- -
- 100%
- +
Hätte sie nicht reflexartig den Arm emporgerissen, der Hieb mit dem Knüppel wäre ihr Ende gewesen. Der Schlagstock traf sie mit voller Wucht, und es kam ihr vor, als würde sie unter einer heranrollenden Sturzwoge begraben. Der Ohnmacht nah, rappelte sie sich auf, ignorierte den Schmerz, der eine Schockwelle nach der anderen durch ihren Körper jagte, und starrte ihren Peiniger trotzig an.
Und stutzte.
Der Mann sah eigentlich ganz normal aus. Salopp gesagt, fast schon ein wenig zu normal. Groß, breite Schultern, kräftig, Dreitagebart, schlank, aber nicht abgemagert, blond und vermutlich auch blauäugig, bei der Schummerbeleuchtung kaum zu erkennen. Auf der Straße wäre er niemandem aufgefallen, und vielleicht war es genau das, was ihn von Gewohnheitsverbrechern unterschied. Der da gerade vor ihr stand, er kam ihr wie der Prototyp des Nordländers vor. Wäre er an ihr vorbeigelaufen, sie hätte ihn nicht mal angeschaut. Das wäre ihm vermutlich recht gewesen, je weniger Aufsehen, desto geringer die Chance, ins Visier der Kripo zu geraten.
Und noch etwas fiel ihr auf, allen Schmerzattacken zum Trotz. Der Mann sah nicht etwa wie der geborene Rowdy aus, sondern hatte weiche, fast knabenhaft zu nennende Züge. Auch die Stimme war weich, für ihren Geschmack jedoch ein wenig zu hoch. Dieser Kerl, dem sie am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte, er wusste genau, was er tat. Und er wusste, dass er leichtes Spiel mit ihr haben würde, genau wie mit den Frauen vor ihr, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.
Wie sie, eine 17-jährige Gymnasiastin aus gutem Hause, die nicht wusste, wie sie die folgenden zwei Minuten überstehen sollte.
Nur noch 120 Sekunden, zwei lumpige, im Zeitlupentempo verrinnende Minuten.
Dann war Rettung in Sicht.
Hoffte sie.
»Antworte, ich hab dich was gefragt! Tut es dir wenigstens leid, was du mir angetan hast, oder …?«
Der Werwolf kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Der Tritt, den sie ihm verpasst hatte, ließ ihn jäh verstummen.
Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Denn jetzt ging die Tortur erst richtig los. Schlag auf Schlag prasselte auf sie nieder, einer nach dem andern, sodass ihr Hören und Sehen verging. Angetrieben von blinder Wut, drosch der Unbekannte wie ein Berserker auf sie ein. Wie ein Raubtier, das nur einen einzigen Gedanken kannte, nämlich den Gegner in tausend Stücke zu reißen.
Der Werwolf hatte Recht gehabt. In zwei Minuten hatte sie es hinter sich.
Allerhöchstens.
Es sei denn, es geschah ein Wunder.
Woher sie die Kraft nahm, auf die Beine zu kommen, die Schläge abzuwehren, den gebrochenen Unterarm zu ignorieren, sie gäbe etwas dafür, wenn sie es wüsste. Vielleicht war es ihr Überlebensinstinkt, der ihr die Kraft verlieh, sich nicht widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen. Vielleicht war es aber auch nur blinde Wut, weil ihr Peiniger sie wie ein Stück Dreck behandelte, als zähle sie nicht, weil sie erst 17 war. Oder vielleicht war es auch der Drang, es dem Scheusal endlich heimzuzahlen, stellvertretend für all jene, die von ihm auf bestialische Weise getötet worden waren.
Die geglaubt hatten, ein Mensch sei zu so etwas nicht fähig.
Und ob dieser Wahnsinnige das war.
Nur noch eine Minute, oder, auf die Fahrstrecke bezogen, nicht mehr als ein lausiger Kilometer. So lange musste sie sich das Schwein noch vom Leibe halten.
So sie von ihren Kräften nicht im Stich gelassen wurde.
Das Wenige, was ihr noch im Gedächtnis war, es trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Die Hiebe mit dem Totschläger, die wie Glas zersplitternden Knochen, das Dröhnen in ihrem Schädel, der Blutgeschmack im Mund, fade, schal und übelriechend, die geschwollenen Augen, die dafür sorgten, dass sie wie eine Blinde auf allen Vieren im Abteil herumkrabbelte, all das war nichts im Vergleich zu dem, was am Ende des Höllenritts geschah.
Selbst jetzt, Stunden später, wurde sie die Scham, die sie bis in die Katakomben ihres Unterbewusstseins verfolgten, nicht los. Auf einmal, mitten im wüsten Gerangel, hatte sie seine Klaue zwischen ihren Schenkeln gespürt, hart wie aus Stahl, scharf wie die Klaue eines tollwütigen Wolfs.
Erst dann, sprachlos vor Scham, Ekel und Wut, die sie in eine wie entfesselt um sich schlagende Furie verwandelte, erst dann wendete sich ihr Schicksal.
»Bahnhof Karlshorst. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.« Die Stimme im Lautsprecher, die wie von fern in ihren schmerzenden Gehörgang drang, ließ den Unbekannten aufhorchen.
Er musste eine Entscheidung fällen, und das möglichst schnell.
Ihre Gurgel zwischen den Fängen der linken Hand, ließ der Werwolf von ihr ab, rappelte sich auf und sah sie an, als versuche er in ihrem Blick zu lesen. Sie selbst lag einfach nur da, am ganzen Körper zitternd, die Linke vor dem blutüberströmten Gesicht. Die nächsten Sekunden würden über ihr Leben entscheiden, und sie hütete sich, auch nur einen einzigen Laut der Klage zu äußern.
Doch dann, als der Bahnsteig bereits in Sichtweite kam, erwachte der Unbekannte zu neuem Leben, beugte sich über sie und entblößte die rechte Hand.
Der Mann trug eine Prothese, metallisch schimmernd wie der Greifarm eines Automaten.
»Schau sie dir an, du dreckige kleine Schlampe«, knurrte er zähnefletschend vor sich hin, einen Geruch im Mund, der ihren Ekel vor dem Monstrum noch verstärkte. Und kreischte mit sich überschlagender Stimme: »Du sollst hinschauen, hab ich gesagt! Das da habe ich ganz allein dir zu verdanken – oder behauptest du immer noch, du hättest nichts damit zu tun? Und ob du was damit zu tun hast, du mieses Stück Dreck. Halt mich bloß nicht für dumm, sonst wirst du es bitter bereuen. Weißt du überhaupt, was ich durchgemacht habe? Nein? Wegen dir kann ich nicht mehr Violine spielen, und wegen dir kleinem Aas bin ich aus der SS geflogen. Und ausgerechnet du besitzt die Frechheit, zu behaupten, du hättest mich noch nie gesehen.« Der Werwolf lachte diabolisch auf. »Weißt du, was ich denke? Ich denke, wir machen es ein bisschen spannend. Der Reiz des Ungewissen – du verstehst. Wenn ich gewollt hätte, du wärst längst tot, oder glaubst du wirklich, du könntest mir das Wasser reichen? Da müsste schon jemand anderes kommen als du, machen wir uns nichts vor. Kurzum, um dich leiden zu sehen, brauche ich Zeit. Viel Zeit. Denn wenn ich schon meinen Kopf riskiere, möchte ich wenigstens auf meine Kosten kommen. Die anderen fünf, das war erst der Anfang, die Ouvertüre, um es dezent zu formulieren. Mit dem, was dir blüht, nicht im Mindesten zu vergleichen. Glaub mir, der Tag wird kommen, an dem du bereust, mich zum Krüppel gemacht zu haben. Meine Rache wird furchtbar sein, also mach dich auf was gefasst. Egal, wo du bist, egal, wo du dich versteckst, egal, was du dir einfallen lässt, um mich an der Nase herumzuführen, du entkommst mir nicht!«
An der Abteiltür angekommen, riss der Unbekannte eine Pistole hervor, zielte auf ihren Kopf und zischte: »Das Einfachste wäre, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber keine Angst, mit dem Schießprügel zu agieren ist nicht unbedingt mein Ding. Gut Ding will Weile haben, das ist nun einmal so. Aber was soll’s, wenn es so weit ist, werde ich dich aufspüren – und wenn es Jahre dauert, bis ich dich finde. Ich komme wieder, sei gewarnt!« Die Augen weit offen, warf der Unbekannte einen verzückten Blick nach oben, während ihm der Speichel in Strömen zwischen den Mundwinkeln hervorsickerte. Und sprach mit bebender Stimme: »Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, zu dir wird kommen alles Fleisch!«
Kurz darauf, nachdem der Zug endlich zum Stehen gekommen war, war er wie vom Erdboden verschluckt.
CONFUTATIS
Wenn zum Schweigen gebracht werden die Verdammten,
Flammis acribus addictis,
den verzehrenden Flammen ausgesetzt werden,
Voca me cum benedictis.
dann rufe mich mit den Gesegneten.
Oro supplex et acclinis,
Ich bitte unterwürfig und demütig
Cor contritum quasi cinis,
mit einem Herzen, das sich in Reue im Staub beugt,
Gere curam mei finis.
trag Sorge zu meinem Ende.
(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)
2
Berlin-Schöneberg, Kaiserin-Auguste-Viktoria-Krankenhaus
21:30 Uhr
»Eine Vernehmung, in diesem Zustand? Kommt überhaupt nicht infrage, Herr Kommissar!«
Der Chefarzt sah seinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Das war die eine Hälfte des Problems. Die andere bestand darin, dass er sich auch so benahm. Und genau damit kam Tom Sydow nicht zurecht.
»Seien wir doch mal ehrlich: Wären Sie an meiner Stelle, Sie würden genauso handeln. Die Ärmste hat genug durchgemacht, und wenn sie etwas braucht, dann ist es Ruhe – und zwar so viel wie irgend möglich.«
»Und was, wenn der Täter erneut zuschlägt? Ihre Fürsorge in allen Ehren, aber …«
»Kein Aber, Herr von Sydow. Meine Entscheidung steht unverrückbar fest.«
Der Halbgott in Weiß hatte gesprochen.
Eine finale Geste, und Sydows Déjà-vu-Erlebnis war komplett.
So hatte es zumindest den Anschein. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Herr Kommissar. Morgen früh sehen wir weiter.«
»Auf die Gefahr, Ihr Nervenkostüm zu strapazieren: Bis dahin könnte es zu spät sein.« Und dann auch noch die Reminiszenzen an seinen alten Herrn, mit dem ihn eine innige Hassliebe verband. Für Sydow, dem die Anstrengung deutlich ins Gesicht geschrieben stand, des Schlechten entschieden zu viel. »Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Herr Doktor: Jede Minute zählt. Je früher ich mit dem Mädchen reden kann, desto größer die Chancen, den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen.«
»Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Das Wohl der Patientin geht vor.«
»Das will ich ja auch gar nicht bestreiten, Herr Doktor …«
»Wilmers. Facharzt für Klinische Chirurgie«, vollendete die anerkannte Koryphäe, rein äußerlich in den besten Jahren, wofür seine Gesichtsbräune beredt Zeugnis ablegte. Das eisgraue Haar fiel dabei nicht übermäßig ins Gewicht, und man musste schon genauer hinsehen, um die Falten unter den stahlblauen Augen zu entdecken. »Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Herr Kommissar«, fuhr der Stationsleiter höflich, aber bestimmt fort, gab Sydow einen Wink, ihm zu folgen, und trat an die schalldichte Panoramascheibe, um einen Blick auf die 17-jährige Notfallpatientin zu werfen. »Aber ich kann das nun mal nicht verantworten. Wie gesagt, morgen ist auch noch ein Tag.«
Der Kopf gleich mehrfach bandagiert, das Gesicht, in dem es kaum noch eine unversehrte Stelle gab, dunkelrot gefleckt, der linke Arm fast vollständig von einem Verband umhüllt, während der rechte an der mobilen Drainage hing. Ein Anblick, bei dem Sydow Mühe hatte, den Groll in seinem Inneren zu bezähmen. »Wie Sie sehen, hat die junge Dame schwerste Verletzungen erlitten, und wir können von Glück sagen, dass sie noch am Leben ist.«
»Das können wir in der Tat«, räumte Sydow mit nachdenklicher Miene ein, wechselte einen Blick mit dem zuständigen Revierleiter und kam nicht umhin, den Chefarzt genauer in Augenschein zu nehmen. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater war frappierend, und wie immer, wenn er mit seinem Vorleben konfrontiert wurde, machte sich Wehmut in ihm breit. Zeitlebens waren sie sich nie wirklich nah gewesen, nicht etwa, weil der Wille dazu fehlte, sondern weil Vater und er den gleichen Sturkopf besaßen. Kam es zu Streitigkeiten, die zuletzt überhandnahmen, konnte von Einlenken nicht die Rede sein. Auch deswegen, weil seine Mutter zunehmend Partei für ihn ergriff. Der häusliche Friede, sofern man das Wort in den Mund nehmen konnte, war somit nachhaltig gestört. Ein Grund unter vielen, weshalb sich seine Mutter nicht anders zu helfen wusste, als die Scheidung einzureichen. An den Moment, als sie ihre Koffer packte, um in ihre englische Heimat zurückzukehren, erinnerte sich Sydow noch genau, als ob es erst gestern Abend gewesen wäre. Das Geräusch, wie sie die Freitreppe hinunterging, die Schritte auf dem Kiesweg vor dem Herrenhaus am Neuruppiner See, das herumwirbelnde Herbstlaub, bleifarben und vermodert, die Abfahrt des Taxis vor der Toreinfahrt, das mit aufheulendem Motor davonraste, als befände sich die Insassin auf der Flucht, all das würde er nie vergessen.
»Sieht wirklich schlimm aus, Herr Doktor, keine Frage.« Vor fünf Jahren, als er zur Kripo ging, war es dann zum Bruch zwischen ihm und seinem alten Herrn gekommen. Sydows Weigerung, die Tradition des Hauses fortzuführen und wie sein Vater in den diplomatischen Dienst einzutreten hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. An Versuchen, den Riss zwischen ihm und dem Chef des Hauses zu kitten, hatte es zwar nicht gemangelt. Doch selbst seine Schwester, bei seinen Eltern schon seit Kindertagen die Nummer eins, hatte es nicht geschafft, den Disput zwischen Vater und Sohn zu beenden. Sein alter Herr machte ihm zum Vorwurf, dass er zur Kripo gegangen war, unter anderem, weil er die Meinung vertrat, für einen von Sydow zieme sich so was nicht. Wie nicht anders zu erwarten, hatte der so Gescholtene die Kritik nicht auf sich sitzen lassen und argumentiert, als Ministerialdirigent im Außenministerium mache sein Vater mit den Nazis gemeinsame Sache. Für Letzteren Grund genug, den Filius in hohem Bogen vor die Tür zu befördern und sämtliche Leinen, die Sydow mit ihm verbanden, abrupt und unwiderruflich zu kappen. Er selbst ließ es geschehen – und dachte trotz aller Wehmut nicht im Traum daran, den Kontakt zu seiner Familie wieder aufzunehmen.
»Stur wie ein Preuße«, wenn es jemanden gab, auf den der Vergleich zutraf, dann war es Tom Sydow, Kommissar bei der Kriminalinspektion Berlin. »Wie Sie bereits sagten, Herr Doktor: Die Rekonvaleszenz der Patientin geht vor.«
»Aber?«
Sydow gab ein ratloses Schnauben von sich, gestikulierte ziellos mit der Hand und dachte kurz nach, bevor er weitersprach: »Sie sagten doch, das Mädchen sei übern Berg, oder verstehe ich Sie da falsch?«
»Keineswegs«, gab Wilmers mit entschiedener Miene zurück, nahm die Brille ab, um sie am Ärmel seiner Kutte abzureiben, und sah sein Gegenüber abwägend an. »Aber das hat nicht viel zu sagen, Herr Kommissar. Sie sehen ja selbst, der linke Arm des Mädchens ist gebrochen, und ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie sich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hat. Ob und inwieweit das Nervenzentrum in Mitleidenschaft gezogen wurde, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. Dazu wäre es zu früh, die Untersuchungen sind noch im Gange. Sicher ist, das Mädchen hat ordentlich was abbekommen, dazu Hämatome, Blutergüsse und Schwellungen an den Armen. Von daher wage ich zu bezweifeln, ob es Sinn macht, sie einer polizeilichen Befragung zu unterziehen.«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber …«
Der Chirurg schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kann verstehen, was in Ihnen vorgeht, Herr Kommissar. Es ist Ihre Aufgabe, den Vorfall so schnell wie möglich aufzuklären, und als Privatmann habe ich vollstes Verständnis dafür. Aber als Arzt muss ich darauf bestehen, dass das Wohlergehen der Patientin Vorrang hat, ungeachtet der Konsequenzen, die sich daraus ergeben.« Die Hände abwehrend in die Höhe gestreckt, ließ sich Wilmers nicht erweichen. »Bitte üben Sie sich in Geduld, die Patientin braucht dringend Ruhe.«
»Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber mit Geduld allein kommen wir hier nicht weiter.«
»Versetzen Sie sich doch mal in ihre Lage, Herr Kommissar. Von einem wildfremden Mann halbtot geprügelt zu werden, das muss man doch erst mal verkraften. Bedeutet, wie es mit ihrer Psyche steht, möchte ich gar nicht wissen. Bei allem Verständnis, schlagen Sie sich das mit der Vernehmung aus dem Kopf. Als Mediziner kann ich die Belastung nicht verantworten.«
»Eine Frage noch, Herr Doktor. Gibt es Anhaltspunkte, die auf eine Vergewaltigung schließen lassen?«
»Sagen wir mal so: Es sieht so aus, als habe er es versucht.«
»Er?«
»Na, der Täter, um wen auch immer es sich gehandelt haben mag. Wenn wir gerade dabei sind: Wenn man auf Volkes Stimme hört, dann steht seine Identität ja wohl fest, oder?«
Sydow schnaubte amüsiert. »Schön wär’s. Um ganz ehrlich zu sein, wir haben nicht mal eine heiße Spur.«
»Und wer tut so was?«
»Ich wäre froh, wenn ich es wüsste, Herr Doktor Wilmers.«
»Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt, Herr Kommissar«, hielt der Chirurg in einem Anflug von Unverständnis dagegen, die Brille zwischen Daumen und Zeigefinger, an der er mit geistesabwesendem Blick herumhantierte. »Sie wissen doch genau, wer als Mörder infrage käme, oder sehe ich das falsch?«
»Glauben heißt nicht wissen, Herr Doktor Wilmers«, machte Sydow dem Rätselraten ein Ende, deutete auf die Patientin und sagte: »Sie sagen also, er hat versucht, das Mädchen zu missbrauchen?«
»Missbrauch ist gut!«, stieß der Stationsleiter erbittert hervor, sichtlich mitgenommen, wie das Zittern der wohltönenden Tenorstimme bewies. »Sagen wir mal so, ich muss lange zurückdenken, um mich an einen ähnlich schwerwiegenden Vorfall zu erinnern.«
»Sie werden es nicht glauben, ich auch.«
»Falls es Sie tröstet, Herr Kommissar, ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken.« Die Stirn in einem Meer von Falten, die wie Risse in einer antiquierten Stuckdecke anmuteten, setzte Wilmers die Brille wieder auf, kratzte sich nachdenklich an der grau melierten Schläfe und ließ den Blick auf der 17-jährigen Patientin ruhen. »Wundmale an der Vagina, Kratzspuren am Oberschenkel, dazu Blutspuren im Schlüpfer. Ich kann mir nicht helfen, Herr von Sydow, aber wenn ich mir vorstelle, was noch alles hätte passieren können, dann bekomme ich das kalte Grausen.«
»Auch da kann ich Ihnen nur zustimmen, Herr Chefarzt. Apropos: Das ›Von‹ können Sie sich sparen, mit der Etikette habe ich es nicht so.«
»Und Sie sich die umständliche Anrede, mein Nachname tut es voll und ganz.«
»Na, dann wären wir uns ja einig«, erwiderte Sydow und rang sich zu einem schwachen Lächeln durch. »Jedenfalls beinahe, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Sehen Sie mal: Ich – beziehungsweise wir alle – wir alle sitzen doch im gleichen Boot.«
»Inwiefern?«
Die Hände auf dem Sims, ließ Sydow den Kopf auf die Brust sacken. Die Anspannung forderte ihren Tribut, und es fiel ihm immer schwerer, den Faden nicht zu verlieren. »Sie gestatten, dass ich Ihnen eine Frage stelle?«
Bodo Wilmers deutete ein Nicken an.
»Haben Sie Kinder?«
Der Stationsleiter pflichtete nickend bei. »Zwei, falls Sie es genau wissen wollen – einen Sohn und eine 15-jährige Tochter, wieso …?«
Im Begriff zu antworten, brach Wilmers unvermittelt ab. »Hartnäckig sind Sie ja, das muss Ihnen der Neid lassen.«
»Ach, wissen Sie, das bringt mein Beruf so mit sich«, schmunzelte Sydow und ließ es sich nicht nehmen, Kalinke einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. »Mein Kollege und ich sind da einiges gewohnt. Was unsere Stammkunden betrifft, gibt es nichts, was uns beide aus der Bahn werfen kann. Und wenn wir gerade von Hartnäckigkeit reden, die gehört nun mal zum Geschäft.«
»Und was ist mit Ihnen?«
Sydow stutzte. »Bedaure, wenn ich Ihnen gerade nicht folgen kann, aber was soll denn mit mir …?«
Der Chirurg setzte ein tiefgründiges Lächeln auf. »Ob Sie Kinder haben, wollte ich wissen – oder möchten Sie nicht darüber reden?«
»Doch. Schon.«
»Und?«
»Kinder? Verschonen Sie sich mich bloß damit!«, rief Sydow aus, verzweifelt bemüht, das Gespräch zum eigentlichen Thema zurückzuführen. »Kommen wir lieber zum Geschäft, ich möchte Sie nicht unnötig von der Arbeit abhalten.«
»Wissen Sie, Herr Doktor: Mein einfühlsamer Kollege ist selbst noch ein Kind, und die Frau möchte ich sehen, die es länger als eine Woche mit ihm aushält.« Wie immer, wenn es darum ging, ihm ein Bein zu stellen, war auf Kalinke absolut Verlass. »Stimmt’s oder hab ich Recht, Herr Kommissar?«
»Du und deine Kommentare, das hat mir gerade noch gefehlt«, blaffte Sydow zurück, warf Kalinke einen wütenden Blick zu und sah die Anwesenden in der Manier eines Stabsfeldwebels an. »Also was ist, könnten wir jetzt vielleicht zum Thema kommen? Oder ist es den Herrschaften lieber, wenn wir morgen früh noch rumpalavern?«
»Können wir, Herr Kommissar«, stimmte Wilmers lächelnd zu, wechselte ein paar Worte mit der Oberschwester und verkündete in unmissverständlichem Ton: »Fünf Minuten, aber keine Sekunde mehr. Und nur, weil Sie es sind!«
Dann entschwand er Sydows Blicken.
»Verbindlichen Dank!«, rief Sydow dem Alter Ego seines Vaters hinterher, einen Seufzer der Erleichterung auf den Lippen, den er sich aus naheliegenden Gründen verkniff. Dann wandte er sich an den Leiter des 256. Reviers in Karlshorst, dessen Namen er in der Hektik vergessen hatte. »Um Zeit zu sparen – was wissen wir über die junge Dame?«
Der schweißüberströmte Revierleiter, der Kalinke in puncto Gewicht noch übertraf, knetete die platte Nase und begnügte sich damit, die denkbar knappste Antwort zu geben. »Nicht viel.«
»Dann schießen Sie mal los, Herr … Wie war doch gleich der werte Name?«
»Olbricht«, gab das wandelnde Phlegma bekannt, bei dem der Rumpf fast nahtlos in den Kopf zu münden schien. Dann verdrehte er die dunklen Knopfaugen, räusperte sich und leierte: »Polizeiobermeister Hans Olbricht vom 256. Revier in Karlshorst, wenn’s gefällig ist.«
»Ist es, heutzutage freut man sich schließlich über alles«, gab Sydow in launigem Tonfall zurück, bemüht, sein aufbrausendes Naturell zu zügeln. »Dann schießen Sie mal los, Herr Kollege – was gibt es über das Mädchen zu sagen?«
»Wie gesagt, viel war aus ihr nicht herauszu…«
»Name, Alter, Elternhaus, Adresse – das kann doch nicht so schwer sein, oder?«
Olbricht fuhr erschrocken zusammen, kramte sein Notizbuch hervor und schnarrte: »Laut meinen Informationen ist das Mädchen 17 Jahre alt, stammt aus Köpenick und geht aufs Gymnasium, das heißt in die dortige Eichendorff-Schule.«
»Und heißt?«
»Bruckmann – Elsa Bruckmann.«
»Vater?«
»Stadtkämmerer und Ortsgruppenleiter der Partei, einer von den Hundertprozentigen, wenn die Bemerkung gestattet ist.«
»Ist sie, wir sind ja schließlich unter uns. Und weiter?«
»Was soll ich sagen«, ließ Olbricht achselzuckend verlauten, einen verdatterten Blick im feisten Gesicht. »Bis jetzt … äh … Bitte um Entschuldigung, aber wie ich zu meiner Schande gestehen muss, gäbe es da noch ein kleines …«
»Problem?«
Der Revierleiter nickte wie ein Wackelhund. »Die Sache ist nämlich die: Bis jetzt ist es uns noch nicht gelungen, die Eltern des Mädchens zu erreichen.«
»Einen kleinen Moment, Herr Kollege, bevor ich es vergesse. Wann genau hat Sie die Nachricht über die Gewaltattacke erreicht?«
Olbricht blätterte kurz in seinen Unterlagen, hob den Blick und sagte: »Um zwanzig nach sieben, Herr Kommissar.«
Sydow glaubte, er habe sich verhört. »Wollen Sie damit sagen, Sie und Ihre Chaoten-Combo haben über eineinhalb Stunden gebraucht, um uns zu verständigen? Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Was ist das denn für ein lahmarschiger Verein, das haut ja den stärksten Zuhälter um! Wir beide reißen uns den Hintern auf, um diesen Werwolf beim Kanthaken zu kriegen, und die Kollegen in Karlshorst machen Dienst nach Vorschrift. Ich will Ihnen mal was sagen, Sie Trantüte: Jede Minute, die nutzlos verstreicht, kann eine weitere Frau das Leben kosten, geht das in Ihren Charakterkopf hinein? Jede Minute, die wir mit sinnlosem Gequatsche verplempern, könnte dazu führen, dass wir uns weiter bis auf die Knochen blamieren, als ob das nicht schon oft genug der Fall gewesen wäre.« Sydow schüttelte entnervt den Kopf. »Fünf Tote, und Sie tun so, als gehe die Welt davon nicht unter. Als müssten Sie nur ein paar Strafzettel verteilen, und dann sei die Sache erledigt. Sind wir doch mal ehrlich, Herr Kollege: Wenn die Sicherheitskräfte auf Draht wären, dann hätte der Werwolf keine Chance. Was ich damit sagen will, ist: Noch so ein Vorfall wie heute, und wir sind bei den Leuten unten durch. Und zwar endgültig. Ergo: Entweder wir ziehen alle an einem Strang oder der Werwolf macht uns endgültig zum Affen. Fünf Tote sind genug, oder wollen Sie, dass die Gestapo den Fall Werwolf übernimmt? Wie ich sehe, sind Sie lange genug im Geschäft, um sich vorzustellen, welche Konsequenzen das für die beteiligten Kollegen haben könnte. Eins garantiere ich Ihnen, werter Herr Olbricht: Wenn die Jungs aus der Prinz-Albrecht-Straße erst in Fahrt kommen, dann gibt es für die Truppe kein Halten mehr. Dann werden Köpfe rollen, und wenn es der Teufel – will heißen: der Reichsführer – will, dann können Sie sich einen anderen Job suchen. Falls Sie überhaupt dazu kommen, das sollte ich vielleicht dazusagen. Noch Fragen, Herr Polizeiobermeister, oder muss ich vielleicht noch deutlicher werden?«


