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Sie hörte Schritte, war dennoch nicht auf den Schlag gefasst.
Unter der Wucht wurde ihr Kopf in den Nacken geschleudert, die heftige Bewegung verursachte ein lautes Knacken. Heiß schossen ihr die Tränen aus den Augen.
Juli begann zu schreien.
„Eindeutig redest du zu viel, Holde! Halt’s Maul.“
Hedwig rutschte vor dem Mann mit der Blechstimme zurück, Strohhalme stachen ihr in die Handballen, dann spürte sie die Wand im Rücken. Sie lehnte sich dagegen und presste ihr Kind an die Brust.
Geräusche, Bewegung und ein eiskalter Luftzug ließen sie aus dem Schlummer hochfahren. Schneewaldgeruch.
„Er kommt.“
Juli begann zu weinen. Sie krähte, sie plärrte, sie hatte Hunger, und sie war schon viel zu lange eingewickelt. Hedwig tastete nach ihr, hob sie an die Brust, wiegte sie. „Scht, scht.“
Sie begann zu zittern. Vor Kälte. Und vor Hunger. Durstig war sie ebenfalls.
Eilige Schritte, die näherkamen. „Mach, dass es still ist!“, befahl die Blechstimme.
„Ich sag ja, das Balg erschwert die Sache.“
„Dass dich der Teufel schände, bring es zum Schweigen!“
Aber Juli schwieg nicht.
„Herr, ich …“
Der Schlag war so hart, dass sie sich in die Wangenfalte biss. Juli weinte nun noch lauter, obwohl Hedwig sie fest an den Busen gedrückt hielt. Von dort wurde sie ihr unsanft entrissen. „Nein, lasst mein Kind!“, schrie Hedwig. Die Furcht ließ ihren Herzschlag aussetzen. Juli brüllte. Und in ihr Gebrüll hinein schrie sie selbst: „Gebt sie mir. Lasst mich sie auswickeln, dann wird sie Ruhe geben.“ Oh Gott, was tat er mit ihr? Ihr Kind greinte umso lauter, je mehr es dem Grobian ausgeliefert war und Hedwigs Angst spürte.
Hedwig taumelte auf die Beine. Eine verzweifelte Kraft trieb sie an. „Bitte!“, flehte sie und streckte die Arme suchend aus.
„Was geht hier vor sich?!“
Eine neue Stimme. Hart und befehlsgewohnt. Ein weiterer Mann. Die Tür schlug zu.
Juli gab erstickte Laute von sich.
„Was treibst du da?!“
Fast besinnungslos vor Angst torkelte Hedwig umher, wimmerte, wehklagte.
Ein weiterer Schlag ließ sie zusammenbrechen.
Als sie wieder zu sich kam, spürte sie zunächst nur die Härte des Untergrundes und die Kälte. Dann das Loch im Bauch, das von Hunger und Angst gleichermaßen kam.
Sie hörte das Knacken von brennenden Holzscheiten. Ein Husten. Rascheln von Papier- oder Pergamentseiten. Und ein anderes, ein wohlvertrautes Geräusch dicht neben sich, ein Säuglingsschmatzen. Sie weinte vor Erleichterung, als sie das warme Gesichtchen ihrer Tochter ertastete, Juli aufnahm und an ihr Herz drückte.
Die Tür ging, kalte Luft wehte heran.
„Gehst verdammt oft austreten, Vetter.“
Das war die neue Stimme, die des dritten Mannes.
„Wo viel reinläuft, muss auch viel raus“, gab der andere zurück und lachte, so, als glaube er seine Worte selbst nicht.
„Sie ist bei Sinnen. Gib ihr Brot.“
Das klang fast fürsorglich.
„Wozu sie füttern?“, hörte sie die ekelhafte, ölige Stimme.
Scheinbar hatte der neu Hinzugekommene das Sagen, denn er erwiderte nichts, und trotzdem ergänzte der andere gleich darauf mürrisch: „Mein ja bloß.“
Etwas wurde ihr in den Schoß geworfen. Sie nahm es und biss hinein. Juli begann zu weinen.
„Da hört ihr es. Wieder plärrt das Balg. Lass nur jemand in der Nähe sein, der zu neugierig ist und meint, nach dem Rechten schauen zu müssen.“
„Quatsch nicht. Mach weiter.“
Das Brot war trocken, Hedwig schluckte hart an dem zerkauten Brei, sie nahm ihren Mut zusammen und sagte erstickt: „Herr, lasst mich sie auswickeln. Nehmt mir die Binde ab. Ich schaue auch gewiss nicht zu euch.“ Ihr Herz raste. Sie hatte es immerhin versucht.
Sie erhielt keine Antwort. Nichts geschah.
Juli weinte und stank, und Hedwig wünschte, sie hätte Honig und Mohn zur Hand, um sie zum Schlafen zu bringen, wie sie dies von Tante Barbara gelernt hatte, die ihre Tochter Sophia ebenfalls auf diese Art besänftigte, wenn sie nicht aufhörte zu plärren. Ihre Base war eineinhalb Jahre alt, und beim Gedanken an sie und ihre Familie stiegen die Tränen erneut in ihr hoch. Dann war einer dicht bei ihr, drückte ihren Kopf unsanft nach unten und band ihr den Lappen von den Augen.
Hedwig blinzelte. Der Raum schien in Licht getaucht – im Vergleich zu der Schwärze, welche sie die ganze Zeit umgeben hatte. Sie wagte nicht aufzusehen.
„Sieh zu, dass sie Ruhe gibt!“, befahl jener, der neu hinzugekommen war, aus dem gegenüberliegenden Winkel.
Der ihr die Augenbinde abgenommen hatte, stand noch schräg hinter ihr. Sie zwang sich dazu, ihn nicht wahrzunehmen, bemerkte nur helle lederne Hosen und Stulpenstiefel. Dahinter flackerte Feuer in einer Feuerstelle. Zusätzlich musste es Laternen geben, denn die Ecke, in der die beiden anderen Männer saßen, lag in gelbem Lichtschein. Hedwig schaute auf Juli, die sich in ihrem Schaffell und den Windeln, in die sie geschnürt war, nicht rühren konnte. Deshalb weinte sie so ausdauernd. Sie wollte die Ärmchen bewegen, mit den Beinen strampeln. Also begann sie, auf Juli einzuflüstern, sie sah nicht auf dabei, wusste den Mann noch immer hinter sich, gewahrte die dunkle Hüttenwand rechts von sich, die aus Lehm zu sein schien, hörte dahinter den Wind durch die Nacht streichen. Jetzt sah sie auch, dass sie auf einer verschlissenen Wolldecke kauerte, die auf dünn ausgestreutem altem Stroh lag.
Sie versuchte, das Augenmerk einzig auf das Auswickeln ihrer Tochter zu richten, nahm das Schaffell weg, das wollene Tuch. Dabei flüsterte sie mit Juli, die nur noch in Schüben keckerte, da sie die Augen ihrer Mutter sah, die die ihren festhielten, da sie die Stimme ihrer Mutter vernahm, die beruhigend auf sie einsprach, da sie merkte, dass das geschah, wonach sie so lauthals verlangt hatte. Hedwig löste die Windelschnur, mit der Juli von den Schultern ab bis zu den Beinchen umwickelt war. Dann nahm sie die Außenwindel fort, Juli krähte geplagt, strampelte. Der Gestank wurde beißender. Ohne aufzuschauen sagte Hedwig: „Bitte Wasser … und vielleicht … Ich hatte ein Bündel …“
„Bah, das stinkt ja!“, kam es von der Feuerstelle.
Der hinter ihr rührte sich, kurz darauf warf er den Trinkschlauch neben sie. „Das muss reichen“, befand er. „Hier, dein Zeug.“ Madame Beliers einst wohlverschnürtes Bündel landete neben dem ledernen Trinkbeutel. Sie hatten es durchsucht, Trageschnur und Leinenumhüllung waren lose, das dunkelgraue Wollgewebe zerwühlt.
Hedwig entfernte nun auch die Ärmelwindel, Juli lag nackt vor ihr. Der Boden war kalt, das Wasser war kalt. Sie konnte nur hoffen, dass es ihrer Tochter keinen Schaden zufügte. Ohne zu fragen, griff sie den Lappen, den man ihr von den Augen genommen hatte, tränkte ihn mit Wasser und säuberte Juli. Diese begann bei der Berührung mit dem kalten Nass erneut zu schreien. Verzweifelt flüsterte Hedwig auf sie ein, streckte ihr zwei Finger der anderen Hand hin, damit sie nach ihnen langen konnte – und erstarrte. Ihr Ehering war fort! Heiß schoss ihr das Blut in die Wangen. Ihr Ehepfand! Philipps Geschenk für das Eheversprechen. Hatte sie ihn verloren? Oder hatte man ihn ihr weggenommen? Juli nahm die Finger nicht, sie weinte, wenn auch nicht mehr so schrecklich laut, und drehte den Kopf hin und her. Wie aus weiter Ferne drang die ölige Stimme zu ihr: „Ich mach die Löschung. Von einem Balg war nicht die Rede. Die Bezahlung wird höher ausfallen müssen.“
„Du nimmst, was vereinbart ist.“
„Es war schwer, Weib samt Säugling aus der Stadt zu schaffen. Erhöhte Gefahr erhöht die Besoldung.“
Ein trockener Knall, den Hedwig nicht einordnen konnte, folgte diesem Ausruf.
„Zwanzig Gulden mehr oder ich mach nicht weiter.“
„Der Teufel soll dich … Du wagst es?!“
Hedwig beugte sich vor, sprach leise auf Juli ein, die anhaltend greinte. Ihre Tochter war sonst ein ruhiges Kind. Dass sie jetzt weinte, lag nicht nur daran, dass sie zu lange eingewickelt gewesen war. Es lag an der Kälte, der sie ausgesetzt war, es lag an den lauten Männerstimmen, die sie erschreckten, und es lag sicher an der Angst, die sich von ihr, Hedwig, auf das Kind übertrug, dessen war sie gewiss. Mit zitternden Fingern umwickelte sie den Hintern der Kleinen mit dem Leinen, das als Umhüllung für das Wollgewebe gedient hatte.
Die Männer stritten nun lautstark. Hedwig versuchte angestrengt, nicht auf ihre Worte zu hören. Sie umhüllte Julis Oberkörper nur mit der kleinen Ärmelwindel, statt die Ärmchen darin fest einzuwickeln. Die Außenwindel, die als Nächstes käme, war kotverschmutzt, sie nahm stattdessen das Wolltuch, wickelte ihre Tochter locker hinein und verzichtete darauf, sie einzuschnüren. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als das neue Wollgewebe zu benutzen. Es war zu viel Tuch. Trotzdem umschlang sie den kleinen Körper mit der gesamten Menge und legte ihre Tochter auf das Schaffell. Langsam verebbte Julis Greinen.
Hedwig wusste nicht, wie sie sich nun verhalten sollte. Die Männer stritten, sie wagte nicht, sich zu rühren, behielt ihre Haltung bei und blieb mit ihnen zugekehrtem Rücken sitzen.
„Du Hundsfott bist nur auf deinen eigenen Vorteil bedacht!“ So dünn und blechern diese Stimme auch klang, jetzt, in Wut, hatte das Blech scharfe Kanten.
„Ach? Und zu wessen Vorteil machen wir das hier?“
„Auch du ziehst Nutzen daraus!“
„Der größer sein könnte. Nehmt’s von ihrem Eheherrn.“
„Wir zahlen die ausgemachte Summe. Punktum.“
Das sagte jener, der später erst hinzugekommen war.
Der Schmierige wollte also mehr Geld. Wofür? Was tat er dort am Feuer, wofür er Geld bekam? Und wofür er dieses viele Licht benötigte?
Ein Schaben, als würde ein Stuhl zurückgeschoben. „Scheiß drauf, ich hab genug von euch beiden Jammerlappen. Ihr sagt Ja oder ich verzieh mich. Seht doch zu, wer euch hilft.“
„Der Teufel soll dich … Du nennst mich nicht Jammerlappen!“ Etwas polterte, Gerangel entstand, Hedwig konnte nicht anders, sie musste den Kopf drehen und hinschauen.
Einer saß an einer offenen Feuerstelle auf einem Faltstuhl. „Hört auf!“, befahl er den beiden anderen, die sich in drohender Haltung gegenüberstanden. Der Größere kehrte ihr den Rücken zu, er hatte den anderen an der Kehle gepackt. Den sah sie halb von vorn, fettiges Haar, flusiges Gekräusel rund ums Kinn, und Augen, zusammengekniffen vor Wut. Er beugte sich nach hinten weg, suchte der Umklammerung auszukommen und stolperte über einen umgefallenen zweiten Faltstuhl. „Nur wenige Gulden mehr, Roth. Trägst sie sonst eh nur zu den Huren.“
Die Bewegung war fließend. Mit dem Ausruf „Hundsfott!“ stieß der Größere den anderen von sich, zog sein Schwert und stieß es ihm in den Leib.
Ungläubig glotzend sank der kleinere Mann zu Boden.
Hedwig schlug die Hand vor den Mund.
Der Dritte sprang auf. „Bist du von Sinnen!“ Er beugte sich über die zu Boden gesunkene Gestalt.
Blankes Entsetzen packte Hedwig. Sie presste Juli an sich und drückte sich in den Schatten der Hüttenwand. Der Niedergestochene hob einen Arm, röchelte, schließlich hustete er. Dann griff er sich mit einer matten Bewegung an die Seite. Blut färbte seine Finger. Der, der ihm das Schwert in die Seite gerammt hatte, stand breitbeinig da und glotzte auf ihn hinab. Hedwig sah ihn halb von hinten, halb von der Seite, viel hellbraunes Leder, Haare, die im Feuerschein rötlich schimmerten. „Das kommt, wenn man den Hals nicht voll genug bekommt, Scheißhaufen!“, stieß er hervor. Er war der mit der blechdünnen Stimme.
Der Dritte sah ihn an, wütend, vorwurfsvoll. Hedwig gewahrte sehr kurzes Haar, ein dünnes, dunkles Bärtchen um Kinn und Lippen. „Unbeherrschter Ochse! Steh nicht rum, hol was zum Verbinden!“, schimpfte er.
Dem am Boden fielen die Augen zu. Diesem Frettchen also gehörte jene widerlich ölige Stimme, die sie zu verabscheuen gelernt hatte. Stumpf vor Angst und Grauen starrte Hedwig hin. War er tot? Da drehte der Hellbraune sich um, kam auf sie zu. Hedwig hielt den Atem an. „Her mit dem Tuch!“
Mit zitternden Fingern kam sie seinem Befehl nach, wickelte es von Julis kleinem Körper. „Bitte!“, flehte sie, doch ihr versagte die Stimme. Juli würde erfrieren, wenn er ihr das warme Tuch nähme. Der Mann beugte sich herab. Mit grober Gleichgültigkeit riss er das Kind aus dem Gewebe, da ihre Finger zu langsam waren. Als sie die Brutalität sah, mit der er Juli einen Schlag verpasste, da begriff sie, wie taub und tot vor Pein, dass sie verloren war, dass ihr Leben und das ihrer Tochter keinen Pfifferling wert war, denn wenn der schon so toll war, seinen Kumpan niederzustechen, der ihm behilflich gewesen war – welches Schicksal erwartete dann erst sie?
Herbst 1595

Acht
Philipp hing schräg auf dem Stuhl in der Kammer, die Hedwig stolz „unsere Wohnkammer“ nannte.
Aber Hedwig war nicht da. Juli war nicht da.
Er starrte in die rußende Flamme des Talglichts auf dem Tisch. Sein Mantel war feucht, er zurrte ihn dennoch enger, kreuzte die Arme vor der Brust, aber warm wurde ihm nicht. Seine Finger waren eisig. Die Stube war kalt, dunkel. Er hatte kein Feuer in dem gusseisernen Gluttiegel entzündet.
Wie lange saß er hier, zerschlagen und niedergeschlagen? Er wusste es nicht. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen.
Knarren im Gebälk, er hörte das rasche Trippeln der Ratte im Fachwerk, die sie noch immer nicht gefangen hatten. Sonst war es still, auch Wittib Ringeler, die Vermieterin, plärrte unten im Erdgeschoss noch nicht mit ihren Kindern herum. Kein Gerufe, Gezänk und Gemach vom Jakober Tor her.
Philipp hatte kein Wort für das Gefühl, das ihm in Mark und Bein brannte. Wut? Es war mehr als das. Zorn? Es war mehr als Zorn. Hilflosigkeit? Ja. Schmerz? Grenzenlos und allumfassend, wie er ihn nie für möglich gehalten hätte. Julis Quengeln und Schmatzen, ihr Gebrabbel, das er frühmorgens vernahm, im Halbschlaf noch, wenn Hedwig sie stillte und leise mit ihr sprach. Das zufriedene Grunzen seiner Tochter. Nebenan in der Schlafkammer stand das Körbchen aus Flechtwerk, in das sie sonst gebettet lag. Leer. Wo war seine Tochter?
Philipp spürte, wie der Kloß im Hals sich löste. Er schluckte. Neigte den Kopf, bedeckte die Augen mit der Hand und weinte. Er konnte nichts dagegen tun. Es überwältigte ihn.
Nach einer Weile hob er den Arm und wischte sich den Rotz von der Nase. Nachdenken. Eine ungeheure Anstrengung – und doch rumpelte es in seinem Kopf, unablässig, sprangen die Gedanken von hier nach da, gaukelten Hoffnung, sprachen von Irrtum, rissen ihn in Verzweiflung, zeigten ihm wieder und wieder den Ablauf des gestrigen Abends, schimpften ihn einen Tor, einen Narren. Er dachte daran, wie er zu sich gekommen war, weil seine Zähne hart aufeinanderschlugen. Er hatte im Schnee gelegen, sein Schädel hatte gebrummt, ihm war übel gewesen. Er hatte nicht gewusst, wo er war. Um ihn her Dunkelheit und Kälte, auf seinem Mantel eine weiße Schneedecke. Die Erinnerung war gekommen, als er benommen auf eine tönerne Flasche starrte, die neben ihm im Schnee stand. Diesen Augenblick des jähen Begreifens, das ihn durchfahren hatte wie ein zischender Pfeil, würde er niemals in seinem Leben wieder vergessen können. Er hatte die Tücke begriffen, die hinter des Finsterlings Handeln steckte: Sollte man ihn finden, würde die Flasche hinlänglich Zeugnis davon ablegen, dass er am Martinsabend einen über den Durst getrunken und es nicht mehr nach Hause geschafft hatte.
Aufgerappelt hatte er sich. Hatte die Flasche im hohen Bogen von sich geworfen. War heimgeschlichen, im Mund einen bitteren Geschmack, im Schädel ein infernalisches Hämmern. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als das, was er durchlitt, auch wenn dies ein gotteslästerlicher Gedanke sein mochte.
Nachdenken. Konnte, sollte er sich jemandem anvertrauen? Er lachte trocken auf, als ihm einfiel, dass die Kanzleiordnung gebot, dass die Kanzleiverwandten untereinander „kein Gebolder oder ungeschicktes Wort gebrauchen“ und sich vor allem gegenseitig mit Rat und Tat helfen sollten. Wer konnte ihm helfen? Nickel gewiss nicht. Der umsichtige, ältere Kanzleiknecht Conradt Hofman? Der Vizekanzler? Doch was sollten sie tun? Wo Hedwig und Juli suchen? Vielleicht waren sie bereits … Nein! Das durfte er nicht denken! Er verscheuchte diese Angst. Nein, niemand konnte ihm helfen. Er musste warten. Morgen Mittag würde er das Buch erhalten und es zurückbringen in die Kanzlei. Danach würde er Hedwig und Juli zurückbekommen.
Das Morgengeläut der Franziskanerkirche ließ ihn hochschrecken, ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Er war tatsächlich eingeschlafen!
Das Talglicht war ausgegangen. Durch das Hinterfenster schimmerte das Leuchten schneebedeckter Dächer im Novemberdunkel.
Die Knie knackten, als er sich reckte. Harndruck. Sein Nacken schmerzte, er langte hin, spürte die Beule am Hinterkopf. Sein Mund war trocken, er schluckte mehrmals, ein Kratzen im Hals. Er befühlte die geschwollene Wange und sog die Luft ein. Sie verfärbte sich wohl schon. Er stand vom Stuhl auf. Sämtliche Gliedmaßen taten weh. Außer die Zehen, die spürte er in den nassen Stiefeln schon gar nicht mehr. Er bewegte sie. Eine Qual. Er ächzte. Humpelte die zwei Schritte zum Geschirrschrank, nahm den Krug Wasser, trank in großen Schlucken. Eiskalt rann die Flüssigkeit seine Kehle hinab.
Die Glocken läuteten, im Erdgeschoss schlug die Tür, dass das kleine Haus zitterte. Schneegedämpftes Pferdegetrappel. Männerstimmen von fern. Heidelberg erwachte.
Er musste nun zum Haus Belier.
Dann in die Kanzlei. Tun, als ob nichts wäre.
Er sah sich in der Stube um. Ohne Hedwig war sie ohne Leben. Tisch, Stühle, eine hohe Truhe, ein Wandbord, der dreiarmige Kerzenständer, den sie eines Tages angeschleppt hatte und um dessentwillen er sie gescholten hatte, denn sie benutzten ja kaum Kerzen, schon gar nicht drei auf einmal. Jetzt tat es ihm leid. Dabei hatte er ihr selber Geschenke mitgebracht in den eineinhalb Jahren, die er sie in Reilingen besucht hatte, während er in Schwetzingen bei Onkel Dietmar und später bereits in Heidelberg lebte. Die kleine Lammfigur aus Horn, weil sie Tiere so gerne mochte. Eine Neckarmuschel an einem Lederband, die sie nicht hatte tragen können, solange ihr Vater ihre Verbindung nicht erlaubte, weshalb er sich heimlich mit ihr traf. Sie hatten so viel auf sich genommen! Nie mehr würde er sie ausschelten. Sie sollte nur wohlbehalten zu ihm zurückkommen.
Bevor die Verzweiflung ihn erneut übermannte, straffte er entschlossen die Schultern. Es half ja nichts. Er musste los. Also trat er zur Waschschüssel, die auf der Truhe stand, wusch sich mit dem kalten Wasser das Gesicht, spülte den Mund aus, um den bitteren Geschmack loszuwerden. Griff mit beiden Händen ins Haar, strich es mit gespreizten Fingern nach hinten. Dann öffnete er die Tür. Vermaledeit! Bestimmt zwei Zoll hoch lag der Schnee auf der Außentreppe.
Hell schimmerte der Hof unter ihm in der Dunkelheit. Wittib Ringelers Ältester war dabei, den Weg zum Abtritt frei zu fegen. Dick eingemummt war er und sah nicht auf, obwohl das Knarren der Tür zu hören war, als Philipp sie schloss. Eine Laterne mit einer brennenden, dicken Kerze hing an einem kahlen Ast des alten Apfelbaumes neben dem Abtritt.
Philipp überlegte, ob er die Stiegen frei fegen sollte, als seine Vermieterin durch die Küchentür am Fuß der Treppe in den schmalen Hof kam. Wittib Ringeler, den Schopf zur Gänze von einem zweifarbig gestreiften, im Nacken geknoteten Tuch eingehüllt, dessen langes Ende ihr im Rücken wie eine Schärpe auf dem wollenen Umhang lag, trug den Nachttopf in der einen, einen Eimer in der anderen Hand. Sie gab acht, dass sie nicht ausrutschte und stapfte mit festen, vorsichtigen Schritten gen Abtritt.
Als spüre sie ihn im Rücken, wandte sie den Kopf und sah zu ihm herauf. „Ach, aber da seid Ihr ja, Herr Eichhorn!“, rief sie. „Wo wart Ihr gestern Abend? Ihr wolltet doch das Mädchen zu mir bringen.“
Jäh kam Philipp dies zu Bewusstsein. Sie hatten Juli bei Wittib Ringeler lassen wollen, während sie mit den Freunden feierten. Was nun?
Ihr Sohn hielt mit Kehren inne, sah herauf und grüßte. Er hatte eine schmale Gasse frei gefegt, keine halbe Rute mehr bis zum Bretterverschlag, hinter dem der Abtritt lag.
Philipp erwiderte den Gruß. Zum Henker, er konnte nicht wie angewurzelt hier oben stehen bleiben. Außerdem musste er dringend pissen. Vorsichtig stapfte er die schneebedeckten Stufen hinab. Was sollte er sagen?
Er war kaum am Fuß der Treppe angelangt, da hob Wittib Ringeler beide Arme leicht an und klagte: „Nicht mal den Unrat kann man ungehindert in die Schissgrube werfen, Herr Eichhorn! All der Schnee! Gott sei Dank ist der Nachttopf nicht eingefroren. Einen Guten Morgen auch!“
Den wünschte er ihr nun ebenso. Philipp hatte nichts gegen seine Vermieterin. Sie war freundlich und hilfsbereit, hatte Hedwig sowohl während der Schwangerschaft als auch nach der Geburt beigestanden, und jeden Montag und Mittwoch kochte sie für ihn und Hedwig mit, da sie keine Küche hatten in ihren beiden Räumen, die einst von der gesamten Familie Ringeler bewohnt worden waren. Aber seit der Mann vor acht Jahren gestorben war, musste die Witwe schauen, wie sie mit ihren sechs Kindern zurechtkam. Gleichwohl hielt sie den Mietzins moderat und schlug für das Essen lediglich zehn Kreuzer drauf.
Deshalb war es Philipp gerade jetzt eine Qual, sie zu treffen. Er war voller Sorgen und hatte Angst, dass man sie ihm anmerkte. Er suchte sich daher so knapp wie möglich zu halten, indem er raunte: „Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich rasch zuerst …?“ Er nickte gen Abtritt.
„Geht nur, geht!“, rief die Witwe. „Mach Platz, Lutz. Lass Herrn Eichhorn durch!“
Philipp hastete an dem aufgeschossenen Burschen vorbei.
Dann saß er auf dem Balken über der Schissgrube und stöhnte leise. Der Arsch wollte ihm anfrieren, so kalt war das. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, barg den Kopf in den Händen. Vermaledeit, vermaledeit, vermaledeit. Musste sie ihm ausgerechnet heute Morgen über den Weg laufen. Wegen des Schnees war sie vermutlich später dran als sonst. Was sollte er ihr sagen, sie würde eine Antwort erwarten. Na, Dummkopf, das Gleiche wie Hedwigs Brotherrn. Ihm grauste davor. Er musste zu Beliers. Er musste einen ganzen vermaledeiten Tag warten, bis er Hedwig wiedersähe. Die Sorge zerfraß ihn. Draußen die Kehrgeräusche, Lutz’ Schnaufen. Er nahm einen der kleinen Lappen, die in einem Holzkästchen neben dem Balken lagen, und wischte sich sauber. Diese Eigenart der Wittib Ringeler schätzte er. So sie nicht selbst welche hatte, kaufte sie von Lumpensammlern alte Lappen, schnitt sie in kleine Stücke und sorgte dafür, dass der Vorrat neben dem Schissbalken nicht ausging. Auch wenn die Lappen nun starr und kalt waren, mochte Philipp das angenehme Gefühl von Sauberkeit. Als er fertig war, nahm er eine Kelle voll Kalk aus dem Eimer und warf ihn in die Grube hinunter. Auch darauf legte die Witwe Wert. Es mindere den Gestank, und wenn alle das täten, hingen die Fäulnis-Ausdünstungen nicht so sehr in den Gassen der Stadt, war die Witwe sich sicher.
Er ging hinaus.
Wittib Ringeler wartete am Apfelbaum. Nachttopf und Eimer hatte sie neben sich abgestellt, aus beiden stank es. Sie schaute ihrem Sohn zu. Der machte noch zwei, drei letzte Schlenker mit dem Besen, richtete sich auf und sagte: „Fertig.“
Philipp wollte ein Danke murmeln und sich vorbeistehlen, da fasste ihn Wittib Ringeler am Arm, neigte den Kopf näher zu ihm und raunte verschwörerisch: „Jägermeister Simmel hat mir eine schöne Lammschulter angeboten … Jaja, geh du schon rein“, richtete sie sich armwedelnd an ihren Sohn, ehe sie sich wieder Philipp zuwandte. „Günstig, wenn Ihr versteht. Da hab ich nicht Nein gesagt.“ Sie lächelte listig. Lutz stapfte davon. „Mit Rüben und Kraut gibt das ein kräftiges Süppchen, was? Freut Euch auf heute Abend!“
Heute Abend?
Mittwoch!
Philipp nahm sich zusammen. Doch noch ehe er „Sicher“ murmeln konnte, zeigte sich die Witwe bestürzt, sie reckte den Kopf näher an sein Gesicht, ihre Hand fuhr zum Mund und sie rief: „Aber was ist denn mit Eurer Wange? Ihr habt Euch doch nicht geprügelt gestern Abend?“




