aber solange das nicht erwiesen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden seiner Wünsche zu erfüllen.
Wer so ausgehungert war wie Blitz, hatte nur einen Wunsch.
Er war auf der Adlerschwinge gelandet, einem Schiff, das die westlichen Gestade abfuhr, um Handelsschiffe zu »begleiten« und den dafür fälligen Zoll einzuziehen. Ihr Kurs führte sie nordwärts, um die Insel der Amazonen herum, in Richtung Sandart. Kapitän Suresch fürchtete, Blitz könnte einen Auftrag haben, der sie dazu zwang, seinetwegen einen Umweg zu machen. Die Piraten mussten in den Norden, bevor die Zeit der Stürme begann, hatte er dem Geretteten erklärt und ihn dabei angefunkelt, als könnte ein einziger Blick genügen, um einen Kaisergänger dazu zu bringen, klein beizugeben. Blitz musste sich so schnell wie möglich etwas Glaubwürdiges einfallen lassen. Er wollte den Gehorsam des Freibeuters gegenüber Zukata nicht auf die Probe stellen und noch einmal die Frage aufwerfen, warum er nicht in seidenen Gewändern auf einem Königs- oder Fürstenthron saß, sondern in abgerissenen Lumpen im Meer getrieben war. Deshalb dachte er sich schnell etwas aus, das mit Sureschs Plänen beeindruckend gut zusammenpasste.
»Ihr könnt mich auf der Insel der Amazonen absetzen.«
»Für den Kaisergänger fahre ich ans Ende der Welt«, meinte Suresch großspurig und beäugte seinen Gast eindringlich.
»Im Ernst«, meinte Blitz und schaute über seine Schulter, als befürchtete er, sie könnten belauscht werden. »Die Insel ist mein Ziel. Ich habe dort – etwas zu tun.«
»Du, ein Mann, auf der Insel der Amazonen?«
Auf jeden Fall klang es geheimnisvoll genug. Nicht einmal der Kapitän eines Piratenschiffs würde darauf bestehen, alles über den Auftrag eines Kaisergängers zu erfahren. Suresch nickte und ließ ihn zufrieden. Und Blitz atmete auf. Die Amazonen kannten ihn; wenn er irgendwo Hilfe bekommen konnte, dann dort.
In der Zwischenzeit machte er sich an Bord der Adlerschwinge nützlich. Die Piraten hatten schon am ersten Tag den Seemann in ihm erkannt und hielten ihn für einen Freibeuter wie sie – welcher ehrliche Matrose hätte jemals Zukatas Zeichen getragen? Befriedigt nahmen sie zur Kenntnis, dass er sich nicht wie ein großer Herr aufführte, der in seiner Kajüte saß und sich bedienen ließ. All das hätte ihm zugestanden, aber seine Hände sehnten sich nach dem glatt polierten Holz der Planken, nach Tauen und Segeltuch unter seinen Händen. Der Wind brachte den Geruch von Salz und Tang mit. Über ihnen kreiste ein Möwenschwarm und wartete darauf, an ihrer Beute teilzuhaben. Der Ruf der Vögel war Musik in seinen Ohren. Das Rauschen der Wellen, das Knarren des Holzes, das Knattern und Schlagen der Segel – all das gehörte so sehr zu seinem Leben, dass Blitz sogar hier, inmitten von Verbrechern, das Glück fand. Er ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken, wenn sie mit ihren Raubzügen prahlten, mit den Grausamkeiten, die sie begangen, und den Reichtümern, die sie errungen hatten. Ein wenig war es wie damals, als er unter die Räuber gefallen war und mit Männern aß, die eben von einem Mord nach Hause gekommen waren. Er hörte zu und seine Augen schienen ein wenig dunkler zu werden, und er lachte nicht mit, wenn sie grölten, aber er zuckte nicht zurück. Niemals wurde das Entsetzen in seinem Gesicht sichtbar. Manchmal lächelte er, als würde er träumen, aber sie sollten nicht erfahren, was er dachte.
»He, und du, Beny?« Einer schlug ihm auf die Schultern. »Erzähl! Was hast du gemacht, zusammen mit Zukata?«
»Du könntest uns Geschichten erzählen, wie?«
In ihren Gesichtern lag die Erwartung, etwas von seinen Abenteuern zu hören zu bekommen, so dass sie damit prahlen konnten. Einer von Zukatas Männern, ja, und er war auf unserem Schiff. Mit uns hat er zusammengesessen und geredet und man hat nicht gemerkt, dass er sich für was Besseres hält. Unser Kumpel ist er geworden, vielleicht wird er sogar Zukata von uns berichten …
»Wir haben viel miteinander erlebt«, sagte Blitz vorsichtig, und ihnen musste es so scheinen, als wüsste er nicht, wie viel er verraten durfte. Von einem Zukata, den man nahe bei sich hatte, einem Zukata zum Anfassen, noch nicht der ferne Kaiser auf dem hohen Thron. »Einmal haben mich die Soldaten erwischt und man wollte mich schon hängen. Und da, Zukata, mit bloßen Händen hat er eine Schneise durch die Wachen geschlagen, mitten im Hof der Fürstenburg, vor allen Leuten!«
Jede Geschichte, die er preisgab, kehrte zu ihm zurück. Oder vielleicht kehrte er zu der Geschichte zurück, zu jenem Ereignis, zu einer Zeit, in der er so unglaublich jung gewesen war und es kaum vermocht hatte, sich gegen einen Mann zu wehren, der sein Herr und sein Vater sein wollte. Die Münder der Piraten standen offen, während er ihnen den gewaltigen Riesen vor Augen malte, einen Zukata, der wie ein Sturm durch die Wälder fegte und alles mitriss, was sich ihm in den Weg stellte.
Blitz lächelte. Und vielleicht spürten sie da, dass er keiner von ihnen war, dass er jemandem gehörte, den sie nie gesehen hatten, und dass er, auch wenn er in ihrer Mitte arbeitete, immer jemand sein würde, dem Zukata seine Zuneigung und sein Vertrauen und sein Zeichen geschenkt hatte und vielleicht auch noch ein Fürstentum oder ein Schloss. Wenn er von dem Herrn des Kaiserreichs sprach, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung und Schrecken – er brauchte sich nicht zu verstellen, denn all dies war in ihm –, fühlten sie sich seltsam berührt und nickten. Nur eine Andeutung, dass er Zukata hintergangen hatte, bloß ein kleiner Hinweis darauf, dass dieser nur zufrieden sein würde, wenn Blitz irgendwann tot zu seinen Füßen lag, und sie hätten ihn in Stücke gerissen.
Je weiter sie nach Norden kamen, um so unmöglicher schien ihr Vorhaben, Sandart zu erreichen. Der Wind pustete ihnen nicht mehr bloß Salzgeruch ins Gesicht, sondern peitschte die Wellen so hoch auf, dass das Deck ständig überspült wurde. Die Wolken schienen mit dem Meer zu verschmelzen, so tief hatten sie sich über die weite See geduckt, und die Adlerschwinge kämpfte sich durch einen grauschwarzen Hexenkessel aus peitschendem, spritzendem, allgegenwärtigem Wasser.
»Ich kann die Insel nicht anlaufen!«, brüllte Kapitän Suresch durch das Tosen und Brüllen des Sturms hindurch. »Wir würden an den Klippen zerschellen!«
»Was tun wir dann?«, schrie Blitz zurück.
Die Antwort des Kapitäns konnte er nicht mehr hören. Eine Woge schleuderte ihn gegen den Mast. Krampfhaft hielt Blitz sich fest, während der Bug des Schiffes sich in den nächsten Wellenberg bohrte.
»Noch nicht, Rin!«, rief er in das Heulen des Orkans hinein. »Noch nicht!« Der Wind riss ihm die Stimme vom Mund und trug sie hinaus in das wirbelnde Schwarz.
2. Der Silberne Krug und eine Kette aus Eisen
D E RJ U N G EM A N Nauf der Lichtung schien so fest zu schlafen, als gäbe es nichts Böses auf der Welt. Sein Pferd, ein langbeiniger Brauner mit schwarzer Mähne, rupfte gemächlich die hohen Halme ab, so weit der Strick an seinem Halfter es zuließ. Als das Mädchen zwischen den Bäumen hervortrat, stutzte der Hengst nur kurz und ließ sich nicht weiter beim Grasen stören.
Der Schläfer lag auf dem Rücken, den Kopf auf einen aus grobem Stoff genähten Reisesack gebettet. Sein blondes Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn. Manina lächelte unwillkürlich. Die Spätsommersonne schien ihm voll ins Gesicht; wenn er nicht bald aufwachte, würde er sich einen schlimmen Sonnenbrand holen. Wahrscheinlich schlief er hier schon länger, als er beabsichtigt hatte. Das hieß, dass er sehr müde gewesen war, als er hier angekommen war, und es nicht einmal mehr bis ins Dorf geschafft hatte, wo es im Silbernen Krug alles gegeben hätte, was Reisende benötigten, um sich zu erfrischen und gut zu erholen. Sie betrachtete ihn und überlegte, von wo er wohl kommen mochte, aus welchem der vierundzwanzig Königreiche Deret-Aifs.
Der Fremde öffnete die Augen und blickte sie verträumt an. Er gähnte, wischte sich die Haare aus der Stirn und setzte sich auf.
»Was für ein wunderschöner Traum«, sagte er. »Oder bist du wirklich?«
Die junge Prinzessin lachte. »Ganz wirklich«, versicherte sie. Seine Stimme war ebenso angenehm wie sein Äußeres. Und ja, auch sie hatte das Gefühl, dass diese Begegnung nicht wirklich stattfand. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass hier, auf dem Weg ins Gasthaus, in dem sie arbeitete, etwas passierte, das ihr Leben von Grund auf änderte. Sie musste nur das staunende Lächeln in seinem attraktiven Gesicht erwidern, in seine ernsten grauen Augen blicken, um zu wissen, dass nichts mehr so war wie zuvor.
Solche Dinge passierten sonst immer nur anderen. Wenn Maja davon erzählte, wie sie auf einer Lichtung ihren tot geglaubten Brieffreund getroffen hatte, senkte die ehemalige Kaiserin manchmal traurig den Kopf. Und kam doch ständig darauf zurück. Sie konnte nicht anders, als immer wieder zu fragen: Wie war es? Wie war dieser Moment, als du ihn erkannt hast? Als du wusstest, dass es Sorayn war?
Aber ihr selbst begegnete niemand, den sie hätte lieben können. Früher war sie davon ausgegangen, dass sie eine Verbindung zum Wohle des Kaiserreichs würde eingehen müssen, dass irgendein König oder Prinz eines Tages neben ihr auf dem Thron saß und mit ihr regierte; eine Aussicht, die damals nicht einmal schmerzte oder ihr Angst einjagte, so selbstverständlich war eine Pflichtheirat, wenn man im Schloss von Kirifas lebte. Doch nun war sie an diesem sonnigen Tag einem Reisenden begegnet, und nun hatte auch sie endlich eine Geschichte, in der eine Lichtung eine Rolle spielte.
»Da hinten«, sagte sie und wies nach Norden, »dort ist das nächste Dorf.« Und dann, sie wusste selbst nicht, warum, ergriff sie die Flucht. Sie eilte an seinem Pferd vorbei, über das hohe Gras zum Pfad, der durch den Wald führte, und sah sich nicht einmal um. Als sie losrannte, verwünschte sie ihre Feigheit. Hatte sie nicht mit Königen und Fürsten gesprochen, Heerführern und Würdenträgern befohlen, zu jener Zeit, als sie noch die Kaiserin von ganz Deret-Aif gewesen war? Aber jetzt lief sie vor einem blonden Fremden davon, der ihr schläfrig in die Augen geblickt hatte, floh vor dieser Lichtung und vor der Geschichte, die dort vielleicht begonnen hatte und genauso schnell wieder zu Ende sein konnte, direkt in Tamaits und Majas Arme.
Das Geschwisterpaar kam ihr bereits entgegen. Beide merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, dass etwas geschehen war – und war heute nicht wirklich alles anders als gestern? Hatte sich nicht die ganze Welt verwandelt, zu einer neuen Welt, in der er lebte?
»Hat dir jemand etwas getan?«, rief Maja erschrocken. »Wirst du verfolgt?«
»Nein, nein. Bloß weiter, schnell.« Hastig zog sie ihre Freunde in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. »Ich will nur nicht … ach, vergesst es.«
»Du bist spät dran«, sagte Tamait. »Stollo hat uns losgeschickt, um nach dir zu sehen.«
»Euch beide? Das sieht ihm gar nicht ähnlich.« Stollo, der Wirt des Silbernen Kruges, verzichtete nur äußerst ungern auf eine Arbeitskraft.
»Er wollte, dass ich dableibe«, gab Maja zu, »aber ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Was ist nur passiert, Manina? Du verspätest dich doch sonst nie.«
Das kleine Haus im Wald, in dem die drei lebten – mehr eine baufällige Hütte als ein richtiges Haus –, lag nur wenige hundert Meter von der Gastwirtschaft entfernt, in der sie alle Arbeit gefunden hatten. Tamait kümmerte sich um die Pferde der Gäste, Maja unterhielt sie mit ihrem Flötenspiel, wenn nicht allzu viel zu tun war, und Manina half in der Küche. Es war anstrengend und schmutzig. Nichts für jemanden, der zimperlich und wehleidig war, und manchmal schüttete das blonde Mädchen seinen Freunden weinend das Herz aus. Aber sie gab nicht auf; obwohl sie behütet und verzärtelt aufgewachsen war, fand sie in sich eine Kraft, die sie selbst erstaunte.
»Nun sag schon«, bohrte Tamait, doch Maja schüttelte den Kopf.
»Lass sie in Ruhe«, befahl sie ihrem Bruder. Sie waren nicht blutsverwandt, doch sie hatten fast ihr ganzes Leben in dem Glauben verbracht, sie wären es. Niemand, der sie zusammen sah, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht Bruder und Schwester waren, so hatte sich alles zwischen ihnen eingespielt, und da sie beide schwarzhaarig waren und ihre gebräunte Haut in einem satten Bronzeton schimmerte, war die Ähnlichkeit nahezu vollkommen.




