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„Ein Journalist, der für einen Artikel über Bombentrichter und andere Relikte des Militärs in der Wahner Heide recherchierte, hat das Haarbüschel dort gefunden und die Polizei verständigt. Der hat es sich allerdings auch nicht nehmen lassen, die Geschichte exklusiv dem EXPRESS zur Verfügung zu stellen.“ Er zeigte auf die reißerische Titelseite, die den Journalisten mit dem verfilzten Mopp in der Hand zeigte. „Konzentrier‘ Dich am besten nur auf das wenige Wesentliche.“ Er blätterte einfach weiter und hielt mir nun den Bericht der involvierten Polizisten inklusive der Zeugenaussage eines Herrn Gruber unter die Nase. „Vielleicht lässt sich ja mit dem, was wir haben zumindest die Identität klären. Der Rest ist wie gesagt leider schon durch den Kamin in Mechernich“, erklärte er mir und verdrehte jetzt seine kompletten Gesichtszüge. „Gibt’s Fragen?“, wollte mein Chef noch wissen.
„Gab es keine Handtasche?“, fragte ich.
„Wie bitte?“
„Ist dort oder in der Nähe keine Handtasche gefunden worden? Eine Frau geht doch nicht ohne Handtasche!“
Er verharrte vor meinem Schreibtisch und nestelte an seinen Bartstoppeln.
„In die Natur offenbar schon – sie hatte jedenfalls keine dabei oder sie war längst weg. Du kannst ja mal im Fundbüro nachfragen. Willst Du sonst noch was wissen?“
„Nein, alles klar.“ Mist, da wollte er gerade gehen und mir fiel ausgerechnet jetzt noch etwas ein: „Das heißt, eine Frage habe ich noch: Vermutest Du ein Verbrechen?“
„Schwer zu sagen. Durch das schnelle Vorgehen …“, er brach den Satz ab, weil er selber merkte, dass seine Anklage den Kollegen gegenüber allmählich zu weit ging. Etwas sachlicher fuhr er fort: „Es wurden leider keine tiefergehenden Untersuchungen durchgeführt oder Spuren an den Knochen, geschweige denn am Fundort gesichert. Aber vielleicht lässt sich noch auf anderem Wege etwas rausfinden. Wir haben ja jetzt zumindest Haarreste.“ Die Frisur war seine Hoffnung. „Zusammen mit den Zähnen, die mit den Knochen gefunden wurden, lässt sich wenigstens klären, ob beides zu ein und derselben Person gehört.“
Voller Vorfreude auf meine vor mir liegende Arbeit war ich gedanklich längst abgedriftet und wusste nicht, was ich noch sagen könnte. Den Moment, in dem mein Chef wieder verschwand, konnte ich kaum abwarten. Um meine Ungeduld zu unterstreichen, scharrte ich mit den Füßen unter meinem Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf der Arbeitsplatte. Er verstand es nicht und setzte mit seinen gut gemeinten Ratschlägen fort.
„Am besten nimmst Du zuerst Kontakt mit der Stadt auf und beauftragst das Ordnungsamt, damit wir Akteneinsicht und den Ring, der noch an den Knochen steckte, bekommen. Nicht, dass die noch auf die Idee kommen, damit ihre Kosten zu verrechnen“, schlug er vor, anstatt zu gehen. „Und veranlasse bitte die Haaranalyse. Hoffentlich haben wir eine passende DNA.“
Warum macht er nicht gleich alles selbst?, fragte ich mich.
„Ja, okay!“ Ich blieb wortkarg, um noch verständlicher zu zeigen, dass er mich durchaus mit meinem Teil der Sache jetzt allein lassen konnte und mit mir aktuell kein weiterer Dialog möglich war. An Empathie mangelte es Andreas sonst nicht, aber heute blieb er in der Sache unsensibel.
„Finde irgendetwas heraus, was nicht in der Akte steht.“ Pause. Ich presste die Lippen zusammen und verkniff mir jede Konversation. Das animierte ihn allerdings nur, fortzufahren. „Und sollte es sich doch bestätigen, dass unsere Leiche eines natürlichen Todes gestorben ist, oder Dir weitere Ermittlungen aussichtslos erscheinen, kannst Du die Akte schließen.“
Leichen können nicht sterben, dachte ich und war geneigt, es auszusprechen. Da war er aber endlich gegangen.
DREI
Ziel und meine primäre Aufgabe hier im Präsidium sollte irgendwann in absehbarer Zeit die eigenständige, administrative Unterstützung von insgesamt sechs Kriminalisten sein. Je selbstständiger ich dabei agierte, desto besser – hatte mir der Personalchef bereits in meinem Vorstellungsgespräch ziemlich deutlich gesagt. Und genau darauf arbeitete ich seit dem ersten Tag akribisch hin. In den letzten Wochen hatte ich viel beobachtet, gelernt und mich langsam an die Polizeirealität herangetastet. Nach der Probezeit und einer damit einhergehenden Einarbeitungsphase würden die Tätigkeiten ausgedehnt und ich wäre dann in der Lage, eigene Erkenntnisse in die Ermittlungen zu tragen. Wenn alles gut lief, war dieser kleine Fall ein Quantensprung.
Meine Vorgesetzten und die besten Chefs der Welt, sind der eben erwähnte Andreas Kurani, 50 Jahre alt, Kriminaloberkommissar und Frank Labonte, 44 Jahre alt, sein Stellvertreter, ebenfalls Kriminaloberkommissar. Beide scharfe Analytiker und hervorragende Kriminalisten, aber ansonsten absolut unterschiedlich. Während Andreas sehr introvertiert und – sieht man mal von seinem Monolog von eben ab – eher still und einsilbig auftritt, ist Frank immer und überall präsent. Sobald er einen Raum betritt, füllt er ihn mit seinem Charisma. Bääähm! Auch optisch ist er genau das Gegenteil von Andreas. Es kommt nicht selten vor, dass Frank wie für ein Männermodemagazin gestylt, nach teuren Parfüms duftend und im Designeranzug auf der Arbeit erscheint und die reinste Provokation für diejenigen ist, die morgens aus dem Bett und in ihre nichtssagenden Klamotten vom Vor- und gerne auch mal vom Vorvortag springen. Andreas gibt sich eher so, wie man einen typischen Kriminalbeamten aus dem Fernsehen kennt. Etwas mürrisch, ansonsten kernig und sportlich. Auch optisch. Jeans, Shirt, Turnschuhe. Fertig. Vier weitere Beamte und ich sind den beiden unterstellt. Während sie ermitteln und die Arbeiten am und rund um den Tatort vornehmen, hüte ich in der Regel unser Büro im Linksrheinischen am Rande der Kölner Innenstadt. Kalk – am Puls der Kriminalität und mitten im sozialen Brennpunkt der Stadt.
Die Kollegen aus meiner Truppe sind immer die Ersten an einem Tatort und in mehreren Schichtdiensten rund um die Uhr im Einsatz. Sie werten zusammen mit den Mitarbeitern der Spurensicherung die frühen und unangetasteten Spuren aus, bevor die Vorgänge dann mit der Mordkommission gemeinsam ermittelt werden. Erst wenn ein Verbrechen mit Todesfolge aufgeklärt ist oder es nach dem Ablauf einer bestimmten Zeit nicht gelöst werden kann, wird die Mordkommission verkleinert und das Dezernat XI wieder abgezogen. Es kommt dann auch vor, hängt aber vom Arbeitsaufkommen der verschiedenen Abteilungen ab, dass wir Vermisstenfälle mit übernehmen oder im kleinkriminellen Milieu, beziehungsweise bei der Drogenfahndung ermitteln.
Nach über zwanzig Jahren im Vertrieb einer Versicherung in Köln, kam ich als absolute Quereinsteigerin und in relativ fortgeschrittenem Alter zur Polizei und genoss in diesen ersten Wochen noch die volle Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen und eine Art Welpenschutz. Es gefiel mir, die Verantwortung auf anderen breiten Schultern zu wissen und nicht selber im Fokus zu stehen. Am 1. Januar war für mich mit dieser Stelle ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen. Und trotz einer ausgiebigen Silvesternacht mit wenig Schlaf und meines ersten Feiertagsdienstes war ich voller Motivation und mit viel Vorfreude gestartet. Ich war stolz, diese Chance zur rechten Zeit für mich erkannt und angenommen zu haben. Schon seit Kindheitstagen wollte ich zur Polizei. Allerdings war es in meiner Generation zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit verbreitet, sich zur Polizeibeamtin ausbilden zu lassen und in den Jahren danach war ich viel zu bequem geworden für eine solche Veränderung, die damals wie heute erhebliche finanzielle Einbußen bedeutet.
Gefangen in meinem persönlichen Rückblick schweifte ich ab und war so vertieft im eigenen Gedankenuniversum, dass ich den Vortrag meines Chefs von vorhin trotz der vielen Informationen nicht mehr abrufen konnte und jetzt krampfhaft überlegte, was er mir so lange und breit angeraten hatte. Nachfragen zu müssen, wäre natürlich der Supergau und an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Also kramte ich in allen Gehirnschubladen, fand langsam zurück in einen Konzentrationsmodus, der die Hinweise in einer Art Endlosschleife vor meinen Augen umherflimmern ließ, bis ich wieder in der kriminalistischen Spur war und mir einfiel, dass ich zuerst bei der Stadt Köln anrufen wollte.
Nervös tastete ich über das Tattoo in meinem Nacken, das den meisten wegen meiner langen Haare verborgen blieb. Es war ein kleiner Schutzengel, der mir Kraft und Ruhe gab.
Bisher war es für mich nie unmittelbar um Tote gegangen, und jetzt blickte ich erstmalig auf eine. Das Foto zeigte die Fundstücke fein säuberlich zu einem Knochengerüst zusammengefügt. Sie waren nicht Furcht einflößend, erinnerten vielmehr an meinen Biologieunterricht in der achten Klasse, als uns Tom, das Schulskelett vorgestellt wurde und wir Schüler vom Amboss bis zur Speiche des Wadenbeins alle menschlichen Knochen persönlich kennenlernten.
Okay, um mich für meine Aufgabe zu stärken und mein Mantra zu zentralisieren, tastete ich noch mal den Engel im Nacken ab. Alles klar.
Ich griff zum Telefonhörer, räusperte mich aufgeregt und wählte die Nummer der Stadtverwaltung Köln. Nach vier Fehlversuchen und etlichem Weiterverbinden wegen nicht zuständig sein, landete ich nach einer gefühlten Ewigkeit bei einem Sachbearbeiter. Endlich, freute ich mich – verfrüht …
„Guten Morgen, ich bin Sara Lange von der Kripo Köln. Wir haben ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Fund der sterblichen Überreste einer Frauenleiche, deren Knochen kürzlich auf Ihre Anweisung hin im Krematorium in Mechernich eingeäschert wurden.“
„Ja, und welche?“
„Welche was?“
„Welche Fragen?“
„Ach so! Wir würden gerne versuchen, sie über ihre familiären Verhältnisse und die Daten in ihrem Ehering zu identifizieren und bräuchten dazu dringend Akteneinsicht. Und den Ring.“
„Aha.“
Langsam wurde ich wütend. Wie träge war der denn?
„Könnte ich die Sachen bei Ihnen abholen lassen?“
Ich visualisierte meine Vorstellung von ihm. Bestimmt saß er zurückgelehnt in einem abgehalfterten Bürostuhl, schaute genervt an die Zimmerdecke und kaute an seinem Rotstift, mit dem er im Laufe des Tages Bewilligungen aus dem Leben Bedürftiger strich.
„Ja, sicher. Aber frühestens morgen.“
Als ich ansetzte mich aufzuregen, hatte er längst aufgelegt und sich vermutlich seinem Büroschlaf gewidmet. Mannomann!
VIER
Das frustrierende Gespräch mit der Stadt Köln sollte mich nicht entmutigen, ermahnte ich mich. Als ich allerdings am Folgetag die angeforderten Dokumente in der Hand hielt, verschwand mein Enthusiasmus dramatisch unter null. Betrachtete man die gesamte Bearbeitungskette, war mein Telefonat mit dem Sachbearbeiter noch das Harmloseste. Die maßlose Gleichgültigkeit im Umgang mit der toten Frau lag nun schwarz auf weiß vor mir und eine Annäherung an die Identität der Person rückte in weite Ferne. Es gab nichts Verwertbares, und ich konnte mir nur mit Mühe vorstellen, wie ich aus einer DIN A 4 Seite, auf der nichts weiter vermerkt war, als die Anzahl der unvollständigen Knochen, eine Zusammenstellung der drei Fundstücke, die mit der Leiche im Zusammenhang standen oder stehen konnten und dem Hinweis „Natürlicher Tod“, für weitere Ermittlungen brauchbare Erkenntnisse ziehen sollte. Immerhin wurde bei der Knochenschau deutlich, dass ein großes Stück der Schädeldecke fehlte und man davon ausgehen konnte, dass der Skalp zu dem Häufchen Asche gehörte, dass nun anonym beerdigt auf Melaten lag. Im Moment schien mir nur die Gravur im Ehering hilfreich, um überhaupt an Informationen zu kommen. Der große, rote Stempelaufdruck „Krematorium“ auf dem Dokument erstickte wie erwartet jede Hoffnung, weitere Spuren zu erheben. Ihre DNA war längst in der flammenden Hölle zu Staub geworden.
Ich würde trotzdem, oder jetzt erst recht, tiefer in den Fall abtauchen und meine ganze Energie aufwenden, der Toten einen Namen zu geben.
FÜNF
Einige Tage verstrichen und inzwischen kümmerten sich die anderen Kollegen längst wieder um das Tagesgeschäft und ihre Gedanken an „Heidi“ waren verblasst. So ist das eben bei der Polizei – ich würde mich daran gewöhnen müssen, statt mich hoffnungslos an die Akte und ein paar Knochen zu klammern.
Immerhin konnten wir klären, dass das verfilzte Haar und die im Kiefer steckenden Zähne mal mit ein und demselben Kopf verbunden waren. Die Recherche im Hinblick auf eine mögliche Tasche blieb hingegen ergebnislos. Nach und nach hatte ich die Fundämter im Großraum Köln befragt. Alle meldeten negativ. Keine Handtasche oder andere abgegebenen Fundstücke in dieser Region.
„Ein Versuch war’s wert, Sara“, versuchte Frank mich aufzumuntern, der meine zahlreichen Anrufe bei sämtlichen Sammelstellen der Stadt mitverfolgt und mich immer wieder dasselbe hatte sagen hören.
„Es war wirklich ein guter Ansatz. Ich glaube, da wären wir Männer so schnell gar nicht drauf gekommen.“ Vielleicht hatte er ja recht und sein Trost war ernst gemeint. „Lass uns einen Haken an die Sache machen. Sie frisst sonst unsere Energie. Am besten schreibst Du einen Fünfzeiler in unser Polizeiportal, berichtest kurz über den Fund und darüber, dass wir mangels Hinweisen die Sache abschließen und davon ausgehen, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt.“ Ich schaute ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Wie, natürlicher Tod?“ Ganz selbstverständlich und als hätte er nie etwas anderes angenommen, meinte er: „Ist so – frag halt nicht!“
Also verkniff ich mir weitere Fragen – aber ganz aufgeben wollte ich noch nicht. Ich schrieb den kurzen Bericht, so wie Frank es wollte, setzte ihn in unser Portal und ließ die Akte in meiner Schublade verschwinden. Man weiß ja nie. Auf jeden Fall würde ich „Heidis“ Ehering für unsere Datei professionell ablichten und auf seinen Wert schätzen lassen. Dazu steckte ich ihn in eine kleine Schachtel und brachte diese zu unserem Kurierdienst, der die Fahrt zu einem Sachverständigen für Schmuckstücke in die Kölner Innenstadt übernahm. Darüber und über meinen Plan, für heute die Arbeit niederzulegen, informierte ich Andreas auf dem Weg Richtung Ausgang des Polizeipräsidiums.
„Habt ihr noch was für mich oder kann ich Feierabend machen?“, säuselte ich ihm ins Ohr, damit er sofort erkannte, dass es nur eine Antwort gab.
„Klar kannst Du abhauen. Wir haben nichts mehr.“
„Daaaanke“, jubelte ich und verschwand in der Menschenmenge der Kalker Hauptstraße, bis die nächste U-Bahn-Station mich verschlang und die Bahn mich am Neumarkt wieder ausspuckte. Ich machte alles, was in den letzten Wochen zu kurz gekommen war. Shoppen, Eis essen, weiter shoppen, was anderes essen, weiter shoppen. Es war herrlich und ich fuhr beschwingt nach Hause. Für morgen nahm ich mir vor, die Akte „Heidi“ zu schließen und den Fall hinter mir zu lassen. Die anderen hatten vermutlich doch recht: Natürlicher Tod!
SECHS
Die polizeiliche Ignoranz machte ihn wütend und es begann, schmerzhaft in ihm zu brodeln. Sage und schreibe vier Jahre hatten sie gebraucht, die Tote zu finden. Erst ein Typ aus Bayern musste dafür durch die Wahner Heide reisen und über die Knochen stolpern. Hätte er Name und Adresse, würde er ihm dafür ein Geschenk schicken oder gar einen Orden. Dankbar war er jedenfalls. Die Polizei hatte es nicht hinbekommen, das Opfer zu finden, geschweige denn, das Verbrechen an der Frau zu bemerken. Sie hatten sie jahrelang ignoriert und nicht einmal mitbekommen, dass sie verschwunden war. Die Nummer Eins auf seiner Liste. Dabei hatte ihre Leiche mitten in der Wahner Heide gelegen – sozusagen auf einem Präsentierteller. Nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Und, als wäre die polizeiliche Ignoranz nicht schon genug, taten sie es nach ihrem Auffinden in einem lächerlichen Fünfzeiler, zu allem Überfluss und lapidar, auch noch als natürlichen Tod ab. Lächerlich! Er war frustriert, hätte alleine deswegen schon wieder ausrasten können und hoffte doch sehr, dass sein zweites Opfer deutlich schneller gefunden werden würde. Es war zum jetzigen Zeitpunkt noch in voller Schönheit und wartete darauf, die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Und auch dieses Mal war es nicht zugedeckt – nicht vergraben – nicht versteckt. Die Kraft für die tagtägliche, vergebliche Hoffnung auf einen Bericht über das Auffinden der nächsten Leiche, konnte und wollte er nicht ein weiteres Mal aufbringen. Seine Werke verdienten mehr Respekt. Sie sollten Aufsehen erregen und für Schlagzeilen auf den Titelseiten der Presse sorgen. Und endlich jedem verständlich machen, dass es keine andere Wahl für ihn gab und, dass er noch nicht am Ziel war. Noch lange nicht!
SIEBEN
Das rotweiße Absperrband der Polizei flatterte mit dem Wind, obwohl die Entdeckung der Knochen bereits ein paar Wochen her war und der Fund längst nicht mehr im Fokus der Ermittlungen stand. Inzwischen hing es allerdings in einem Dornenbusch, einige Meter vom Fundort entfernt. Vielleicht hatte es eines der Tiere, die in der Wahner Heide leben und vorbeigezogen waren, in seinem Gehörn mitgeschleift und der nächsten dornigen Hecke überlassen. Für sie war längst wieder animalische Normalität eingekehrt – da störte auch das Plastikband nicht.
Die meisten Lebewesen hier sind überwiegend in den Nächten auf Streife, um Nahrung zu suchen. Da ist die Ruhe auch für sie am größten und sie können, auf ihrer Jagd nach etwas Fressbarem, ihre Beute besser über die Sensorik ihres feinen Gehör- oder Geruchssinnes wahrnehmen. Die lehmigen Randstreifen entlang der Straßen der Region sind dann spätestens in den Morgenstunden aufgewühlt und deuten auf Wildschweine hin, die dort regelmäßig in der schützenden Dunkelheit wühlen. Hier ist der Boden etwas weicher, als der der freiliegenden Flächen im Inneren des Areals. Und nicht so sandig. Auf einem der Parkplätze, die entstanden waren, nachdem die Kasernen der Belgischen Armee abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht wurden, stand seit einiger Zeit ein Mini Cooper mit dem amtlichen Kennzeichen SU – X 1029.
ACHT
„Polizeidienststelle Siegburg, Sie sprechen mit Sebastian Börne. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
Die Polizeidienststelle Siegburg wurde am 4. April 2017 über das Verschwinden von Lena Grimm informiert, ungefähr vier Wochen nachdem sie ihren Wagen auf einem Parkplatz in der Wahner Heide abgestellt und offenbar nicht wieder bewegt hatte. Der Anruf war kein Notruf, sondern ging über die amtliche Leitung ein, sodass er zunächst als harmlose Information über eine möglicherweise vermisste, erwachsene Person bewertet wurde. Der diensthabende Börne hatte die Hinweise eines Oliver Neyer entgegengenommen, der nicht mit Frau Grimm verwandt, verschwägert oder nach dessen eigener Aussage anderswie verbandelt war. Er sei, so sagte er, ihr Chef im Sportstudio „Die Fitmacher“ in Lohmar. Dort leitete sie bis vor wenigen Wochen als selbstständige Trainerin verschiedene Gymnastikkurse und hatte ihre Tätigkeit für die Zeit einer geplanten Abwesenheit unterbrochen. So war jedenfalls ihr Plan gewesen. Außer ihm hatte Lena Grimm zuvor niemand vermisst. Zum einen hatte dies mit der angekündigten Reise zu tun – zum anderen war der Kreis ihrer Kontaktpersonen wohl ohnehin in den letzten Jahren nicht mehr sehr groß. Das meinte jedenfalls Herr Neyer. Der Rest war aktenkundig.
Ihre Familie lebte nicht mehr und sie war von ihrem Ex-Mann seit Jahren getrennt und offiziell geschieden. Grund für das Scheitern ihrer Ehe waren seine vermerkten zahlreichen körperlichen Übergriffe, wegen derer es sogar ein Verfahren gegen Herrn Grimm gegeben hatte. Zu einer Verurteilung war es seinerzeit nicht gekommen, weil seine Frau die Anzeige gegen ihn zurückgezogen hatte. Da er sie danach aber immer wieder stalkte und ihr gerne an dunklen Plätzen auflauerte, und ihr mehrfach erneut mit seiner Faust drohte, wurde er verwarnt. Er bekam ein Kontaktverbot und einen Platzverweis für die gemeinsame Wohnung. Ihm wurde in mehreren Gefährderansprachen untersagt, sich seiner Ex-Frau bis auf 20 Meter zu nähern. Es schien aber überwunden, denn seitdem war es zu keinerlei Zwischenfällen mehr gekommen. Im Hier und Jetzt lebten beide unauffällig und zurückgezogen.
Lena Grimm galt als meditativ, sehr sportlich und naturverbunden. Laut der späteren Zeugenaussagen einiger Mitdozenten und Studenten war sie in der Tat Anfang März aufgebrochen, um in eine etwa vierwöchige Auszeit nach Lanzarote zu starten. Sie lehrte hauptberuflich Sportmedizin an der Uni Köln und hatte sich noch während des Semesters beurlauben lassen, um eine Ruhephase auf der Insel dafür zu nutzen, sich von der Ausarbeitung einer medizinisch, wissenschaftlichen Studie zu erholen, an der sie in den Monaten zuvor Tag und Nacht gearbeitet hatte. Ziel war die Veröffentlichung der Studie und eine damit einhergehende Professur. Intellektuelles Fundament für das Thema „Biochemische Prozesse und Unfruchtbarkeit bei Frauen, bedingt durch den Wirkstoff Syptonil, nach mehrjähriger, illegaler Einnahme leistungssteigernder Mittel im Spitzensport“ waren ihre absolvierten Semester in Medizin und Biochemie.
Ihr Verschwinden wurde tatsächlich erst bemerkt, als sie nach der geplanten Rückkehr nicht zu ihrem Nebenjob im Fitnessstudio erschienen war. Die Bauch-Beine-Po-Fraktion und der Studioinhaber, Oliver Neyer, warteten an dem besagten Morgen um 09.00 Uhr vergeblich auf die ersehnte Rückkehr der Trainerin. Der Anruf des Besitzers bei der Wache in Siegburg wurde getätigt, nachdem Lena Grimm nachmittags auch nicht ihrer Verpflichtung als Power Plate-Spezialistin nachgekommen war und diejenigen, die die Rüttelplatte für Sport hielten, an diesem Tag ohne Training blieben.
Mit viel Getöse hatte Neyer seine Annahmen zum Abgang von Frau Grimm in einem langatmigen Telefonat mitgeteilt, sodass sein Gesprächspartner gereizt reagierte. „Herr Neyer, es ist wirklich nett, dass Sie uns anrufen. Aber bei erwachsenen Menschen können wir nicht viel machen. Sie verschwinden eben manchmal. Nicht immer ist ein Verbrechen die Ursache dafür. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Den gelangweilten Unterton konnte er kaum verbergen. Und er legte noch einen drauf. „Sie tauchen meistens aber nach ein paar Tagen wieder auf oder schicken irgendwann eine Postkarte aus der Karibik oder von sonst wo.“
„Hören Sie Herr Börne, ich sage Ihnen nur das, was ich wahrnehme. Und das ist das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Was Sie jetzt mit den Informationen anfangen, ist Ihre Sache. Guten Abend!“ Neyer legte auf. Er war unüberhörbar sauer und verfluchte sich dafür, überhaupt angerufen zu haben.
NEUN
Börne hatte die Daten zwar oberflächlich auf einem Fetzen Papier notiert, wertete den Anruf aber allenfalls als mehr oder weniger alltägliche Vermisstenmeldung, die zunächst keine allzu große Beachtung fand. Trotzdem würde er seine Kollegen am nächsten Tag anweisen, die Meldeanschrift von Lena Grimm zu überprüfen. Als Sebastian Börne später von den Kollegen der Kripo wegen seiner defensiven Zurückhaltung befragt wurde, wies er wohl etwas schnippisch, aber zu Recht darauf hin, dass es sich um eine erwachsene Person handelte, deren Lebensumstände durchaus auf eine Ausdehnung ihrer geplanten und, in der Wahrnehmung aller, auch angetretenen Auszeit hätte hinweisen können. Weil man sie eben auf Lanzarote vermutete, hatte es selbst aus ihrem Umfeld bisher niemand für möglich gehalten, dass Lena bereits seit mehr als vier Wochen verschwunden war. Im Gegenteil: Man nahm an, dass sie die Reise eben wegen des sonnigen Wetters, der schönen Strände und der angenehmen Lebensbedingungen auf unbestimmte Zeit verlängert hatte. Sie war ja schließlich alt genug. Und unabhängig. Eine solche und spontane Entscheidung habe zur ihr gepasst, hörte man mehrfach bei den späteren Befragungen der Studenten. Und auch, dass sie darüber niemanden in Kenntnis gesetzt hatte.
Der guten Ordnung halber fuhren zwei Beamte der Polizeiwache Siegburg zur Meldeanschrift und überzeugten sich außen wie innen davon, dass Lena Grimm nicht zu Hause war. Der Hausmeister hatte ihnen Zutritt zur Wohnung verschafft, sodass die Tür nicht beschädigt werden musste und die Bedingungen, falls sie zurückkehrte, genauso waren wie vorher. Gefahr im Verzug berechtigte sie in diesem Fall, eine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl zu betreten. Es war schließlich denkbar, dass sie verletzt oder krank hinter der verschlossenen Türe lag und sich in einer Notsituation befand. Wenn man mal von dem einen oder anderen vergammelten Lebensmittel und der latenten Unordnung absah, war nichts Auffälliges festzustellen. Durchwühlt war nichts. Aber, um die Sache zumindest den Vorschriften entsprechend ernst zu nehmen, und um über jeden Vorwurf erhaben zu sein, hielt man mit dem Fitnessstudio Kontakt. Man ging ebenfalls dem Hinweis des Hausmeisters nach, dass der Wagen von Frau Grimm mit ihr verschwunden war und fahndete nach dem PKW. Auch über die gängigen Medien und die sozialen Internetplattformen. So konnte der sehr auffällige Mini Cooper bereits nach wenigen Tagen, durch die Aufmerksamkeit einer Spaziergängerin, auf einem der Parkplätze der Wahner Heide gefunden und zur Sicherung von Spuren auf einem Hänger, mit weiteren abgeschleppten Fahrzeugen, nach Köln zum Präsidium gebracht werden.