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Als das Gasthaus vor ihnen auftauchte – ein langgestrecktes Holzhaus mit einer bunt gestrichenen Tür –, zögerte Manina und blieb stehen. »Ich kann heute nicht arbeiten«, erklärte sie.
»Und warum nicht?«, fragte Tamait.
Stollo erschien auf der Schwelle. »Wo bleibt ihr denn? Marsch, marsch! Soll das Essen sich heute alleine kochen? Muss ich euch alle auf der Stelle fortjagen? Ich mach’s, glaubt mir, das ist genau das, was ich machen werde, wenn ihr nicht endlich herkommt und das tut, wofür ihr bezahlt werdet!«
Maja warf ihm heimlich einen bösen Blick zu. »Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte es diesem Sklavenantreiber sagen.«
»Das tust du nicht!«, rief Manina. »Und außerdem – ich bin nichts Besonderes mehr. Wen kümmert es, was ich war? Niemanden. Also lassen wir alles einfach so, wie es ist.«
»Da bin ich mir nicht sicher, dass es niemanden kümmert«, murmelte die junge Frau. Sie schob Manina, die sich immer noch ein wenig sträubte, in Richtung Hintereingang, wo lautes Scheppern verriet, dass jemand seine schlechte Laune an Töpfen und Pfannen ausließ. »Lass dich von Tamait nicht zwingen, etwas preiszugeben, was du für dich behalten willst«, riet sie der blonden Prinzessin.
Manina blieb stehen. »Da war ein Mann auf der Lichtung«, berichtete sie.
»Hat er dich erschreckt?«, fragte Maja alarmiert. »Hat er versucht … Bei Rin, wir sollten dich nicht allein lassen! Wollten wir nicht immer darauf achten, dass du in unserer Nähe bist?«
Maninas Augen glänzten, Röte überzog ihre Wangen. »Nein«, beruhigte sie ihre Freundin, »nein, er schlief … Ich bin einfach nur … ich stand da und habe ihn die ganze Zeit nur angeschaut …«
»Meine Güte«, entfuhr es Maja. Neugierig fügte sie hinzu: »Und dann? Ist er aufgewacht?«
»Ja, ist er. Und ich … ich weiß auch nicht, warum, aber ich konnte nicht dableiben. Was mache ich bloß, wenn er hierher kommt? Ich Dummkopf habe ihm auch noch gesagt, in welcher Richtung der Silberne Krug liegt! Was ist, wenn er drinnen sitzt? Wenn ich ihm das Essen bringen muss? Maja, bitte hilf mir, das kann ich einfach nicht!«
Stollos leuchtend rotes Gesicht erschien am Hinterausgang. »Mädels!«, schrie er. »Das Haus ist voll!«
»Wir kommen«, versprach Maja. »Mach mich nicht wütend, sonst spiele ich ein Lied, das deine Gäste so aufregt, dass sie dich mit Krügen und Tellern bewerfen!«
»Alles nur Gerede«, brummte der Wirt und verschwand wieder.
Die dunkelhaarige junge Frau lächelte aufmunternd. »Und was wäre, wenn er den Silbernen Krug nicht beehrt? Wenn du ihn nie wiedersiehst? Wäre das nicht noch schlimmer? – Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Stollo merkt, wie unentbehrlich wir für ihn sind. Aber wenn dieser geheimnisvolle Fremde kommt, zeigst du ihn mir, ja? Ich muss doch wissen, wer es schafft, der unnahbaren Manina den Kopf zu verdrehen.«
Sie betraten die Küche, in der ein magerer, pickliger Junge lustlos in einem großen Topf herumrührte. Maja krempelte die Ärmel auf. »Aus dem Weg!« Sie scheuchte Stollos gänzlich zur Küchenarbeit unfähigen Sohn vom Herd fort. »Wir haben Gäste, die hungrig sind.« Sie tauchte einen Löffel in die Suppe und verzog das Gesicht. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es nichts bringt, zu viel Salz zu nehmen? Die Leute trinken deshalb nicht mehr, sie werden bloß ärgerlich. Hier, nimm den Eimer, du holst jetzt Wasser. Diese Brühe müssen wir verdünnen.« Sie zwinkerte Manina zu, die sich gerade die Schürze umband und ein großes Tablett mit Tellern und Krügen belud. Silbern war keiner davon.
Tausend Gedanken gingen Maja durch den Kopf. Vergiss nicht, wer du bist, Prinzessin Manina. Wähle den Richtigen und wir könnten versuchen, Zukata vom Thron zu stürzen.
Ohne Sorayn.
Sie zwang sich, nicht an Sorayn zu denken. An den Mann, dem sie auf einer lichtüberfluteten Wiese begegnet war, den sie vor einem Bären retten wollte, und dabei hatte sie sich selbst rettungslos verloren, an eine Liebe zu einem Betrüger. Sie hatte sich ihm verbunden, hatte den Bund der Ehe mit ihm geschlossen, glücklich bis zum Zerspringen, bis sie herausgefunden hatte, dass sie ihm nur als Mittel zum Zweck diente, denn ihm war es nur um den Thron von Deret-Aif gegangen. Für Sorayn hatte Manina den Kaiserthron geräumt, hatte sich wie sie alle von seinem Charme bezaubern und von seiner unglaublichen Autorität überwältigen lassen – nur um zu merken, dass die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Pläne durchsetzte, mindestens ebenso groß war. Und doch war Zukata nun Kaiser, obwohl Sorayn versprochen hatte, dass es niemals dazu kommen würde. Was wirklich geschehen war, wusste niemand. Maja hatte Sorayn nicht mehr gesehen, seit sie erschrocken, weinend und wütend von einem blutigen Schlachtfeld geflohen war, auf dem Sorayn und seine Riesen sich ausgetobt hatten. Seit knapp einem Jahr lebte sie nun mit Tamait und Manina in diesem Dorf im Königreich Laring und versuchte, das alles zu vergessen. Vielleicht war ihr Ehemann tot. Vielleicht war es nicht seine Schuld, dass Zukata gewonnen hatte, vielleicht hatte er sich überschätzt und war von seinem Großvater umgebracht worden, bevor er sein ehrgeiziges Ziel erreichen konnte. Sorayn war tot oder er hatte sich, nachdem alles fehlgeschlagen war, einfach aus dem Staub gemacht. Wer konnte es wissen? Besser, sie vergaß ihn. Besser, nicht mehr an die blauen Augen zu denken, die unter den langen, schwarzen Wimpern hervorstrahlten. An sein dichtes schwarzes Haar, seine Haut, an das Glück jener ersten herrlichen Tage, als sie noch geglaubt hatte, es würde nie, niemals enden …
Sie durfte nicht träumen, nichts bedauern, sondern musste sich auf das konzentrieren, was jetzt anstand. Die Suppe. Nein, verdirb sie nicht. Wenn Stollo uns hinauswirft, müssen wir dieses Dorf verlassen und uns etwas anderes suchen. Und Manina will hier nicht weg.
Am Anfang waren sie gemeinsam mit den Zintas in einem bunten Wagen gefahren, doch der ehemaligen Kaiserin gefiel diese Art von Leben überhaupt nicht. Manina sehnte sich nach einem Ort, an dem sie bleiben konnte; ihr gab das Leben der Ziehenden das Gefühl, auf der Flucht zu sein. Deshalb waren sie schließlich hergekommen, im vorigen Jahr, damals noch mit Mino, ihrer Mutter, und deren unzertrennlichen Freunden Jamai und Kroa. Diese drei hielten es nicht aus in dem winzigen Dorf. Die Straße lockte sie, der Wald rief sie, und irgendwann hatte Mino gefragt, ob es sehr schlimm sei, wenn sie gingen.
»Geht ruhig«, hatte Maja geantwortet. »Ich bin schon groß, nicht?«
»Wegen dir mache ich mir keine Sorgen«, hatte Mino gemeint. »Du kannst auf dich aufpassen. Aber Manina. Sie hier allein zu lassen …«
Es gab der jungen Zinta einen leichten Stich, dass ihre abenteuerlustige Mutter so leicht dazu bereit war, ohne sie weiterzuziehen. Dass sie sich bloß um die Prinzessin sorgte.
»Sie ist keine Kaiserin mehr«, hatte sie eingewandt.
»Jemand wie sie kann nicht einfach Schankmädchen spielen und glauben, sie wäre ein Mensch wie alle. Zukata könnte sie immer noch als Bedrohung empfinden. Vergiss nicht, er war schon einmal bereit, sie zu töten. Falls er sie je in der Reihe seiner Gegner vermutet … und bei Zukata reicht schon, dass er sich vorstellt, sie könnte ihm im Weg stehen … Du weißt, was ich damit sagen will. Niemand darf wissen, wer sie ist. Sie braucht einen neuen Namen. Keiner darf auch nur etwas ahnen. Die richtige Verbindung – vielleicht mit dem König von Wenz – könnte aus ihr eine ernst zu nehmende Gegenspielerin für Zukata machen. Viele Leute wären auf ihrer Seite. Alle, die genug von den Riesen haben.«
An dieses Gespräch dachte Maja jetzt, während sie versuchte, das versalzene Gebräu, das Stollos mürrischer Sprössling in dem Kessel angerührt hatte, in eine halbwegs genießbare Speise zu verwandeln.
König Oka von Wenz hatte Zukata öffentlich die Gefolgschaft aufgekündigt und seinen Austritt aus dem Kaiserreich erklärt. Ein wahnsinniges Unterfangen, das natürlich keinen Erfolg haben konnte, sondern nur zu weiterem Blutvergießen führen würde. Wenn jedoch Manina sich dazu gesellte und den verwitweten König ehelichte, würde diese Rebellion auf einen Schlag ein ganz anderes Gewicht erhalten. Andere Königreiche würden sich ihnen anschließen. Das Reich würde zerfallen, und irgendwann würde selbst Zukata die Lawine, die auf ihn zurollte, nicht mehr aufhalten können.
Was für eine unglaubliche Verschwendung, wenn Manina ihr Herz einem dahergelaufenen Reisenden schenkte, nur weil sie beobachtet hatte, wie die Sonne auf sein Gesicht fiel! Andererseits war das vielleicht das Leben, das sich die junge Frau wirklich wünschte. Ein Leben ohne Kriege, ohne Verhandlungen, Streitereien, die Verantwortung für Tausende … Ein Leben an der Seite des Geliebten, fernab von allem. Dem Krieg konnte man aus dem Weg gehen, wenn man nur wollte. Manina brauchte ihren wirklichen Namen nie wieder auszusprechen, sie konnte einfach tun, was sie wollte, leben, wie es ihr gefiel, sich ihr eigenes Schicksal gestalten. Sicherheit und Glück.
»Er ist da!« Aufgelöst stürmte das verliebte Mädchen in die Küche. »Du musst jetzt rausgehen, ich kann nicht! Er darf mich nicht sehen, nicht so!«
Maja wollte etwas sagen wie: Seit wann schämst du dich, im Gasthaus zu arbeiten? Sonst bist du doch immer so stolz darauf, dass du arbeiten kannst wie jeder andere auch. Aber sie blickte in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin und sah, dass es für kluge Sprüche nicht an der Zeit war. Sie musste aufpassen; am Ende führte diese Geschichte noch dazu, dass Manina ihre Identität preisgab, nur damit ein abgekämpfter Reisender sie nicht bloß für ein einfaches Schankmädchen hielt. Ehemals Kaiserin von Deret-Aif, Königin von Aifa, Erbin des Throns von Kirifas … und immer noch Prinzessin. Immer noch die Tochter des unvergessenen Kanuna El Schattik und Halbschwester von Zukata.
»Dann füll du die Suppe in die Teller. Sie müsste jetzt schmecken, hoffe ich. Wo ist das Brot?« Mit raschen Handbewegungen ordnete sie alles auf dem Servierbrett an. »Und wie erkenne ich deinen Schläfer?«
»Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe«, stammelte Manina.
»Ja, sicher. Wenn es dich schon erwischen muss, dann auch richtig, wie? Wie sieht er aus, für Leute, die nicht völlig von Sinnen sind? Dunkel, groß, oder …?« Musste sie denn immer gleich an Sorayn denken, wenn es um den schönsten Mann der Welt ging? Schäm dich, Maja, rügte sie sich selbst. Das Herz taugt nicht, um jemanden zu beschreiben. Das Herz kann nur sagen: Dies ist er, den ich gewählt habe. Dies ist der, der mich verraten hat.
»Blond«, flüsterte die Kaisertochter. »Er ist blond. Er sitzt da hinten in der Ecke, unter dem schwarzen Balken. Du kannst ihn gar nicht verfehlen.«
Sie lächelte verzagt und ängstlich und doch von einem Glück beseelt, das sich nicht leugnen und verbergen ließ.
»Na, dann wollen wir uns den Auserwählten einmal ansehen«, sagte Maja, hob das schwere Tablett hoch und ging hinaus in die Stube.
Mit überlaufenden Krügen kam Stollo ihr entgegen. »Dort«, er bewegte den Kopf und wies damit in die hintere Ecke des Raumes, »der Mann wartet schon länger. Wo bleibt denn endlich das Essen?«
Maja drängte sich an ihm vorbei, ohne einen Tropfen Suppe zu verschütten. Sie balancierte ihre Last vor sich her durch eine mit gut aufgelegten Holzfällern besetzte Bankreihe. Den blonden Mann unter dem geschwärzten Balken sah sie erst, als sie fast vor ihm stand.
Die heiße Suppe spritzte über ihre Schuhe. Das Servierbrett fiel krachend gegen die Bank, der Teller rollte unter den Tisch. Aber sie stand da und konnte sich einen schrecklichen Moment lang nicht rühren. Als sie endlich an Flucht dachte – zwei, drei Atemzüge zu spät –, als sie sich umwandte und rennen wollte, war er schon bei ihr und packte ihr Handgelenk.
»Nun, Maja«, sagte er, und in der plötzlich entstandenen Stille, in der alle verwundert zu ihnen hinsahen, klang seine Stimme laut und deutlich, »wohin so eilig?«
»Lasst mich los«, zischte sie.
»Ganz recht, Finger weg von meinem Mädchen!«, blaffte Stollo.
Manina erschien an der Verbindungstür zur Küche.
Lass sie begreifen und verschwinden, betete Maja im Stillen, oh Rin, er darf sie nicht sehen …
»Rette sich, wer kann!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Das ist Erion! Erion von Neiara!« Sie wollte Manina zurufen, dass sie fliehen sollte, dass sie so schnell wie möglich Tamait holen und mit ihm fortlaufen musste, aber sie wollte nicht Erions Aufmerksamkeit auf die Prinzessin lenken. Mit Sicherheit war er wegen Manina hier, irgendwie musste er erfahren haben, dass sie hier wohnte. Aber er hatte sie noch nicht erkannt, noch nicht bemerkt …
Mit schreckgeweiteten Augen starrte Manina zu ihnen herüber.
»Auf der Stelle, hab ich gesagt, Finger weg!« Stollo versuchte Maja von dem Angreifer wegzureißen. Sie flog in die Arme des Wirts, als Erion sie plötzlich losließ.
»Sie gehört mir«, erklärte er mit ruhiger, selbstbewusster Stimme, die verriet, dass er es nicht nötig hatte, um seine Beute zu kämpfen. Vielleicht sah er die Mordlust in den Augen des kräftigen Gastwirtes, in den Blicken der Holzfäller, die regelmäßig hier einkehrten, von denen mehrere drohend aufstanden, jedenfalls zögerte er nicht lange, schob seinen Ärmel hoch und zeigte ihnen das Zeichen, das er an seinem Oberarm trug: ein eingebranntes Z, darüber eine Krone. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, wie die Männer zurückwichen.
»Kaisergänger«, sagte Erion stolz. »Unterwegs im Namen des Kaisers. Ihr wisst, was das bedeutet. Ich erkläre diese Frau zu meiner Gefangenen.«
Zögernd öffnete Stollo seine Arme, und nun stand Maja da, auf einmal sehr allein, und wusste kaum noch, wen sie mehr bedauern sollte, sich oder ihn oder Manina.
»Was soll ich denn machen?«, fragte ihr Arbeitgeber leise und verzweifelt. »Ich würde für dich kämpfen, oh ja … Aber ein Kaisergänger?«
»Ist schon gut«, sagte die junge Frau. »Mach dir bloß keine Sorgen um mich.«
Obwohl ein paar Jahre vergangen waren, hätte sie Erion überall wiedererkannt. Die Schlacht um das Schloss von Neiara würde sie nie vergessen. Dort hatte sie mit ihrer Familie und der Kampftruppe ihrer Pflegemutter Alika gekämpft, gegen Erion und die Söldner, die er mitgebracht hatte. Dort an der schmalen Brücke am Abgrund. Sie hatte seinen Befehl zum Rückzug noch im Ohr, und auf immer hatte sich das Bild in sie eingeprägt, wie der schwer verletzte Hauptmann der Feinde versuchte, kriechend die Brücke zu erreichen, bevor sie hochgezogen wurde. Erion hatte keinen Augenblick lang auf ihn gewartet. Nie würde Maja vergessen, wie er als Unterhändler den Abzug seiner Männer vereinbart hatte. An seinen kalten Blick, seine Stimme, bei der ihr heute noch ein Schauder über den Rücken lief, so gefühllos, so leblos war sie ihr vorgekommen.
Manina, diese dumme, verliebte Prinzessin, stand immer noch da. Maja versuchte, nicht zu ihr hinzusehen. Sie musste doch endlich begreifen, in welcher Gefahr sie schwebte!
»Ich suche noch eine Frau«, sagte Erion. »Blond, mit auffällig blauen Augen.«
Unwillkürlich wanderten die Blicke der anderen Gäste zu der hübschen Küchenhilfe. Erion hielt einen Moment mitten in der Bewegung inne, überrascht, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
Galant deutete er eine kleine Verbeugung an. »Ich muss auch Euch bitten, mich zu begleiten. Setzt Euch zu mir, meine Männer werden in Kürze hier eintreffen.«
»Das geht nicht!«, protestierte der Wirt unglücklich. »Meine Köchin und Flötenspielerin … mein Schankmädchen … Wer soll denn die Gäste versorgen?«
»Oh, ich bin sicher, wir werden alle zu gerne dem Flötenspiel der schönen Maid lauschen.« Erion verzog seinen Mund zu etwas, das fast wie ein Lächeln wirkte.
Manina trat vor ihn hin. Sie zwang sich, den Rücken gerade zu halten, den Kopf zu erheben, nicht an sein Gesicht im funkelnden Sonnenlicht zu denken.
»Lasst Maja frei«, sagte sie. »Ich werde mit Euch kommen, wenn Ihr sie hierlasst.«
Erion schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er einfach und zeigte deutlich, dass er nicht näher begründen wollte, welches Interesse er an Maja hatte, nicht hier und nicht jetzt. »Setzt Euch und wartet. Wenn meine Leute da sind, werden sie Euch begleiten, so dass Ihr noch einpacken könnt, was Ihr für die Reise braucht.«
»Die Reise?«, fragte Maja.
»Nach Kirifas«, antwortete er. »Wohin denn sonst. Dorthin, wo Ihr hingehört.«
Maja dachte darüber nach, ob sie aufstehen und rufen sollte: Seht her, das ist Prinzessin Manina, kämpft für sie! Aber niemand würde ihnen helfen, das wusste sie. Kaiser Zukata war nicht beliebt, doch niemand wagte es, sich seinen Kaisergängern zu widersetzen. Jeder, der das Zeichen des einstigen Räuberprinzen trug, durfte in diesem Reich tun, was er wollte, und hatte dabei Anspruch auf blinden Gehorsam.
Kopfschüttelnd drückte sie die Hand ihrer Freundin, als diese sich ergeben zu ihr auf die Bank setzte. Erion nahm ihnen gegenüber Platz und verlangte mit geradezu aufreizender Höflichkeit eine neue Suppe.
»Du hättest verschwinden können«, regte Maja sich auf. »Bei Rin, warum bist du nicht weggerannt?«
»Weshalb hätte ich fliehen sollen?«, gab Manina zurück. »Es gibt nichts, wessen ich mich schämen müsste.«
»Und da ist auch nichts, was Ihr zu fürchten hättet«, warf Erion ein. »Der Kaiser wird Euch in Ehren in seinem Palast empfangen.«
»Tatsächlich?«, fragte Maja.
»Wolltet Ihr nicht Flöte spielen, um die Gäste zu unterhalten?«, fragte er zurück. Das unzufriedene Gemurmel in der Gaststube hatte immer noch nicht aufgehört, zumal Stollo mit dem Bedienen kaum hinterher kam.
Wenn sie es wirklich gekonnt hätte, wäre jetzt die Zeit dafür gewesen, mit ihrem Spiel die Holzfäller so in Wut zu versetzen, dass sie sich auf den Kaisergänger stürzten. Aber die kleine Flöte, nach der ihre Finger tasteten – nirgends ging sie ohne sie hin –, vermochte keine Wunder zu bewirken. Sie ließ ihre Hände wieder sinken.
»Wie habt Ihr uns gefunden?«, wollte sie wissen. »Lässt Zukata ganz Deret-Aif nach Manina durchkämmen?«
»Zukata findet immer, was er sucht«, gab der blonde Mann zur Antwort. Mit einem freundlichen Nicken nahm er den Teller entgegen, den Stollo ihm reichte.
»Ich hoffe, er hat hineingespuckt«, zischte die junge Zinta wütend.
»Oh, ich hoffe nicht«, meinte Erion. »Wer einen Kaisergänger beleidigt, beleidigt den Kaiser selbst.«
Manina saß schweigend daneben, während die beiden miteinander redeten. Maja wurde immer wütender, bis sie schließlich glaubte, an ihren Gefühlen zu ersticken. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie auf ihrer Flöte gespielt, um das, was in ihr brodelte, ins Lied hinauszulassen. Aber ihr Feind hatte sie gebeten zu spielen und sie wollte ihm keinen Gefallen tun. Zu nah war die Erinnerung an den Tag, an dem das Glück gestorben war. Dort auf den geliebten Inseln – der Weininsel, auf der ein blutiger Kampf getobt hatte, und der Apfelinsel, die zerstört zu ihren Füßen lag, als sie siegreich zurückgekehrt waren. Alles hatte das Mädchen verloren, durch Erion und seinen hinterhältigen Onkel Norha. Und nun hatte der Albtraum sie eingeholt, in der Gestalt dieses Mannes, der vor ihren Augen so gesittet speiste wie ein Fürst. Auf ihre Fragen antwortete er stets ausweichend, aber mit unerschütterlicher Gelassenheit. Er wirkte nicht wie jemand, der wütend werden und herumschreien konnte.
»Am meisten«, sagte Maja, »bedaure ich, dass ich Euch die erste Suppe nicht ins Gesicht geschüttet habe.«
»Oh, wie schade wäre das gewesen«, meinte er, »sie ist vorzüglich. Man schmeckt, dass Ihr von den Glücklichen Inseln kommt.«
»Ich habe nie vergessen, woher ich stamme«, sagte sie leise.
»Glaubt Ihr, ich?« Ein hochmütiges Lächeln bog seine Mundwinkel nach oben. »Wo ich doch der König von Neiara bin?«
Kaiser Zukata hatte die Inseln Neiara und Arima zum vierundzwanzigsten Königreich von Deret-Aif erklärt, das wusste sie seit langem, aber nicht, wer darüber regierte. Wie viele Scheußlichkeiten würde dieser Tag denn noch ans Licht bringen? Krampfhaft bemühte sie sich, Erion nicht zu zeigen, wie sehr es sie schmerzte, dass eine der Glücklichen Inseln ihm gehörte.
»Mehr hat Zukata Euch nicht anvertraut? Eine verbrannte Insel und ein schwarzes Schloss? Einen Felsen im Meer?«, höhnte sie, als hätte sie nicht alles dafür gegeben, wieder auf Arima zu sein und das Geld und die Macht zu haben, die Gärten wieder aufzubauen und neue Bäume zu pflanzen. »Mehr wart Ihr ihm nicht wert? Hat er nicht seine dreckigen Räuber zu Königen über Königreiche wie Torn oder Diret gemacht? Auch hier in Laring herrschen jetzt Verbrecher.«
Wenn sie bereit gewesen wäre, irgendetwas an ihrem Gegner bewundernswert zu finden, hätte sie ihm wohl Anerkennung dafür gezollt, wie gut er sein Gesicht in der Gewalt hatte. Nicht die kleinste Regung offenbarte, ob er sich getroffen fühlte, nur ihr Gespür verriet ihr, dass sie in gefährliches Gebiet eindrang.
Maja blieb erspart, mitzuerleben, wie ein dermaßen gefasster und beherrschter Mann wie Erion reagierte, wenn man seinen wunden Punkt gefunden hatte. Die Soldaten, die er versprochen hatte, polterten gerade in die Gaststube, aber ihr Blick wurde von Tamait abgelenkt, der gleichzeitig in der Verbindungstür erschien.
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, als sich ihre Blicke begegneten, als sie das Entsetzen in seinem Gesicht aufflammen sah. Nein. Keta, formten ihre Lippen, lautlos. Hol Keta.
Sie hoffte, dass er nicht so wie Manina einfach wartete oder, noch schlimmer, vorwärtsstürmte, um einen Kampf zu führen, den er nur verlieren konnte. Doch sie hatten genug miteinander durchgemacht; Tamait verstand sie und zog sich wieder zurück, und als die Soldaten ihren Herrn begrüßten und den beiden gefangenen Frauen abschätzende Blicke zuwarfen, war von ihrem Bruder nichts zu sehen.
»Hol Keta«, murmelte Tamait, während er aus einem Gebüsch heraus die Soldaten beobachtete. Sie hatten das kleine Haus, in dem er mit seiner Schwester und der Prinzessin gewohnt hatte, umstellt, während die Frauen sich drinnen aufhielten. Zwölf Soldaten. Er musste sie nicht zählen; er hatte sich um ihre Pferde gekümmert. Wenn es nur Erion gewesen wäre, hätte Tamait nicht gezögert. Er war sich sicher, dass er es mit diesem miesen Kerl aufnehmen konnte; Erion war kein begnadeter Fechter, das hatte Tamait selbst bei der Schlacht von Neiara miterlebt. Tamait dagegen war bei seiner Mutter in die Lehre gegangen, bei Alika, einer salinischen Amazone, einer der besten. Doch ein Dutzend Soldaten anzugreifen, war sinnlos. Für Keta wäre das kein Problem gewesen, aber der Riesenprinz war nicht hier; er konnte am anderen Ende des Kaiserreichs sein. Ihn zu suchen, half Maja und Manina kein bisschen. Es würde, selbst wenn der junge Mann rasch auf die bunten Wagen traf und Minos Aufenthaltsort erfuhr – und dass Mino wiederum wusste, wo Keta sich aufhielt, daran bestand kein Zweifel –, viel zu lange dauern. Kaisergänger hin oder her, Tamait glaubte nicht, dass die Ziehenden viel darauf gaben, wenn es um einen der Ihren ging. Ein paar starke Brüder aus der Sippe wären eine willkommene Unterstützung, aber bis er ein paar Helfer zusammengetrommelt hatte, waren die Gefangenen längst fort.
Hol Keta. Na wunderbar, Maja, dachte Tamait grimmig, während er beobachtete, wie seine Schwester und die Prinzessin aus dem Haus kamen, begleitet von zwei weiteren Soldaten und diesem aufgeblasenen Erion. Sie setzten die Mädchen zusammen auf ein Pferd. Manina sah aus, als würde sie überhaupt nicht begreifen, was vor sich ging, wie eine Schlafwandlerin starrte sie ins Nichts. Maja dagegen schimpfte wütend auf Erion, so laut, dass er sie mühelos verstehen konnte.
»Nach Kirifas!«, rief sie ein ums andere Mal aus. »Was um alles in der Welt soll ich da? Wenn Ihr alle Leute, die je gegen Euch gekämpft haben, einsammelt und nach Kirifas bringt, können wir ein wunderbares Wiedersehensfest dort feiern. Ist das wirklich Zukatas Wunsch, oder nehmt Ihr mich nur mit, weil es Euch gerade so passt?«
Kirifas. Was hatte sie sich gedacht – dass Tamait nun, da er wusste, wohin die Reise ging, darauf verzichten würde, ihnen zu folgen, und stattdessen irgendwie Keta herbeischaffte? Dass er hier warten sollte, bis Mino, Jamai und Kroa auftauchten, so wie sie es regelmäßig taten, und mit ihnen gemeinsam einen Befreiungsversuch unternehmen? Das klang vielleicht sogar vernünftig. Warte auf Verstärkung. Ihr werdet uns einholen, irgendwie, und bevor wir in Kirifas ankommen, schlagt ihr zu. Nur, Tamait schüttelte besorgt den Kopf, gab es keinerlei Garantie, dass Maja und Manina auf diesem langen Weg nichts geschah. Er konnte nicht so lange warten.




