- -
- 100%
- +
Sobald die Reiter verschwunden waren, schlüpfte er zwischen den Bäumen hindurch zum Haus. Sie hatten die Tür angelehnt gelassen. Seine Schritte knarrten über die Holzdielen, während er seinen Blick durch die kleine Stube wandern ließ, in der er und die beiden Mädchen miteinander gelebt, gekocht und gelacht hatten. Die Hütte besaß nur diesen einen Raum, doch daran waren die Geschwister gewöhnt, nachdem sie einige Jahre bei den Ziehenden gelebt hatten, bei denen es auch nur einen Wagen pro Familie gab. Sich ausbreiten konnte man draußen, im Wald – das war das Zimmer, das jedem gehörte, der es in Anspruch nahm, der sich wie ein König fühlen wollte in einem unermesslich großen Palast. Für ihre Zwecke hatte es gereicht, nur für Manina war es natürlich gewöhnungsbedürftig gewesen, dass ihr so wenig Platz zur Verfügung stand. Hier auf der Bank hatte er geschlafen; die Freundinnen hatten das Bett hinter dem Vorhang benutzt. Damit es kein Gerede gab, hatten sie Manina als seine Frau ausgegeben. Tamait hätte nichts dagegen gehabt, wenn es wirklich so gewesen wäre. Die Prinzessin rührte etwas in ihm an, eine Art Beschützerinstinkt. Bei Maja hatte er selten das Gefühl gehabt, sie verteidigen zu müssen. Gemeinsam hatten sie gekämpft, und wenn sie sich in die Gefahr stürzte – so hatte er es empfunden, als sie darauf bestanden hatte, mit Sorayn fortzugehen –, konnte und durfte er ihr nicht helfen.
Tamait seufzte, während er sich nach den Dingen umsah, die er mitnehmen wollte, und gleichzeitig ein Auge darauf hatte, was fehlte, was Maja dabei hatte. Vielleicht war es ihr gelungen, ein Küchenmesser einzupacken? Doch nein, die Messer staken noch alle im Holzblock. Vielleicht … Er trat auf den Vorhang zu und streckte die Hand aus, um ihn beiseite zu ziehen. Im selben Moment sprang ihm ein Angreifer entgegen und zielte mit dem Schwert nach seiner Brust.
Um ein Haar hätte es ihn erwischt. Er warf sich zurück, krachte gegen einen Holzschemel und stürzte. Der Soldat – jetzt sah er, dass es einer von Erions Leuten war – holte erneut aus. Er machte nicht viele Umstände, offensichtlich war er nur hier, um zu töten. Tamait rollte sich zur Seite, ergriff mit jeder Hand eins der abgebrochenen Beine des Hockers und sprang auf. Die Waffe traf auf das massive Holzstück; es wurde ihm aus der Hand geschlagen und fiel krachend gegen Töpfe und Pfannen. Tamait parierte den nächsten Schlag mit dem zweiten Stuhlbein, machte einen Satz rückwärts und griff sich eine schwere Eisenpfanne. Der Soldat, bisher mit schweigendem, unbeweglichem Gesicht, lachte auf. »Was soll das denn werden?«
Ein Krieger kann mit allem kämpfen, was zur Hand ist. Er erinnerte sich an diesen Satz aus dem Mund seiner Mutter, während sie einen Krieg mit Spaten und Hacken geplant hatte, bevor die Schwerter gekommen waren, die schönen, scharfen Schwerter, die Mino irgendwie organisiert hatte. Tamait würde diese Weisheit seinem Gegner schon beibringen. Der hatte sich den Falschen für seinen Mordversuch ausgesucht. Einen Krieger. Stollos Stallburschen und Rausschmeißer, doch diese Zeiten waren ab heute vorbei.
Die Bratpfanne diente ihm hervorragend als Schild, mit dem er jeden Hieb abwehrte. Tamait war sich jedoch darüber im Klaren, dass ihm noch etwas Besseres einfallen musste. Jemanden mit Küchenutensilien zu töten, war sicherlich möglich, aber der Soldat war stark; so schnell würde er sich nicht überwältigen lassen. Der junge Mann schleuderte ihm das Kochgeschirr an den Kopf, sprang noch einmal zur Feuerstelle zurück und griff sich die Eisenkette vom Haken, an der man sonst die Töpfe aufhängte. Er wickelte sie sich ums Handgelenk. Sein Gegner, nicht mehr ganz so stürmisch wie zu Beginn, beobachtete ihn misstrauisch. »Und das? Was wird das?«
Breitbeinig stand Tamait da, gut im Gleichgewicht, bereit zum Tanz. »Hat Erion dir nicht gesagt, wer ich bin?«, fragte er.
»Zukatas Feind«, antwortete der Soldat. »Das genügt.«
»Vielleicht hätte er dir etwas mehr über mich erzählen sollen«, sagte Tamait. »Hat er zum Beispiel erwähnt, dass ich Fischer bin? Und ich hatte schon ganz andere Fische an der Angel als dich.«
»Fischer?« Der Soldat blieb unbeeindruckt. »Dann werde ich jetzt dafür sorgen, dass …« Er wollte auf Tamait losstürmen, doch dieser flog mit einem Salto rückwärts durch die Tür, etwas, das er bei den Zintas gelernt hatte. Muschelsammler, Schwertkämpfer, Akrobat – der Arimer war schon immer ein sehr gelehriger Schüler gewesen.
Der Möchtegern-Mörder folgte ihm eilig nach draußen, um zu verhindern, dass sein Opfer in den Wald entkam. Genau dies hatte Tamait beabsichtigt. In der engen Hütte konnte er die Kette nicht so als Waffe benutzen, wie ihm vorschwebte, doch hier war genug Platz, um sie über sich kreisen zu lassen, und kaum war der Soldat bis auf wenige Schritte an ihn herangekommen, wickelte sich die Eisenkette pfeifend um seinen Arm. Mit einem Ruck riss der junge Mann ihn zu Boden, wich dem Schwert aus und vollführte eine weitere Drehung, schon fast tänzerisch. Es gab ein hässliches Geräusch, als der Knochen brach. Der Angreifer schrie qualvoll auf.
Tamait trat auf das Schwert.
»Woher«, fragte er, »wusste Erion, wo wir sind? Er hat uns nicht zufällig gefunden, hab ich recht?«
Es brauchte nur eine winzige Bewegung, um dem Soldaten unerträgliche Schmerzen zuzufügen. Die sonst so freundlichen Augen des Arimers funkelten hart und mitleidslos.
»Zukata ließ überall suchen, nach … nach dem Mädchen … Gasthaus am Weg … oh verdammt!«
»Was hat er mit ihr vor?«, wollte Tamait wissen.
»Kirifas«, stöhnte der Verletzte.
»Er soll sie wirklich nach Kirifas bringen? Zukatas Schwester? Das bezweifle ich irgendwie … Und Maja? Warum hat er auch das andere Mädchen mitgenommen, das schwarzhaarige?«
Er hatte einmal zu fest an der Kette gezogen. Der Schmerz stürzte den Mann in eine Ohnmacht, in der er keine Fragen mehr beantworten konnte.
Leise fluchend untersuchte Tamait seine Taschen, aber nichts gab darüber Aufschluss, was Erion tatsächlich plante. Er nahm das Schwert an sich, fand das Pferd des Soldaten etwas weiter vom Haus entfernt angebunden und ritt zum Silbernen Krug, wo Stollo und sein Sohn dabei waren, die Gaststube aufzuräumen und das Chaos zu beseitigen, das die unverschämten Besucher hinterlassen hatten.
»Da bist du ja endlich!«, rief Stollo aus, als er ihn sah. »Komm, pack mit an!«
»Tut mir leid«, entgegnete Tamait, »aber ich kann nicht, ich muss ihnen nach.«
Der Wirt nickte, runzelte jedoch besorgt die Stirn. »Er ist Kaisergänger, mein Junge, da kann man nichts machen. Und selbst wenn er sämtliche Frauen und Mädchen des Dorfes mitgenommen hätte, was will man tun? Wenn wir ihm nicht gehorcht hätten, du kannst dir vorstellen, was dann passieren würde. Zukata würde noch mehr Männer schicken, sie könnten das ganze Dorf …«
»Ich weiß doch. Niemand macht dir Vorwürfe. Und trotzdem muss ich ihnen nach.«
Geh, sagten Stollos Augen. Verschwinde lieber, bevor jemand merkt, dass ich mit einem rede, der sich gegen Zukata stellt, der sich traut, einen Kaisergänger und seine Männer zu verfolgen, einen, der nicht klein beigibt. Geh bloß, bevor ich dran bin.
»Zwei Dinge noch. Vor unserer Hütte liegt ein Soldat mit einem gebrochenen Arm, der vielleicht in Kürze aufwacht. Vielleicht solltet ihr mal nach ihm sehen. Und dann werden demnächst drei Reisende hierherkommen und nach uns fragen. Bitte erzähl ihnen alles, was hier vorgefallen ist. Wir sind auf dem Weg nach Kirifas.«
»Drei Reisende«, wiederholte Stollo. »Tamait, das hier ist ein Gasthaus. Wie soll ich denn da bloß die Richtigen erkennen?«
»Das ist nicht schwer«, sagte der Arimer. »Einer ist ein Zinta mit brauner Haut. Dann ist eine Frau mit weißem Haar dabei. Und der Dritte ist ein Zwerg.«
3. Tribut
» W I RS I N DS P Ä Tdran«, sagte Mino und schnupperte. In der Luft lag bereits der erste Geruch von Schnee, ein frischer, scharfer Duft. Sie liebte es, wenn es schneite, wenn sich die zuckrigen Flocken über ihr weißes Haar und ihre weiße Haut legten, als kämen sie nur ihretwegen. Im Winter zu reisen war für sie immer etwas Besonderes gewesen, und dieser kalte Wind aus dem Norden brachte ihr die Zeit zurück, in der sie mit ihrem Ziehvater Keta unterwegs gewesen war, weil auch er nirgends zur Ruhe kommen konnte. Die Sippen der Zintas versammelten sich in den sonnigen Nadelwäldern des Südens, aber Keta musste weiter und sie mit ihm. Diese Zeit hatte sich so in sie eingebrannt, dass sie nur die Augen zu schließen brauchte und vor sich die langen, pelzigen Ohren ihres geliebten Esels sah. Einige Schritte vor ihr ging der Riese mit den breiten Schultern und den großen Schritten …
»Gar nicht«, widersprach Kroa, kratzte sich hinter den Ohren und brachte damit seine langen Strähnen durcheinander. Sein Haar war mittlerweile recht schütter, aber indem er es kunstvoll um seine Glatze herumdrapierte, fiel es nicht so sehr auf. Zumindest hoffte er, dass es nicht auffiel, aber da er nicht größer war als ein fünfjähriges Kind und ihm daher die allermeisten Leute auf den Kopf schauen konnten, urteilten sie über seine Bemühungen anders als er. »Wie können wir spät dran sein? Du hast Maja nicht versprochen, dass wir sie besuchen. Also kann sie nicht auf uns warten. Oder uns vorwerfen, wir hätten uns verspätet. Selbst wenn wir erst in zwei Jahren nach Laring kommen, kann sie uns nichts vorwerfen. Siehst du das nicht auch so, Jamai?«
Der Angesprochene, ein drahtiger Mann mit schwarzem Haar und bräunlicher Haut, schlug Kroa lachend auf die Schulter. »Und wer spricht jeden Tag davon, dass wir Manina ein Geschenk mitbringen müssen? Wer bleibt auf allen Marktplätzen vor wirklich jedem Stand stehen, um ein Geschenk für eine Prinzessin zu finden? Nun?«
»Genau aus diesem Grund besteht keine Eile«, versetzte der Zwerg würdevoll. »Was nützt es uns, wenn wir müde und abgehetzt bei ihnen anlangen und haben kein Geschenk dabei? Außerdem ist in Laring Spätsommer. Nur die hier oben in Wenz bestehen darauf, früher mit dem Winter anzufangen als alle anderen.«
Mino runzelte die Stirn, während sie in die tiefhängenden grauen Wolken blickte. »Ich möchte am liebsten zu ihnen fliegen«, sagte sie. »So schnell ich nur kann … Wir haben uns zu lange aufgehalten. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir uns beeilen müssen … dass wir zu spät kommen könnten.«
»Zu spät? Was meinst du damit?«, fragte Jamai. »Du warst es doch, die unbedingt noch die Tropfsteinhöhlen von Ruaning sehen wollte.«
»Ja, ich weiß. Aber auf einmal … Wir wollten im Spätsommer oder Frühherbst wieder im Silbernen Krug sein. Daran hätten wir uns halten sollen. Der Winter wird eher dort sein als wir.« Die ersten Flocken begannen zu fallen, sie rieselten herab wie Regen, klein und schnell, als hätten sie es eilig, auf dem Boden aufzutreffen. »Ich weiß selbst«, fügte sie leise hinzu, »dass ich dachte, ich brauchte diese Reise. So weit wie möglich fort von Kirifas. Ich dachte, wenn es mir nur gelingt, nicht mehr daran zu denken, dass Zukata gewonnen hat, würde es mir besser gehen. Aber jetzt will ich nur noch vorwärts.«
»Sieht aus, als müssten wir jedenfalls erst einmal anhalten.« Kroas Stimme klang heiter, und doch blitzte in seinen Augen das Misstrauen auf, das ihn immer befiel, wenn sie es mit Uniformierten zu tun bekamen.
Vor ihnen befand sich eine Straßensperre. Ein paar bewaffnete Männer lungerten an einem Schlagbaum herum. Aus einem kleinen Holzhaus wenige Meter dahinter kam Lärm; anscheinend wimmelte es in diesem kleinen Dorf von Soldaten.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Jamai. »Aber sie haben uns bereits gesehen. Wenn wir jetzt umkehren, werden sie uns nachsetzen.«
»Oh, wir können problemlos verschwinden«, versicherte Kroa. »Wenn wir wirklich wollen. Was meinst du, Möwe?«
»Das ist unsere Straße.« Mino zögerte. Der Schnee wirbelte in immer größer werdenden Flocken zur Erde. »Und ich möchte nicht auf der Flucht sein, wenn ich zu Maja komme. Lasst uns erst einmal herausfinden, was das soll.«
Sie näherten sich den Wächtern, die so taten, als hätten sie die Ankömmlinge erst jetzt bemerkt. Sie grinsten, richteten sie sich zu voller Größe auf und blickten auf die Wanderer herab, als wären sie alle drei Zwerge.
»Wohin des Wegs?«, bellte einer.
»Seit wann müssen Reisende über ihr Ziel Rechenschaft geben?«, fragte Jamai. Es gelang ihm, den Ärger aus seiner Stimme herauszuhalten, doch Mino wusste, dass es bereits in ihm brodelte. Trotzdem hoffte sie, dass es nicht zu einem Streit kam. Ihre Freunde liebten hin und wieder eine handfeste Auseinandersetzung – hatten sie das von ihrem Riesenfreund Keta gelernt? –, aber sie wollte keinen Ärger. Wenn einer von ihnen sich auch nur leicht verletzte, würden sie noch später zu Maja und Manina kommen.
»Seit sie gefragt werden«, knurrte der Soldat. »Genau seit dann. Also noch einmal: Wohin des Wegs?«
Nie im Leben würde sie ihr wahres Ziel verraten. Deshalb sagte Mino: »Nach Salien, wenn’s recht ist.«
Der Mann kniff die Augen zusammen. »Ob das recht ist oder nicht, das entscheiden wir. Wen haben wir da? Du bist ein Zinta, und ihr? Was seid ihr, eine Schaustellertruppe? Wo ist euer Wagen? Wo ist der Rest eurer Sippe?«
Wir sind allein unterwegs, wollte Mino antworten, aber sie biss sich rechtzeitig auf die Lippen. Dass Unterstützung unerreichbar war, gab man besser nicht zu.
»Wir sind die Vorhut«, sagte sie. »Um geeignete Marktplätze zu finden.«
»Der Fürst dieses Landstrichs erhebt den üblichen Zoll von den Ziehenden«, gab der Soldat bekannt und blickte schräg über sie hinweg, als sei es unter seiner Würde, Abschaum wie sie mit seinem Blick zu berühren.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Kroa. »Als wir das letzte Mal hier durchgekommen sind, war davon nicht die Rede.«
»Seit Ezir Fürst von Kaiser Zukatas Gnaden ist, wird auch in diesem Wenzer Landkreis der traditionelle Tribut von allen Sippen der Ziehenden verlangt. Entweder ihr arbeitet alle für ihn, oder ihr lasst einen von euch hier in seinem Dienst.«
Mino schnappte nach Luft. Sie setzte schon zu einer heftigen Antwort an, doch Kroa drückte ihre Hand.
»Unsere Brüder und Schwestern kommen nach«, sagte er. »Wir sind bloß die Ersten, wie schon gesagt. Und nur zu dritt. Ihr solltet die anderen fragen, wenn sie hier eintreffen. Mit Sicherheit meint dieses neue Gesetz des edlen Fürsten Ezir, dass die Gebühr von einer ganzen Sippe einzuziehen ist, auch wenn sie grüppchenweise daherkommt.«
»Mit Sicherheit werdet ihr nicht jeden einzelnen Wagen als ganze Sippe behandeln«, fügte Mino hinzu, der es jedoch nach wie vor schwer fiel, ruhig zu bleiben. An ihrer anderen Seite hörte sie Jamai mit mühsam unterdrückter Wut atmen.
»He, du!«, rief ein zweiter Posten, der sie gründlich gemustert hatte. »Ist das etwa ein Bogen?« Er zeigte auf Jamai. »Ist dir nicht bekannt, dass es bei Todesstrafe verboten ist, in den Wäldern des Fürsten zu wildern? Her damit!«
»Zeigt uns, was ihr an Geld dabei habt«, befahl der erste Soldat. »Dann entscheiden wir, ob wir euren Worten Glauben schenken und es vor dem Fürsten verantworten, euch laufen zu lassen. Na los! Oder willst du«, er richtete das Wort an Mino, »dass wir nachsehen, wo du es versteckt hast?«
Mino gelang es, das Gesicht nicht zu verziehen, so als wären sie es gewöhnt, ständig ausgeraubt zu werden. Sie zog einen kleinen Lederbeutel hervor und leerte ihn in die ausgestreckten Hände des fürstlichen Wegelagerers aus. Vier kleine Kupfermünzen fielen heraus.
Der Mann grinste. »Eine«, sagte er, »für diese kleine Missgeburt hier, eine für dich, blasse Frau, und eine für den Halunken an deiner Seite. Die hier kannst du behalten.« Er gab ihr die vierte Münze zurück und nickte seinem Kameraden zu, der Jamai gerade um den Köcher und den Bogen erleichtert hatte. »Nimm ihm auch den Dolch ab. Wer weiß, wem er damit nachts auflauern will. – Und nun macht, dass ihr fortkommt.«
Sie gingen, wie befohlen. Schweigend. Erst als sie außer Hörweite waren, sagte Kroa: »Wie es aussieht, haben wir noch Glück gehabt. Wenn du ihm an die Gurgel gesprungen wärst, Möwe, säßen wir jetzt alle in einer kleinen Zelle.«
»Sie wollten uns möglichst schnell loswerden«, sagte Mino. »Damit sie zurück in ihre gemütliche Hütte können. Nur deshalb sind wir noch am Leben.«
Es schneite jetzt stärker. In Jamais dunklem Haar glitzerten weiße Flocken. »Wir brauchen einen Unterschlupf hier in der Nähe.«
»Damit du abends zurückkehren kannst, um deinen Bogen zu holen?« Kroa seufzte. »Jamai, lass gut sein. Du kannst dir einen anderen Bogen besorgen.«
»Ja, und wie? Wovon sollen wir leben, wenn ich nicht jagen kann? Geld haben wir auch keins mehr. Was will dieser Fürst denn – dass die Ziehenden betteln und stehlen müssen, bis die Leute sich lauthals beschweren, und dann nehmen sie den Ziehenden noch mehr weg und machen es ihnen noch schwerer, so dass sie noch mehr betteln und stehlen müssen? Das sind meine Waffen, Kroa. Ich gehe hier nicht ohne sie weg.«
»Was meinst du, Möwe?«, fragte Kroa. »Legen wir uns mit ihnen an?« Seine Stimme klang hoffnungsvoll, obwohl er eben noch versucht hatte, Jamai sein Vorhaben auszureden. Er wusste, wie es ausgehen würde, auch wenn er hin und wieder den Vernünftigen spielte.
Mino warf einen Blick in Jamais finsteres Gesicht. »Ohne Waffen und ohne Geld kommen wir nicht weit. Da gebe ich dir recht.« Sie zögerte. »Wir sollten uns über etwas im Klaren sein. Dieser Ezir ist einer von Zukatas Räubern. Er hat dem ganzen Verbrecherpack Fürstentümer und Throne gegeben. Während wir unterwegs waren, hat sich einiges verändert. Sie werden an jeder Landesgrenze Zoll verlangen. Es wird wahrscheinlich schwieriger werden, Maja zu erreichen, als wir dachten.«
»Das alte Gesetz«, flüsterte Jamai. »Dieser Tyrann hat alles, was Kanuna El Schattik für die Ziehenden getan hat, wieder aufgehoben. Wir haben keine Rechte mehr. Sie werden uns bluten lassen, bis wir vernichtet sind.«
»Zukata weiß, dass unser Volk gegen ihn ist. Er weiß, dass er mit jedem Schlag gegen die Zintas auch Keta trifft.«
Kroa winkte sie unter das dichte, verflochtene Gezweig eines großes Baumes, unter dem kein Schnee lag. Hier waren sie einigermaßen geschützt. Sie schüttelten den Schnee aus ihren Kleidern und setzten sich. Noch hatten sie Reste von der letzten Jagd in ihrem Beutel, ein paar trockene Kuchen vervollständigten die Mahlzeit. Schweigend aßen sie, in düstere Gedanken vertieft.
Die Dunkelheit kam früh. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hatten sie kein Feuer gemacht – sie waren zu nah am Dorf. Die lauten Stimmen der Soldaten drangen bis zu ihnen durch den stillen Wald.
»Da feiern sie«, knurrte Kroa.
»Ich gehe jetzt«, kündigte Jamai an, aber der Zwerg hielt ihn zurück.
»Noch nicht. Warte, bis sie schlafen. Und außerdem bin ich dran.«
»Womit bist du dran?«
»Mit einer Heldentat. Ich bin an der Reihe. Ich hole deine Waffen zurück.«
»Nein, Kroa, das ist doch …«
»Bin ich etwa zu alt?«, unterbrach Kroa ihn. »Bin ich zu klein? Wolltest du das sagen? Bin ich etwa nicht in der Lage, es mit dieser Handvoll Soldaten aufzunehmen?«
»Es sind meine Waffen und ich gehe selbst.«
»So ist er!«, rief Kroa aus. »So ist er immer, Möwe! Immer muss er alles alleine machen! Denkt er jemals an andere, he? Tut er das? An seine besten Freunde?«
»Ach, seid doch still, beide«, zischte Mino. An anderen Tagen fand sie die ständigen Dispute der beiden erheiternd, heute jedoch ärgerte sie sich nur darüber. »Es ist sowieso noch zu früh. Wenn wir in der Nacht fliehen, sollten wir jetzt ein wenig schlafen. Also seid einfach still. Und später gehen wir alle zusammen.«
In dem Unterschlupf, eng aneinandergekuschelt unter ihren drei Decken, die zusammen eine wärmende dicke Schicht ergaben, war es fast behaglich. Trotzdem wäre ein Feuer schön gewesen. Oder eine Unterkunft in einem richtigen Haus. Bevor sie einschlief, wanderten Minos Gedanken zu dem Haus auf Arima, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte, das Haus ihrer Kindheit und ihrer unglücklichen Ehe. Nein, dort hatte das Glück nicht gewohnt. Es war hier unter diesem Baum, hier bei Jamai und Kroa …
Kroa schlüpfte unter den Decken hervor. Er hatte darauf bestanden, die erste Wache zu übernehmen, damit er seinen Plan ausführen konnte, bevor ihm Jamai zuvor kam. Seinem Freund war ohne weiteres zuzutrauen, dass er alleine aufbrach, um sich unnötig in Gefahr zu begeben. Vielleicht hatte sogar Möwe vor, heimlich die Waffen und das Geld zurückzustehlen. Hielten ihn die beiden für alt? Er lächelte grimmig in sich hinein, während er die Decke sorgsam wieder zurechtstopfte. Möwe und Jamai schliefen Rücken an Rücken, so wie sie es immer taten, wenn die Kälte sie dazu zwang. Innerlich schüttelte er den Kopf über diese beiden. Ob sie ihn wohl vermissen würden, wenn er nicht wiederkam, wenn irgendetwas schiefging? Sie gehörten so sehr zusammen … aber das war nicht seine Sache. Kroa duckte sich unter den Zweigen hindurch. Schnee rieselte ihm in den Kragen, als er trotz aller Vorsicht an einen Ast stieß. Aus den Wolken kam glücklicherweise im Moment nichts nach. Die Nacht lag sternenklar über ihm. In den nächsten Tagen würde es noch kälter werden. Bis dahin mussten sie alle möglichen Verfolger abgeschüttelt haben; sie brauchten unbedingt ein Feuer, wenn es ihnen nicht gelang, einen Unterschlupf in einer Scheune oder einer alten Hütte zu finden.
Während er sich dem Wachhaus näherte, verabschiedete er alle Sorgen und Überlegungen, die die Zukunft betrafen. Jetzt zählte nur noch sein Vorhaben. Ein Kribbeln in Armen und Beinen erfüllte ihn mit Vorfreude und Angst zugleich, sein Herz begann schneller zu schlagen. Das war immer so, bei jedem waghalsigen Abenteuer, bei jedem Auftritt, ganz gleich, wie lange man dafür geprobt hatte.
Licht fiel durch die Fenster und malte helle Rechtecke in den Schnee. Es war noch nicht spät genug, andererseits bezweifelte er, dass es eine Stunde gab, zu der wirklich alle schliefen. Ein frierender Soldat wanderte am Schlagbaum auf und ab und rieb sich dabei die Oberarme. Diese Männer kannten ihren Herrn; das war kein fetter, verweichlichter Fürst, der in einem Schloss saß und nichts von dem wusste, was in seinem Land und auf den Straßen vor sich ging. Zukatas Räuber. Nun herrschten sie über Deret-Aif, über das große Kaiserreich, das unter dem guten Riesen geblüht hatte …
Es gab keinen richtigen Zeitpunkt. Der Blick in die Stube verriet es ihm. Nicht alle tranken. Ein paar Männer saßen an einem Tisch und spielten Karten. In den schmalen Betten an der Wand schliefen einige, ohne sich von dem Gebrüll der Spieler, die einander lautstark Betrug vorwarfen, stören zu lassen. Auf einer langen Holzplatte lag ein buntes Sammelsurium von Dingen, anscheinend Gegenstände, die Reisenden abgenommen worden waren. In der kleinen Truhe, schätzte Kroa, wurden die Münzen aufbewahrt, daneben verschiedene Waffen – ob Jamais Bogen und Dolch dabei waren, konnte er von hier aus nicht sehen, aber er nahm es stark an –, Umhänge aus seidigem Stoff, sogar ein verzierter Reitsattel fand sich dort.
Kroa, der sich mit den Händen am Fensterrahmen festgekrallt hatte, um ins Haus hineinsehen zu können, ließ sich wieder auf den Boden hinunter und überschlug alle Möglichkeiten. Lärm machen, so dass alle, die wach waren, nach draußen liefen und er in dieser Zeit ins Zimmer gelangen und die Sachen holen konnte? Doch die Schläfer würden wahrscheinlich gerade zu diesem Zeitpunkt aufschrecken. Besser war es, sie alle völlig zu überrumpeln. Durchs Fenster brechen, sich den Bogen und den Dolch schnappen und wieder zurück, und bis die Soldaten sich von ihrer Überraschung erholt hatten, war er schon über alle Berge. Er würde Jamai und Möwe wecken – ja, auch sie würden staunen – und gemeinsam würden sie das Weite suchen. Ohne auch nur einen Kratzer davongetragen zu haben.
Kroa trat ein paar Schritte zurück. Von hier musste er springen, wenn er mit den Füßen voran durch das dünne Glas brechen wollte, dann ein Satz über den Tisch mit den Kartenspielern – wie gut, dass er so passend mitten im Raum stand – hinüber zu den Beutestücken und … Für den Rückweg brauchte er eigentlich beide Hände … Kroa überlegte. Den Dolch konnte er zwischen die Zähne nehmen, Bogen und Köcher nicht. Früher hätte es ihm keine Mühe bereitet, sich mit einer Hand zum Sprung abzustoßen. Er hatte es schon länger nicht mehr getan, aber er war sicher, dass er es immer noch konnte.




