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Du bist zu alt, sagte eine Stimme in ihm. Beim Wandern tun dir schon die Knie weh, morgens kannst du kaum die Beine bewegen …
Ach was.
Seine Lippen bewegten sich lautlos. Das ist eine meiner leichtesten Übungen. Ich werde jetzt nicht kneifen. Ich bringe Jamai sein Eigentum zurück.
Er musste es jetzt tun, jetzt sofort, bevor seine Füße im Schnee zu frieren begannen, bevor es seinem inneren Spielverderber gelang, sich Gehör zu verschaffen. Bevor er nichts war als ein alter, etwas zu klein geratener Mann, dessen Familie
Zukata nach Belieben berauben konnte. Dabei war er immer noch Kroa, Herr der Wälder, Fürst der Akrobaten …
Er warf sich nach hinten, stieß sich mit den Händen vom Boden ab und schnellte durchs Fenster. Klirrend barst die Scheibe, als er mit den Füßen voran in den Wachraum stürzte, mit einer eleganten Drehung über den Tisch wirbelte und vor dem Diebesgut aufkam. Einer der Soldaten war vor Schreck hintenüber vom Stuhl gestürzt, die anderen sprangen gerade auf, als Kroa sich schon den Dolch zwischen die Zähne schob, den Bogen packte – in der Eile verfehlte er den Köcher, aber er hatte keine Zeit, zweimal zuzugreifen – und zurück auf den Kartentisch hechten wollte. Während er hochschnellte, merkte er schon, dass seinen Beinen die nötige Kraft fehlte, und als er sich mit der freien Hand abstützen wollte, krachte er mit dem Rücken gegen die Holzkante, schlug mit den Beinen gegen eine Stuhllehne und sah nur noch eine Faust auf sich zukommen, die seinen missglückten Flug in eine andere Richtung lenkte – leider nicht in die gewünschte.
Die bunten Wagen rumpelten über die holprige Straße. Die Pferde, die sie zogen, waren klein und kräftig. Der dunkelhaarige Mann, der das letzte Gefährt lenkte, blickte sich um, als der Weg in einer langgezogenen Kurve den Wald verließ. Dieser Idiot folgte ihnen immer noch!
Toris seufzte und zog sacht an der Leine. Der Braune mit dem breiten Hinterteil ging ein paar Schritte weiter, bevor er beschloss zu gehorchen. Während der Zinta auf den Mann wartete, der schon wer weiß wie lange hinter ihnen herlief, nutzte das Tier die kurze Rast und zupfte ein Kraut zwischen den Steinen hervor.
»Na gut.« Toris nickte dem jungen Mann zu. »Du kannst mitfahren, Sorayn. Aber ich werde dir nicht sagen, wo Maja ist. Und du wirst mich nicht mehr fragen. Einverstanden?«
»Es macht mir nichts aus zu laufen.« Sorayn lächelte. »Es geht mir nur darum, mit dir zu reden.«
»Von mir erfährst du nichts. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt.«
»Das hast du, in der Tat. Aber ich bin hartnäckig.«
»Das habe ich gemerkt, glaub mir. Nun steig schon auf, wir verlieren sonst den Anschluss.«
Auch wenn es Sorayn nichts ausmachte, hinter der Kolonne herzugehen – mit seinen langen Beinen war er sehr schnell, und er kam nie zu spät, wenn sie am Abend ihr Lager aufschlugen –, konnte Toris es nicht gut haben, dass sein Schwiegersohn hinter dem klapprigen grünen Wagen herrannte. Obwohl der Zinta sich standhaft weigerte, Sorayn zu verraten, wo Maja sich aufhielt, war es unmöglich, den jungen Mann abzuschütteln. Eigentlich durfte man ihm gar nicht verwehren, hier zu sein, bei den Brüdern und Schwestern der Ziehenden, an ihren Gesprächen und Tänzen teilzunehmen. Hatte er nicht rechtmäßig in diese Sippe eingeheiratet?
Sorayn tätschelte den Braunen und flüsterte ihm etwas zu, bevor er sich neben Toris auf die Bank setzte, die als Kutschbock diente. »Dein Pferd ist hierüber nicht erfreut«, sagte er. »Ich werde sowieso bald wieder laufen müssen.«
»Ach ja«, meinte Toris kopfschüttelnd, »ich vergesse immer wieder, dass du mit den Tieren reden kannst.«
Der Mann, den seine Tochter sich ausgesucht hatte, war ohne Zweifel ein wenig verrückt. Oder machte er, dass alle anderen irre wurden? In seiner Nähe geriet alles durcheinander, aber es fiel schwer, ihm lange böse zu sein. Obwohl er so groß war, trotz seiner breiten Schultern und seiner imposanten Erscheinung hatte er etwas anrührend Jungenhaftes an sich. Er kam einem vor wie jemand, der alles zum ersten Mal sieht. Manchmal sagte er Dinge, die keinen rechten Sinn ergaben – eine der Zinta-Frauen behauptete, es wären Gedichte – und dass er mit Pferden, Hunden und Spatzen flüsterte, war erst recht wenig vertrauenerweckend. Aber er war nun einmal sein Schwiegersohn, und nachdem alle seine Versuche, ihn wegzuschicken, auf taube Ohren gestoßen waren, musste Toris sich etwas anderes einfallen lassen.
»Maja …«, begann Sorayn.
»Ich werde dir nichts über Maja sagen. Sie wird ihre Gründe gehabt haben, dich zu verlassen. Wenn sie nicht von dir gefunden werden will, mische ich mich nicht ein.«
Eine Armee von wilden Riesen hatte diesem jungen Mann gehorcht. Auch allein war mit ihm, so hatten die Zintas aus zuverlässiger Quelle gehört, nicht gut Kirschen essen. Aber er hatte hier niemanden bedroht und nicht einmal eine Andeutung gemacht, dass er Majas Aufenthaltsort mit Gewalt herausbekommen könnte. Wenn es stimmte, was man sagte, war es ihm sogar gelungen, Remanaine zu besiegen, den Wanderheiler, der in Wirklichkeit, wie mittlerweile fast jeder wusste, Zukatas Zwillingsbruder Keta war. Sorayn dagegen hatte nichts von einem Riesen, das sah man auf den ersten Blick. Obwohl er recht groß war, kam er an einen ausgewachsenen Angehörigen dieses grobschlächtigen Volks nicht heran. Überdies waren seine Gesichtszüge viel zu fein, selbst für einen Menschen war er ungewöhnlich attraktiv. Die himmelblauen Augen erinnerten an Remanaines stechenden Blick, und von daher stammte wohl das Gerücht, er gehörte zur Familie des Kaisers. Aber während Toris den Heiler als ruppig und eigenbrötlerisch kannte, war Sorayn die Freundlichkeit und Sanftheit selbst.
»Maja hatte ihre Gründe«, gab der junge Mann zu, obwohl man kaum glauben mochte, dass es mit jemandem wie ihm Streit geben konnte. »Aber sie ist immer noch meine Frau. Und es hat sich sehr viel geändert. Ich werde sie finden, Toris, ob mit deiner Hilfe oder ohne sie.«
»Dann geh und such sie. Ich halte dich nicht auf.«
Sorayn lachte leise. »Erzähl mir von ihr. Von der Zeit, als sie hier in der Sippe gelebt hat.«
Toris grub in seinem Gedächtnis, aber ihm fiel nichts ein, was er berichten konnte. Über seine Tochter, von deren Existenz er so lange nichts geahnt hatte. Er hatte sie das erste Mal getroffen, als sie schon eine wunderschöne junge Frau war, mit glänzendem schwarzen Haar, mit dunklen Augen, in denen so viel Traurigkeit lag, dass sie kaum zu ermessen war. Lange hatte es gedauert, bis sie den Verlust der beiden Menschen, bei denen sie aufgewachsen war und die sie bis vor kurzem für ihre Eltern gehalten hatte, überwinden konnte. Bis es ihr gelang, die brennenden Gärten von Arima zu vergessen.
»Es ging ihr hier gut«, entfuhr es ihm. »Du hättest sie niemals von ihrer Familie wegreißen dürfen.«
»Wirklich?«, fragte Sorayn mit einem leisen Lächeln, und Toris schämte sich sofort dafür, dass er sich wie ein strenger Vater benahm, der seine erwachsene Tochter für immer behüten wollte.
Der Braune blieb stehen, als die Wagen vor ihnen hielten. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Toris. »Warte, du brauchst doch nicht …« Aber Sorayn war schon vom Bock gesprungen und ging an der Kolonne vorbei, um herauszufinden, was passiert war. Darauf zu hoffen, dass vielleicht ein Rad gebrochen war, war nicht nett, aber Sorayn wünschte sich nichts mehr als eine Gelegenheit, den Zintas zu helfen. Ihnen irgendwie zu beweisen, dass er kein Fremder war, der sie mit seinen Fragen belästigte, sondern einer, der zu ihnen gehörte. Falls jemand, der ihnen erst seit einigen Wochen folgte, überhaupt einer der Ihren sein konnte. Aber er machte es ihnen schwer, ihn zu ignorieren. Er drängte sich nicht in ihre Mitte, war jedoch immer in der Nähe, und Toris bekam langsam ein schlechtes Gewissen, ihn außen vor zu lassen, und rief ihn immer öfter zu sich. Dass er ihn jetzt das erste Mal zu sich auf den grünen Wagen gebeten hatte, war ein gutes Zeichen. Irgendwann hatte Sorayn ihn soweit, dass er ihm Majas Versteck verriet. Hartnäckigkeit war eine Eigenschaft, mit der alle Riesen geboren wurden. Toris war sich höchstwahrscheinlich nicht im Klaren darüber, dass er einen solchen vor sich hatte, aber falls er überhaupt irgendetwas von Keta über sie gelernt hatte, würde er irgendwann merken, dass Sorayn alles, was einen Riesen auszeichnete, im Übermaß in sich trug.
Kein gebrochenes Rad hatte die Zintas zum Anhalten gezwungen. Sondern eine Straßensperre. Die Männer und Frauen aus den vordersten Wagen stritten lauthals mit zwei bis an die Zähne bewaffneten Soldaten.
»Tribut? Wieso denn das? Kanuna hat uns schon vor Jahrzehnten davon befreit!«
»Fürst Pidor ist der Herr dieses Landes«, sagte der Soldat, ohne eine Miene zu verziehen. »Und Kaiser Zukata hat selbstverständlich das Recht, die Gesetze des Kaiserreichs nach seinem Belieben zu erlassen. Glaubt es oder nicht, aber der traditionelle Wegezoll wurde wieder eingeführt. Entweder ihr arbeitet eine Jahreszeit lang für unseren Fürsten oder ihr lasst einen von euch hier. Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, wählen wir jemanden aus.«
»Gibt es ein Problem?«, fragte Sorayn und trat näher. In seinen Fingern juckte es bereits. Hier war endlich die ersehnte Gelegenheit, Majas Familie beizustehen.
Der Soldat wandte sich ihm zu, doch der nächststehende Zinta zischte: »Halt du dich da raus!«
Sorayn hatte nicht die Absicht, sich aus irgendetwas herauszuhalten, erst recht nicht aus einem Streit oder einem Kampf. Er hatte nicht gewusst, ob er jemals wieder kämpfen würde, nachdem ihn der Segen im Krieg mit einem solchen Mitleid erfüllt hatte, dass er niemandem etwas zuleide tun konnte. Doch jetzt fühlte er etwas in sich brodeln, das sich sehr vertraut anfühlte. Er hatte gedacht, dass er es nie wieder verspüren würde: das dringende Bedürfnis, jemanden zu Boden zu schlagen. Er konnte kaum an sich halten.
»Dieser Fürst Pidor verlangt einen aus der Sippe? Als Leibeigenen? Und das mit der Erlaubnis des Kaisers?« Natürlich wusste Sorayn, dass es solche Fälle auch unter seinem Urgroßvater gegeben hatte. Aber dann hatten die Landesherren hoffen müssen, dass ihre Dreistigkeit dem Herrscher in Kirifas nicht zu Ohren kam. Wenn diese Soldaten jetzt mit neuen Gesetzen auftrumpfen konnten, bedeutete das nichts Gutes. Was tat Zukata auf seinem Thron? Hatte Sorayn ihm nicht gesagt, er habe Kanunas Weg fortzuführen?
Der Soldat musterte ihn abschätzend. »Die Sippe, die vor euch hier durchgekommen ist, hat sich zuerst auch gesträubt. Aber wir haben denen schon beigebracht, wie der Hase läuft. Ihr könnt es so oder so haben, wie ihr es wünscht.«
»Geh einfach«, sagte einer der Zintas zu Sorayn. »Geh, das hier ist schwer genug für uns.«
Sorayn rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Er hörte zu, während sie sich berieten. Einige waren dafür, umzukehren und einen anderen Weg zu nehmen; andere, hitzigere Gemüter wollten eine solche Behandlung auf keinen Fall dulden und stimmten dafür, die beiden Soldaten so zu verprügeln, dass ihnen Hören und Sehen verging.
»Soldaten treten niemals zu zweit auf«, gab ein anderer zu bedenken. »Sie werden Verstärkung rufen, und dann haben wir das Nachsehen.«
»Eine Jahreszeit«, meinte eine Zinta-Schwester, schon halb am Weinen, »was heißt das? Was sollen wir tun? Wenn wir für diesen Fürsten arbeiten, wovon sollen dann wir leben? Und unsere Kinder?«
Auch die Zintas aus den hinteren Wagen waren herbeigekommen und erfuhren die schlechten Neuigkeiten.
»Umkehren ist keine Lösung«, sagte Toris sofort. »Wenn dies ein Gesetz ist, das ganz Deret-Aif betrifft, werden wir an jeder Grenze vor dieser Wahl stehen.«
Verzweiflung machte sich in den braunen Gesichtern breit. Sorayn beobachtete die Soldaten, die mit verschränkten Armen und breitem Grinsen abwarteten. »Mit denen werde ich fertig«, bot er an. Das Jucken in seinen Händen verstärkte sich zu einem Brennen. Wie hatte Zukata es nur wagen können, Kanunas Werk anzutasten?
»Was?«, rief Toris. »Du willst mit ihnen kämpfen?«
»Das können wir selbst.« Stolz warfen sich ein paar junge Männer in die Brust. »Wir brauchen deine Hilfe nicht. Wir werden ihnen zeigen, was es heißt, uns versklaven zu wollen!«
»Merkt ihr es nicht?«, fragte Sorayn leise. »Wie unruhig eure Pferde geworden sind? Sie wittern ihre Artgenossen. Diese Soldaten sind nicht zu zweit. Ihr könnt nicht sehen, wie viele sich in dem Wäldchen dort verbergen.«
Die älteren Zintas schüttelten voller Bedenken die Köpfe. »Lange ist es her, dass wir vor einer solchen Entscheidung standen.«
»Und damals war Remanaine bei uns.«
»Jetzt bin ich da«, mischte Sorayn sich wieder ein. »Zieht ihr weiter und ich werde mich darum kümmern.«
»Nein.« Toris’ Stimme klang scharf. »Du allein? Wir sollen fliehen, während du sie zurückhältst? Wenn es nur diese zwei wären, brauchten wir dich nicht dazu, und wenn es ein ganzer Trupp ist, zwanzig oder fünfzig, kannst du uns auch nicht helfen. Sie werden dich töten und uns nachsetzen. Wenn du sie angreifst, werden sie unter uns wüten und keine Rücksicht auf Kinder oder Alte nehmen. Wir werden niemanden opfern. Wenn es nicht anders geht, werden wir die Arbeit verrichten müssen, zu der sie uns zwingen.« Er blickte in der Runde. »Ich wüsste nicht, was wir sonst tun könnten. Das werde ich ihnen jetzt sagen.«
Sorayn konnte sehr gut mit den jüngeren, heißblütigen Burschen mitfühlen, die sich damit nicht abfinden wollten. Auch er überlegte fieberhaft, wie man diese Demütigung vermeiden konnte. Natürlich musste er zum Kaiser und ihn dazu zwingen, dieses Gesetz wieder zurückzunehmen. Doch bis er in Kirifas angekommen war und mit seinem Großvater gesprochen hatte, bis die Kunde von der neuen Regelung die Landesherren erreicht hatte, würde Majas Sippe in Knechtschaft leben müssen.
»Nein!«, rief er aus. »Warte, Toris. Gebt ihnen einen der Euren.«
»Ich habe bereits gesagt, so etwas tun wir nicht.«
»Biete ihnen einen großen, starken Kerl an. Sie werden unmöglich ablehnen können.«
»Du?« Toris starrte ihn ungläubig an. »Du willst, dass wir dich alleine hier lassen? Meine Tochter wird mich schlagen, wenn ich so etwas zulasse.«
Sein Herz machte einen kleinen Sprung. Selbst Toris glaubte also daran, dass Maja ihn immer noch liebte, dass es ihr etwas ausmachte, wenn ihm etwas geschah.
»Ich gehe mit ihnen«, verkündete er. »Nicht, dass ich vorhätte, besonders lange zu bleiben. Sobald ihr weit genug weg seid, mache ich mich aus dem Staub.«
»Und du glaubst, das geht so einfach?«
Er sagte ihnen nicht, was er mit seinen Händen tun konnte. Eisenketten zerreißen und Bäume fällen, und dass er wie im Rausch die wilden Riesen des Gebirges unter sich gezwungen hatte. Sie hätten es doch nicht geglaubt.
»Und an der nächsten Grenze«, schlug er vor, »machen wir es wieder so. Wenn ihr mir sagt, wohin ihr zieht, werde ich euch einholen.«
»Das tun wir ganz gewiss nicht«, meinte Toris trotzig, »wir lassen nie einen von uns im Stich.«
Und da war es wieder, das Glück. Einer von uns. Als wäre er wirklich ein Zinta, für den das galt, was jedem von ihnen zustand: der Schutz der Gemeinschaft.
»Wir sollten es ihnen mitteilen, bevor sie ungeduldig werden«, drängte Sorayn. Er konnte geradezu fühlen, wie die Soldaten ihre Macht genossen. Es würde ihm sehr schwer fallen, nicht sofort loszuschlagen, sondern sich in ihre Hände zu begeben, bis die Sippe in Sicherheit war.
»Und, was ist bei euren Überlegungen herausgekommen?«, fragte einer der Soldaten höhnisch.
»Wir werden nicht …«, begann Toris, aber Sorayn unterbrach ihn: »Sucht euch einen aus für euren Herrn.«
Die beiden Soldaten musterten die kleine Gruppe, zu der noch ein paar ältere Männer und Frauen und einige Halbwüchsige gehörten. Man musste kein Hellseher sein, um zu erraten, wen von ihnen sie ihrem Fürsten mitbringen würden.
»Du!« Der Soldat zeigte mit dem Finger auf den großen Kerl, der aussah, als könnte er gut mit anpacken. »Du bleibst hier. Die anderen können gehen.«
Sorayn verkniff sich ein Lächeln, das sie vielleicht misstrauisch gemacht hätte. Er nickte Toris zu, der, so wie auch die anderen Ziehenden, ein glaubhaft entsetztes Gesicht machte. »Bis bald«, formte er mit den Lippen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sie sich in Kürze wiedersehen würden, und dann verriet ihm sein Schwiegervater hoffentlich, wo er Maja finden konnte.
4. Kein Entrinnen
E I NG U TG E Z I E L T E RSchneeball traf Kroa voll ins Gesicht. Er schüttelte sich und prustete und spuckte. Die Soldaten lachten laut auf. Der nächste bückte sich und formte eine Kugel. Er drückte den Schnee zusammen, bis er hart war wie ein Stein.
»Er ist ein alter Mann«, flüsterte Mino. »Ich kann das nicht länger mit ansehen.«
»Warte noch einen Moment.« Jamai legte seine Hand auf ihre.
Sie hockten in einem Gebüsch, dicht am Haus der Soldaten. Als Jamai in dieser Nacht erwacht war und feststellen musste, dass Kroa verschwunden war, hatte er nicht lange herumgerätselt, sondern sofort Mino geweckt. Inzwischen schneite es nicht mehr und Kroas Fußabdrücke konnten die Feinde jederzeit zu ihrem Versteck führen. Mit einem Tannenast hatten sie alle Spuren verwischt, so gut es ging, und waren in einem weiten Bogen zum Wachhaus zurückgekehrt. Als sie Kroa im Baum entdeckten, durchfuhr es Mino kalt. Doch dann erblickten sie die Soldaten, die sich damit vergnügten, ihr Opfer zu quälen. Sie hatten den kleinen Mann an den Füßen in die Äste gehängt und bewarfen ihn vorerst mit nichts Schlimmerem als Schnee, doch allein daran, dass Kroa verbissen schwieg, erkannte sie, dass es ihm nicht gut ging. Ein anderer Kroa, jünger und stärker, hätte die Feinde als das verhöhnt, was sie waren, als Feiglinge. Der Kroa von früher hätte sich hochgeschwungen und die Fesseln gelöst. Doch dieser Gefangene, den sie dort verspotteten, tat gar nichts. Vielleicht wollte er vermeiden, Mino und Jamai herzurufen. Dabei hätte er wissen müssen, dass sie ihn niemals im Stich lassen würden.
Diesmal war es ein Stein. Sie hatte es genau gesehen. Mino ächzte leise, so sehr fühlte sie den Schmerz mit.
»Warte«, flüsterte Jamai dicht an ihrem Ohr.
Worauf denn?, hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Das können wir doch nicht zulassen!
Sie waren nur zu zweit, und hier trieben sich mindestens zwanzig Soldaten herum. Um es mit einer solchen Übermacht aufzunehmen, hätte man ein Riese sein müssen. Und sie hatten nicht einmal mehr ihre Waffen. Um einen genialen Plan zu entwerfen, blieb keine Zeit. Noch spielten die Feinde wie eine Katze mit der Maus, aber Mino machte sich keine Illusionen darüber, was sie vorhatten. Sie ging davon aus, dass Kroa bereits verletzt war, sonst hätten die Männer ihn gar nicht gefangennehmen können.
Sie zwang sich, den Blick von dem grausamen Schauspiel zu lösen. Was konnten sie anderes tun, als sich in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen, in dem sie alle sterben würden? Keinen Moment zweifelte sie daran, dass es so kommen musste, wenn ihnen nichts anderes einfiel.
»Wir müssen schnell sein«, flüsterte Jamai. »So schnell wie nie. Das ist unsere einzige Chance.«
»Was soll ich tun?«, fragte Mino leise.
»Du lenkst sie ab«, sagte er, und sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es ihm fiel, das vorzuschlagen. »Bring sie dazu, dich zu verfolgen. So viele wie möglich. So weit weg wie möglich. Ich muss da hochklettern, um Kroa loszuschneiden. Ich brauche Zeit.«
»Die verschaffe ich dir«, versprach sie, ohne irgendeine Ahnung davon zu haben, was sie tun würde.
Das Bündel, das im Baum hing, wimmerte. Nur ein Laut, doch er fuhr ihr durchs Herz. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat aus der Deckung.
Die Steine, die Mino immer bei sich trug, fanden wie von selbst den Weg in ihre Hände. Sie sprangen hoch in die Luft und kamen anhänglich zurück zu ihr.
»He, was will die denn hier?« Der erste Soldat hatte sie bemerkt.
Sie sagte nichts. Still und geheimnisvoll trat die weißhaarige Frau zwischen die Männer, nichts bei sich als die tanzenden Steine. Drei waren es, nein vier, dann sogar fünf, sie verwirbelten vor den Augen der Zuschauer. Einen Moment lag ein Zauber über ihnen allen, in einer Schneewelt des Schweigens, dann streckte der Erste die Hand nach ihr aus.
Sie warf. Hart. Schneller, als man zusehen konnte, zielgenau, mit einer Sicherheit, die von innen heraus kam, die nichts zu tun hatte mit der Angst um den Zwerg im Baum und ihrer Wut auf die grausamen Männer. Fünf Steine. Und fünf Soldaten fielen, niedergestreckt. Dann drehte sie sich um und rannte.
Tausende schienen nach ihr zu greifen, unzählige Arme streckten sich nach ihr aus. Mino tauchte unter ihnen hindurch, stieß einen Soldaten beiseite, huschte gewandt zwischen den zupackenden Händen des nächsten hindurch und verschwand im Wald. Sie drehte sich nicht um, sie zählte nicht, wie viele sie auf ihre Spur gelockt hatte, wie viele sie von Kroa wegführte. Es interessierte sie nicht, wie groß ihre Chance war, ihnen zu entkommen, ohne Vorsprung, ohne sich hier auszukennen, nichts als ein Wild, gehetzt von der Meute. Das Leben, das sie führte, hatte sie gestählt, stark und ausdauernd gemacht und gewiss kam sie nicht so bald außer Atem, aber ihre Verfolger waren kräftige, im Kampf geübte Männer und voller Wut.
Ihr einziges Heil lag in der Flucht. Sie sprang durch Büsche, unter Ästen hindurch, sprang wie ein Reh, schlug Haken wie ein Kaninchen, und hörte die Feinde doch immer noch hinter sich. Es blieb ihr nichts übrig, als zu rennen, in die Nacht, durch den Schnee. Nicht einmal die Hoffnung war ihr vergönnt, die Soldaten im Schutz der Dunkelheit abschütteln zu können, denn schon zog im Osten der Morgen herauf. Ihre Spuren waren im Schnee deutlich zu erkennen. Die Schnellsten waren so dicht hinter ihr, dass ihr sowieso keine Zeit blieb, sich zu verstecken. Dafür verbarg die dicke weiße Schicht alle Wurzeln, Löcher und Äste, über die man stolpern konnte. Mino strauchelte, rappelte sich nach Atem ringend auf, sah plötzlich auch von der anderen Seite einen Mann auf sich zukommen. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an einen Baumstamm stieß.
»Nun haben wir dich«, sagte einer, und das Ganze kam ihr vor wie ein Traum, in dem man laufen will, laufen, nur laufen, aber die Füße versinken im Schnee und es gibt kein Entrinnen.
Sie blickte ihnen entgegen, dann wandte sie sich um und sprang hoch, bis sie den nächsten Ast greifen konnte. Von dort aus zog sie sich weiter nach oben, und schließlich blickte sie keuchend auf die Soldaten hinunter, die sich unter dem Baum versammelt hatten.
»Die hole ich da runter«, versprach einer, aber ein anderer lachte: »Lass sie. Von da aus kann sie uns nicht entwischen. Ein falscher Schritt und sie rutscht aus und bricht sich das Genick. Bewacht den Baum. Wir kehren zu den anderen zurück.«
Zu den anderen. Nun wusste sie, dass sich nicht alle an die Verfolgung gemacht hatten, dass noch etliche Soldaten bei Kroa geblieben waren. Sie horchte auf den Lärm eines Kampfes, aber der Wald lag ruhig da, ins graue Licht der Dämmerung gehüllt, und nichts verriet ihr, ob ihre Freunde bereits tot waren oder ob es Jamai gelungen war, mit Kroa zu fliehen. Ihre Gelassenheit, was ihr eigenes Schicksal betraf, wunderte sie selbst. Aber nachdem ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, kam es ihr nicht mehr ganz so schlimm vor, dass sie nicht weiterfliehen konnte. Sie hatte ihr Bestes gegeben, nun würde geschehen, was auch immer geschehen musste.
Der Waldboden unter ihr war unendlich weit entfernt, sie hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt den glatten Stamm und die eisglatten Äste hochgekommen war. Ihre steifgefrorenen Finger wurden rot und taub, und sie bezweifelte, dass sie es aus eigener Kraft schaffen würde, vom Baum herunterzusteigen. Trotzdem konnte sie den herrlichen Sonnenaufgang genießen, wie sie noch nie irgendeinen Morgen genossen hatte. Vielleicht war es der letzte. Das Licht, das durch die kahlen, schneebedeckten Wipfel kroch, schien den Wald zu entflammen. Rötliche Glut verzauberte die überfrosteten Zweige. Funken spielten in ihrem weißen Haar und küssten es mit demselben rosigen Glanz wie den Schnee.
»Mino?« Dort unten am Fuß des Baums stand Jamai. Sie sah sein Gesicht wie aus weiter Ferne. »Geht es dir gut?«




