- -
- 100%
- +
Der Abgrund unter ihm zerrann gewöhnlich zu einer weichen, hügeligen Landschaft. Saul stand am höchsten Punkt. Unter ihm, irgendwo im Tal, musste dieses Haus sein, versteckt unter den Baumkronen, das sich zu später Stunde immer durch das bescheidene Licht in einem der Fenster verriet. Aber nichts brannte dort gerade, alles tarnte sich in diesem Schwarz. Unmöglich, jetzt noch die schmale Straße zu erkennen, die sich durch die Hügel schlängelte, nur um in der Ferne von dem immergrünen Wald verschluckt zu werden.
Wie mit einem Kinnhaken versuchte der aufgekommene Wind, Saul zurückzustoßen. Er musste ihm standhalten, um nicht nach hinten zu kippen. Das schwarze Haar wehte er ihm aus dem Gesicht, entblößte es, der Zug blies ihm fast die Kleidung vom Körper. Die Luft drang durch den Mund, durch die Nase, ein Lufthieb drang durch das Luftrohr in die Lungen, füllte, pumpte die beiden Flügel voll, sodass sie gegen den Rippenkäfig drückten. Prall geworden, quetschten sich die Lungen gegen die Rippen, alles in seinem Rumpf weitete sich, der Bauch trat hervor, alles mit Leere gefüllt, er hätte platzen können. Saul taumelte und spannte den gesamten Körper an. Er stockte und atmete langsam aus, schrumpfte auf sein übliches Sein zurück.
In dämmerblaue Haut gehüllt, stand er da und ließ sich von den Luftstößen anschlagen. Der Wind versetzte ihm mehrere Hiebe ins Gesicht, stieß ihn mit Gewalt zurück, rempelte ihn an. Saul hätte sich nach vorne fallen lassen können, hin zum Abgrund, und es wäre nichts passiert. Die Stöße prallten auf ihn von vorne, rammten ihn an der linken Schulter, der rechten, schlugen auf ihn ein, schlugen aufeinander ein. Saul schloss die ausgetrockneten Augen und ließ sich vom Wind durchfegen. An den Haarwurzeln zog es, die Haare peitschten ihm ins Gesicht, in Strähnen schleuderte es sie hin und her, und plötzlich, unerwartet, schlug der Wind so heftig zu, dass Saul leicht nach hinten kippte. Um die Balance in den Griff zu bekommen, riss er die Augen auf und machte einen Schritt zurück, um sich gerade noch auf den Beinen zu halten.
Da sah er sie. Sie stand ruhig neben ihm, die Haare wanden sich wie aufgescheuchte Schlangen, aber sie stand regungslos, vom Wind wie unberührt. Den Blick nach vorne gerichtet, schaute sie in die weite Dunkelheit, schaute, ohne zu blinzeln, stand wie errichtet neben ihm, einen Schritt weg vom Abgrund.
Jedes Mal, wenn ihre Haare aus dem Gesicht flogen, erhaschten seine Augen ihre Züge. Ein Profil wie jedes andere, er hätte sie kennen können, hätte sie in dieser Ortschaft jeden Tag zufällig passieren können, und sie wäre ihm wahrscheinlich nicht aufgefallen. Sie starrte in die Ferne, heftete ihren Blick entschlossen auf etwas. Er versuchte, den Weg ihrer Pupillen nachzuverfolgen, sah ebenfalls in die Weiten der Nacht, aber da gab es keinen Punkt, den sie hätte fixieren können. Mehrmals blickte er auf sie, seine Augen wanderten zum Tal, wanderten zurück zu ihr, aber ratlos stand er daneben. Sein Mund öffnete sich, etwas Kurzes, an sie Gerichtetes entschwand ihm, aber der Wind hatte es stumm gepfiffen. Er versuchte es nochmal. Seine Kehle presste Laute hervor, die die Zunge und die Lippen mit Bedeutung versahen, aber erneut war jedes Wort im Wind untergegangen. Diesmal spannte er seinen gesamten Körper an, holte tief Luft, die Stimme stieg aus seinem Inneren, aus dem Bauch in den Rachen, bahnte sich ihren Weg durch die Mundhöhle, die Zunge streifte sachte den Gaumen, streifte die Zahnreihen, die Lippen trafen sich und fuhren auseinander, taten alles, um dem, was da herauskam, einen Sinn zu geben, um die Buchstaben unterscheidbar zu machen, die hörbaren, die stummen, die sich zu einem Guss, einem Satz verschmolzen hatten, zu einer sinntragenden Masse hatten sich die einzelnen Wörter geschweißt, aus Wörtern wurden Worte – aber nichts war von alledem zu hören, immer noch das unartikulierte Wiehern des Windes, das sich durch den hohlen Abgrund jagte.
Der Himmel auf Augenhöhe, färbte er sich in ein düsteres Grau, und langsam ließen sich die Hügelspitzen erkennen.
Der Wind blies Saul die Haare aus dem Gesicht. Er taumelte erschrocken und stützte sich mit einem Schritt nach hinten. Kaum hatte er sich bewegt, drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, drehte ihn wie ein Greifvogel zu ihm, nur den Kopf am unbewegten Körper, und heftete ihre Augen auf ihn. Für eine einzige Sekunde weiteten sich ihre Pupillen und schrumpften sogleich auf einen Punkt zurück. Saul stand wie erschlagen da, nichts regte sich an ihm, der Wind pfiff durch seine Ohren, pfiff durch seine Nase, pfiff durch seinen Körper. Sie starrten sich an, aber weder er noch sie rührte sich. Sauls Mund brach diesen Stillstand. Die Laute, bedeutungsbeladen, drückten sich wieder durch seinen Rachen, wie Knollen würgten sie sich hoch und, durch die Lippen geformt, gewannen sie erneut an Gehalt. Er sprach, aber auch diesmal hatte der Wind jeden einzelnen Ton in seinem Heulen erstickt. Nur Saul wusste um den Inhalt dieser Laute, nichts war jedoch zu ihr durchgekommen. Sie starrte immer noch auf ihn, ohne zu blinzeln. Saul rappelte sich auf, hartnäckig wiederholte er seinen Satz, der jedes Mal vom Wüten des Windes zunichtegemacht wurde. Er ballte seine Fäuste und brüllte ihn nochmal, schrie ihn gegen den Wind, der ihn immer wieder auslöschte, Saul wiederholte den gleichen Satz, wiederholte ihn, bis er seinen Sinn verlor, wiederholte ihn, bis jedes einzelne Wort zu einer Ansammlung an Lauten verkam, er wiederholte sie trotzdem, bis zur Verzweiflung brüllte er gegen diesen Lärm, aber nichts erklang, nichts bahnte sich seinen Weg zu ihr. Saul riss seine Augen auf und, statt einen neuen Versuch zu wagen, entließ er diesmal einen Schrei, einen wortlosen, verwahrlosten Schrei. Mit einem Mal legte sich der Wind, von einem Moment auf den anderen brach das Tosen ab, schlagartig fielen die flatternden Haarenden auf die Schultern, die unbändige Kleidung hörte auf, sich vom Körper losreißen zu wollen. Nur der Schrei durchschnitt die Luft. Diese vom Körper losgerissene Stimme schmetterte sich durch die Leere, echote durch das Tal, hallte zurück und drang in Sauls Ohren – er erschrak. Er fuhr zusammen, klappte den Mund zu, und sein Blick sprang sofort zu ihr. In Angst, bei ihr das gleiche Entsetzen hervorgerufen zu haben, richtete er besorgt seine Augen auf sie, nur um festzustellen, dass sich nichts in ihrem Ausdruck verändert hatte. Von seinem Ausbruch unbeeindruckt, sah sie ihn an, stierte teilnahmslos in seine Augen, dann, endlich, wandte sich ihr Blick von ihm ab und verlagerte sich auf den Wald hinter ihm.
Statt dem finsteren Wall waren schwarzgrüne, hochgewachsene Fichten in Erscheinung getreten, aber nur in den vorderen Reihen, während im Waldinneren weiterhin surrende Dunkelheit lauerte. Saul folgte ihrem Blick. Kaum hatte er ihn auf den Wald geheftet, sah er sie schon an sich vorbeiziehen. Sie passierte ihn geräuschlos, wie ein Gespenst, und peilte das undurchdringbare Baumwerk an. Sie bewegte sich geschickt durch den Irrgarten herumliegender Zweige voran und, in der Entfernung zu einer winzigen Figur geworden, verschwand sie bald hinter den groben Stämmen.
Sie blieb stehen, sobald sie es in ihrer Nähe knacken gehört hatte, wandte sich um und sah Saul wortlos ins Gesicht. Zwischen die Einkerbungen ihrer Brauen hatte sich die Dunkelheit gebettet. Zwischen die Lippen hatte sie sich geschlichen, unter die Augen, hatte die feinen Zuglinien zu schwarzen Flecken ausgedehnt. Jede Einbuchtung und Furche füllte sie mit ihrer dunklen Materie. Die Nacht klammerte sich an jede Gelegenheit, um sich zu erhalten, bevor sie sich vom Tag fortjagen ließ.
Sie setzte ihren Gang erst dann fort, nachdem Saul mehrere Schritte von ihr weggetreten war, sich um mehrere Meter von ihr entfernt hatte, sodass der Abstand zwischen ihnen so groß war, dass sie füreinander keine Menschengröße mehr darstellten. So liefen sie durch den Wald, während das Morgenlicht sich verhalten durch die Wipfel fallen ließ. Je länger sie liefen, desto tiefer versuchte es hindurchzudringen, aber gelangte nicht weit über die Spitzen hinaus. Jeder Ast, schwer herunterhängend, schirmte den Anbruch des Tages ab, beherbergte die Nacht, die dort zumindest noch die nächsten paar Stunden walten durfte, nur noch in den kleinsten Verstecken des Zweigwerks, um dann Stunden später mit gesammelter Kraft wieder den Tag in Gewahrsam zu nehmen.
Sie stampften über wuchernden Efeu – Blätter wie deformierte Hände, zusammengeschmolzene Fingerglieder, schmarotzten sich aus dem Boden durch die gesamte Landschaft. Seine Sprossachsen krochen über Baumstämme, verholzten und rissen sie langsam in den lichtlosen Tod. Unter den Fußsohlen knacksten die abgefallenen, ausgetrockneten Zweige, wie Baumgebeine. Saul lief von Stamm zu Stamm, folgte jedem ihrer Schritte, bis der Wald abrupt aufhörte.
Mitten im Morgen stand sie unter dem kahlen, weißen Himmel. Mitten im Morgen holte Saul sie ein, die mit dem Ende der Dunkelheit stehen blieb. Er trat aus dem Wald, sie standen nebeneinander da.
4.
Der Löffel schlug gegen das feine Porzellan, als sie den Zucker in ihrem Kaffee auflöste. Sie rührte, obwohl die kleinen Kristalle sich längst verflüssigt haben mussten, rührte die Temperatur aus dem Getränk und stierte gedankenverloren in den Strudel vor sich. Nach einer Weile nahm sie den Löffel heraus, klopfte damit auf den Tassenrand und legte ihn auf den Stehtisch.
Nebeneinander, auch wenn zwei Meter dazwischen, waren sie die Straße hinuntergelaufen. Hin und wieder schielte Saul verstohlen zu ihr, aber sie lief geradeaus, ohne auch nur einmal seinen Blick zu erwidern. Als sie sich dem Café näherten, streckte Saul mechanisch seinen Arm nach ihr aus, tippte sie sachte mit dem Handrücken am Oberarm an und, als sie ihre Augen auf seine Hand heftete, deutete er auf das Schild, während ihr Blick seinem Zeigefinger folgte.
Durch die Scheibe sah man den Barista, mit einer langen grünen Schürze bekleidet, die Stühle aufstellen. Kaum hatte Saul die Tür aufgestoßen, klingelte es über ihren Köpfen, das erste Geräusch, seitdem sie das menschenlose Schweigen des Waldes hinter sich gelassen hatten. Sie blickten beide automatisch nach oben, Saul gerade noch über die Schwelle getreten, sie direkt hinter ihm. Der metallene Durchgangsmelder hatte die Stille kaputtgeschrillt und war kurz darauf wieder verstummt, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Der Barista sah sie an, ein hoher Hocker noch in seinen Händen, hielt inne und ließ ihn langsam hinunter, ohne den Blick von seinen ersten Gästen zu lösen.
Saul räusperte sich. Der erste Versuch, sich einen Kaffee zu bestellen, ging daneben, die Stimme versagte im ersten Moment. Nachdem er sich für einen Schwarzen ohne alles entschieden hatte, drehte er sich fragend zu ihr, aber sie erwiderte nichts, musterte bloß die Wände des Cafés. Saul wandte sich wieder zum Barista um und hob zwei Finger nach oben.
Einen Berg Zucker und drei Behälter Kaffeesahne kippte sie in die pechschwarze Flüssigkeit. Beige Schwalle wölkten auf und verfärbten den Kaffee hellbraun, die Tasse füllte sich bis an den Rand, büßte ihre Hitze ein. In kleinen Schritten und ohne das Behältnis aus dem Blick zu lassen, trug sie es mit beiden Händen hinaus, während Saul ihr die Tür aufhielt. Der Durchgangsmelder klingelte wieder, aber sie lief unbeeindruckt die zwei Stufen hinab und peilte einen der Stehtische draußen an. Saul beobachtete stillschweigend das Geschehen und folgte ihr letztendlich, nachdem sie ihren Kaffee abgestellt hatte.
Sie schlürfte beim Trinken, obwohl die Flüssigkeit nicht heiß war. Irgendwann, bei der Hälfte, kramte sie aus ihrer Manteltasche Rauchzeug hervor, drehte sich eine Zigarette und schob den Haufen zu Saul hinüber, ohne ihn auch nur anzusehen. Während er seine Zigarette vorbereitete, hatte sie sich ihre angezündet, rauchte sie im Stillen, bevor sie vom Klopfen an der Fensterscheibe unterbrochen wurde. Beide drehten sie den Kopf nach hinten, der Barista rieb zwei Finger an den Daumen, Saul legte die Zigarette an den Tischrand, holte seinen Geldbeutel aus der Innentasche und ging ins Café.
Er zahlte, gab großzügig Trinkgeld und, als er an der Theke stehend nach draußen sah, hatte sich seine Vorahnung, die sich leise beim Betreten angekündigt hatte, bestätigt: Auf den weißen Stehtischen standen zwei Tassen, und es wartete auf ihn – niemand.
5.
Er rutschte beinahe aus, als er den Hügel hinunterlief. Der Kies, den man vor Monaten auf den Asphalt geschüttet hatte, um dem Glatteis entgegenzuwirken, bedeckte noch spärlich die Straße und stellte eine neue Gefahr dar, vor allem wenn die Füße wie von selbst den Abhang hinuntermarschierten. Saul fing sich zwar, aber lief von da an mit einer anderen Aufmerksamkeit, auch wenn er die Geschwindigkeit seines Gangs kaum kontrollieren konnte. Je weiter er nach unten kam, desto schneller bewegten sich die Füße voran, in unaufhaltsamen Schritten stieg er hinab und näherte sich der Ortsmitte. Kaum war er unten, verlangsamte er seinen Marsch, die Steinchen rollten unter ihm davon, er hörte ihr sachtes Aufschlagen auf den Straßenbelag. Bald waren auch die letzten unter ihnen zum Erliegen gekommen, und ganz plötzlich wurde es still um ihn.
Erst als er an die Tür herantrat, wurden Geräusche hörbar – dumpfe Stimmen, Klirren der Gläser. Er legte seine Hand auf das Holz, spürte die seichten Rillen, die sich darauf wie dürre Adern entlangzogen, drückte dagegen, aber es geschah nichts. Die Feuchtigkeit, seit Wochen in der Luft, hatte sich ins Holz eingeschlichen, hatte sich darin breitgemacht und den einfachen Zutritt zur Schankwirtschaft verbarrikadiert. Wäre es nicht der Rahmen, der sie im Griff hielt, wäre die Tür wahrscheinlich weiter angeschwollen, aus dem Viereckigen heraus, wäre immer mehr mutiert, bis zur Unerkennbarkeit, hätte sich von ihrem Zweck gelöst. Aber Saul war hartnäckig geblieben, er drückte fest dagegen, stieß sie mit der Schulter auf und schleuderte sie damit aus der Einzäunung.
Kaum flog sie auf, hafteten einige wenige Blicke auf ihm, flüchtig, um den Neuzugang zu registrieren. Schon wandten sich die paar Köpfe ab und widmeten sich wieder ihrer ursprünglichen Beschäftigung.
Wie üblich blickte Saul als Erstes nach links zu den Vierernischen entlang der Fensterfront, wo er immer saß, erspähte sofort eine freie, die letzte in dieser Viererreihe, steuerte sie an und setzte sich mit dem Rücken zur Wand, sodass er den Überblick über die komplette Wirtschaft behielt. Er lehnte sich gegen den Tisch, beugte sich vor und sah sich um. Kaum wanderten seine Augen über den Tresen, stand der Wirt neben ihm, nickte ihm zur Begrüßung zu und brachte ihm ein Bier. Saul umfasste den verschwitzten Krug, der sofort nach dem Abstellen einen unebenen Ring in den Deckel eingemorscht hatte, und fuhr sich den Rand an den Mund.
Er konnte den Weg des ersten Schlucks genau nachverfolgen, bis dieser im Magen angekommen war. Die Kälte breitete sich in seiner Brust kurz aus, Saul krümmte sich in seinem Mantel zusammen, zog sich wie in einen Panzer zurück. Die Schulternähte, die schon sowieso über dem Oberarmansatz hervorstanden, ragten nun wie Hörner in die Seiten, er versank in diesem Filzkörper, nur der Kopf schaute wie ein lästiges Glied hervor, das nicht zum Ganzen gehören wollte.
Der Krug war nur noch zu einem Drittel gefüllt, und Saul hielt ihn mit beiden Händen auf dem Tisch umfasst. Darüber gebeugt und in sich versunken, hingen ihm die Haare ins Glas, während das Schaummuster an den Wänden immer mehr eintrocknete. Durch die willkürlichen Ornamente starrte er auf den bernsteinfarbenen Inhalt, die Augenbrauen zusammengezogen, die Unterlippe schlaff, glänzte noch von dem letzten Schluck. Saul zog sie ein, nahm den Krug am Henkel und kippte den Rest des Biers hinunter. Das Schaumwölkchen rutschte die glatte Glaswand entlang, kam auf dem Boden auf und glitt ins Flüssige auseinander.
»Ein Zufall war’s und nichts als Zufall.«
»Niemals, es war geplant.«
Der Hinterkopf vor ihm, ein kurzgeschorener, spaltete sich in zwei Stimmen, fiel in zwei Timbres auseinander, die sich gegenseitig widersprachen.
»Wer plant denn so was?«
»Jemand, der einen guten Sinn für Humor hat.«
»Das ist nicht lustig, das ist morbide!«
»Gut, morbiden Sinn für Humor.«
»Du hältst das für witzig?«
»Ich hab gelacht.«
»Die ganzen Leute … die Alten, sie hätten doch vor Schreck umfallen, hätten einen Herzinfarkt kriegen können, einfach so, vor Schock, hast du daran gedacht?«
»Dann hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wo sonst, wenn nicht in einem Bestattungsinstitut krepieren?« Die Stimme hinter dem Hinterkopf lachte.
»Ich fass es nicht!«
»Oh, hab dich nicht so. Ist ja nichts passiert. Wenn was passiert wäre, wäre es überall in den Zeitungen, es ist aber nichts passiert, alle sind anscheinend wieder gesund und munter aus dem Saal marschiert.«
»Das war doch ein Glücksfall!«
»Übertreib nicht.«
»Ich fass es nicht! Du kommst zu einer Beerdigung, siehst den Toten gerade noch im Sarg liegen, aufgebahrt, und schon steht er vor dir! Einfach so! Gerade noch im Sarg und dann plötzlich vor dir! Du drehst dich um – Leiche, schaust wieder geradeaus – Geist! Ich wär selbst vor Schock erstarrt, mir wär das Herz stehen geblieben!«
»War ja kein Geist. War der Bruder, der vor denen stand.«
»Ja das wissen die anderen doch nicht! Die wissen doch nicht, dass der da, der vor ihnen steht, der Bruder ist! Der Tote hat doch niemandem erzählt, dass er einen Zwilling hat, den er zu seiner Beerdigung eingeladen hat, ohne dem Dorf Bescheid zu sagen! Niemand wusste davon! … Du lachst? Das ist krank! Das ist grausam! Das ist ein kaltblütiges Experiment, ein herzloser Scherz, wenn es einer war. Das muss ein Versehen gewesen sein, nein, ich glaube nicht, dass es beabsichtigt war, das ist zynisch, das ist boshaft! Ich kann nicht glauben, dass du darüber lachen kannst! Hör auf!
Das ist Grausamkeit, reine Grausamkeit! Reine Grausamkeit von ihm, reine Grausamkeit von dir! Du lachst? Das grenzt an Psychopathie, so etwas witzig zu finden! Das ist auch Sadismus vom Verstorbenen, Leute da für eine absurde Situation zu benutzen, für einen Scherz, mit ihren Gefühlen, ihrer Gesundheit zu spielen … Warum tut man so was? Das ist doch alles kein Spiel, das ist nicht witzig! Hör auf zu lachen, hör endlich auf damit!«
Der Hinterkopf schlug mit der Faust gegen die Tischplatte, sprang auf, steckte eine Hand in seine Hosentasche, warf einen zerknüllten Geldschein auf den Tisch, quetschte sich aus der Sitznische und eilte davon.
Sauls Atem stockte für eine Sekunde.
Sie saß da, saß vor ihm, ihre Augen trafen sich, als sie, von ihrem Gegenüber verlassen, in aller Ruhe an ihrem Bier nippte. Die zweite Stimme war die ihre, sie hatte ihr Gesicht angenommen, ihren Körper, hatte sich ihr angekörpert, das bekannte Gesicht, das er vor zwei Wochen noch in der Morgendämmerung angebrüllt hatte, das stille, lautlose Gesicht, das seinen stummen Schrei ausgehalten hatte. Sie sah ihn an, das Lachen steckte ihr noch in den Mundwinkeln, steckte noch in ihren Augen, und sie hielt still. Sauls Blick, wie eingerastet, haftete auf ihr. Er starrte sie an, während ihr das Lachen immer mehr aus dem Gesicht wich. Sie blickte zur Seite, schielte nach hinten, ob sein Blick jemand anderem galt als ihr, drehte den Kopf wieder zu ihm und sah ihn an.
»Kannst ja doch reden.« Seine Stimme presste sich durch die unbewegten Lippen.
Sie kniff die Augen zusammen und erwiderte nichts. Die Finger wanderten vom Krughenkel zum Tisch, abwechselnd klopfte sie mit ihnen gegen das Holz, eine Fingerkuppe nach der anderen schlug einen Rhythmus, ihr Blick blieb auf Saul haften.
Er nahm seinen Krug und kippte den Bierrest hinunter, sie tat es ihm gleich.
Während er seine Augen endlich von ihr abwandte und sie über die Wirtschaft wandern ließ, musterte sie ihn. Dann drehte sie ihren Kopf zur Theke, suchte den Blick des Wirts, hob ihre Hand und, sobald er sie registrierte, machte sie aus fünf Fingern zwei. Nur wenig später brachte er zwei Bier, stellte beide bei ihr ab und ging davon.
Q erhob sich, nahm die beiden Krüge in die Hand, trat an Sauls Tisch.
»Ist das jetzt dein Zeichen der Versöhnung?«, brummte er.
Sie quetschte sich in die Nische und ließ sich auf die Bank ihm gegenüber fallen. Schweigend sah sie ihn an, schüttelte unmerklich den Kopf.
»Ein Zeichen der Aufmerksamkeit ist es höchstens, dein Bier ist ja leer.«
Sie hob ihren Krug an und hielt ihn ihm entgegen. Saul tat es ihr gleich, zögerlich, sie stieß mit ihrem gegen seinen und nahm drei große Schlucke. Mit einer Handbewegung wischte sie sich den Schaum von den Lippen weg.
»Du bist der Neue.«
Saul blickte sie wortlos an.
»Ich frag ja nur. Will nur sichergehen.«
Auch diesen Satz ließ er unbeantwortet, sah hinunter zu seinen beiden Händen, die spröden Knöchel von dunkelroten Punkten übersät. Eine verkrustete Streu bedeckte seine Haut. Auf den hervorstehenden, runden Knochen waren tropfenförmige Reliefs verteilt, Blutrinde von Verletzungen, die er nicht wahrgenommen hatte.
»Du bist der, der den Wal angekauft hat, nicht? Diesen Bau am Rand, bei den Äckern.«
Sauls Blick wanderte zu ihr.
»Man spricht von dir, als wärst du ein Gespenst.«
Die Krone auf dem Bier, das für Saul gedacht war, hatte sich im Bernsteinfarbenen aufgelöst. Nur ein schmaler, weißer Ring aus winzigen Bläschen an der Glaswand erinnerte an ihr einstiges Bestehen.
»Kaum einer sieht dich, aber jeder weiß von dir. Sie verschweigen dich alle zwar, finden dich unheimlich, glaube ich, aber wenn sie von dir sprechen, dann so, als gäb’s dich nicht wirklich. Ich dachte ja immer, die hätten dich ausgedacht. Ich frage immer, wie ist er so, aber niemand weiß es, sagen nur, der arbeitet da im Wal, schuftet vor sich hin, aber keiner hat mit dir je ein Wort gesprochen, stimmt’s?«
Saul hatte seine Augen keinen Millimeter von ihr bewegt.
»Bist auch einfach aufgetaucht und verschwunden, da vorm Tal. Wie ein Phantom. Ist ja auch fraglich, ob das Ganze überhaupt stattgefunden hat«, entgegnete er endlich, aber Q nahm bloß einen Schluck von ihrem Bier und sprach, als hätte es seinen Einwurf nicht gegeben:
»Trink doch, worauf wartest du?«
Er musste die Haut am verhärteten Gips aufgeschürft haben, als er versucht hatte, ihn vom Beton zu entfernen. Die frischen Kratzer, deren bräunliches Rot am hellsten war, lagen nur wenige Stunden zurück. Es waren auffällige Schrammen, tiefer als sonst. Saul stierte auf seine Hände und las die Chronik des Tages an der Form, Größe und Verfärbung seiner Verletzungen ab.
»Kann ich mir das mal anschauen?«
Saul hob seinen Kopf, seine Augen wanderten wieder zu ihr.
»Kann ich?«
Er sah zu seiner Hand, sah zurück zu Q, kratzte sich ratlos am Kopf, mit derselben Hand, die sie anscheinend sehen wollte. Er streckte sie ihr zögerlich entgegen, ließ sie ein Stück über die Tischoberfläche gleiten, mit den aufgeschürften Knöcheln nach oben – aber sie sah nicht mal hinunter.
»Wie es innen aussieht. Weiß ja niemand außer dir.«
Das Bier musste ihm in den Kopf gestiegen sein. Das Kinn gesenkt, wanderten seine Augen nach oben, er sah sie ratlos an, eine Strähne rutschte ihm vors Gesicht.
Sie blickte ihm erwartungsvoll entgegen.
Saul öffnete seinen Mund, die Frage steckte ihm schon in den Augen, lag auf seiner Zunge, aber Q kam ihm zuvor:
»An die fünf-sechsmal bin ich die letzten Jahre insgesamt dran vorbeigelaufen, die ersten Male noch vor deiner Zeit hier, das ist schon so lange her, da war der Wal einfach nur ein verlassenes Gebäude, das niemand beachtet hat. Aber kürzlich, da hab ich was gehört drinnen. Und draußen war Schutt, haufenweise. Und mit jedem Mal war ein größerer Berg davor, was ist da denn alles drinnen? Höhlst du den ganzen Bau einfach aus?«, sie sah ihn an und ein Lächeln deutete sich auf ihrem Gesicht an. »Du treibst dem Wal sein Inneres wie einen Dämon aus, hab ich mir beim letzten Vorbeigehen gedacht.«
Saul sah sie an, unmerklich zeichnete sich in seinem Gesicht eine Milde ab. Er umklammerte das Bier mit einer Hand, fuhr den Krugrand an seinen Mund und ließ die fade gewordene Flüssigkeit hineinlaufen. Der Knorpel an seinem Hals sprang geräuschlos nach oben, sprang nach unten, verharrte wie ursprünglich in der Mitte, und der Krug wanderte zurück zum Tisch.


