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Am und im Auto deutete auf den ersten Blick nichts auf ein Verbrechen hin. Es war aber auch nicht auszuschließen. Niemand konnte konkret sagen, ob das Fahrzeug dort einfach nur täglich geparkt wurde, weil jemand ausgedehnt mit seinem Hund spazieren ging, oder ob es irgendwann abgestellt und seitdem nicht mehr bewegt worden war. Die einen behaupteten dies, die anderen das Gegenteil. Wie so oft bei Aussagen von Zeugen. Dabei fiel der Mini schon deshalb auf, weil er ganz in weiß lackiert war, ziemlich breite Reifen und pinkfarbene Alufelgen hatte. Es handelte sich um eine auffällige Sonderanfertigung und die Wahrscheinlichkeit, auch im Nachhinein noch Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten, schien ziemlich groß. Ein Blick ins Innere ließ keine Rückschlüsse auf den Verbleib des Besitzers zu.
ZEHN
Der Drang nachzusehen, raubte ihm beinahe den Verstand. Er wollte wissen, ob sie überhaupt noch da war. Aber den Weg zurück in die Wahner Heide musste er meiden. Den Wunsch danach unterdrücken. Unbedingt. Das Risiko, dort alleine durch Anwesenheit in irgendeinen Zusammenhang mit den Vorkommnissen gebracht zu werden, durfte er unter keinen Umständen eingehen. Deshalb prüfte er mehrmals am Tag das öffentliche Portal des Polizeipräsidiums Köln und checkte Nachrichten, die auf ihn und Nummer Zwei hinweisen könnten. NICHTS. Er hasste es, mit Amateuren zu tun zu haben und nicht die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten. Wie sollte er seine Opfer demütigen, wenn niemand Notiz von ihnen nahm. Notfalls müsste er schon bald die Polizei selber verständigen, die Beamten anonym zum Fundort und ihnen sein neuestes Verbrechen vor Augen führen. Um nichts dem Zufall zu überlassen und damit die Polizei ihre Chance erhielt, die Beziehung zwischen den Fällen zu erkennen, hatte er sie ganz bewusst in der Nähe des ersten Fundortes und von den gekennzeichneten Wegen aus gut sichtbar abgelegt. Davon hatte er sich mehrfach und immer wieder überzeugt, bevor er voller Hoffnung und Vorfreude auf ihr Auffinden abgezogen war. Dass sie vermutlich immer noch unbemerkt genau dort lag, bereitete ihm zunehmend Unruhe – es nahm ihm Konzentration und Energie für Opfer Nummer Drei.
ELF
„Wir haben eine Meldung der Dienststelle Siegburg seit gestern im Vermisstenportal. Es gibt seit mehreren Wochen keinerlei Lebenszeichen von einer Lena Grimm. Klär‘ bitte, ob sich die Kollegen von der Spusi den Wagen schon vorgenommen haben. Falls nicht, muss das sofort veranlasst und vorgezogen werden. Die sollen alle verwertbaren Spuren sichern.“ Andreas blickte noch nicht einmal rüber, als er mir den Auftrag zurief, sondern tauchte sofort wieder ab in die Tiefen der virtuellen Informationswelt der Polizei. „Falls solche überhaupt noch vorhanden sind“, nuschelte er noch hinterher und ging mit seiner Nase fast auf Tuchfühlung mit seinem Bildschirm. „Ich schick‘ Dir das Dokument. Da steht alles drin.“
Plötzlich kam Schwung in mein bis dahin noch beschauliches Polizeileben und die greifbare Realität machte mir deutlich, dass ich mich nicht in einem spannenden Krimi befand, sondern im Alltag der Kripo angekommen war. Ich wollte gerade ansetzen, um noch etwas zu fragen, als er sofort nachschob: „Keine Zeit Sara – ich muss noch mal weg.“
Er lächelte mir zu, stand auf und ließ mich mit der verschwundenen Lena Grimm alleine. Es freute mich, dass er endlich mal wieder fröhlich wirkte. Das passierte nicht oft. Der polizeiliche Flurfunk hatte mir schon vor ein paar Wochen zugetragen, dass Andreas seine Frau im letzten Jahr nach ihrer schweren Erkrankung verloren hatte, er oftmals traurig in Erinnerungen schwelgte und seitdem sein Leben in aller Stille meisterte. Es zumindest versuchte.
„Er lässt zu dem Thema niemanden an sich ran, also versuch’s erst gar nicht“, meinte Frank, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob man Andreas in irgendeiner Form helfen könne. Bis heute war ich seinem Ratschlag gefolgt und hatte mich an das Gelöbnis des Schweigens gehalten.
„Wir sehen uns später“, rief ich Andreas noch nach und ließ mich zurück in meinen Bürostuhl sinken. Beim Sichten der Unterlagen stellte ich schnell fest, dass bis jetzt überhaupt noch nichts passiert und die Vermisste vermutlich seit nun fünf Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Es gab keine konkrete Spur von ihr. Nur das Auto. Im Kofferraum war ein großer, vollgepackter Trekkingrucksack mit überwiegend sommerlicher Damenkleidung gefunden worden, was eindeutig für eine beabsichtigte Reise in den Süden sprach. Die Erde hatte sie entweder vor Reiseantritt oder eben danach verschluckt. Keine Handtasche – keine Papiere.
Eine Halteranfrage brachte uns sofort Gewissheit, dass der Wagen auf Lena Grimm gemeldet und sie die rechtmäßige Besitzerin war. Eigentümerin war die BMW-Bank München, die den Kauf des Wagens finanzierte. Das war nicht weiter ungewöhnlich und nachvollziehbar, bei dem niedrigen Zinssatz.
Selbst nachdem ihr Wagen gefunden und hierher gebracht worden war, verstrichen sage und schreibe fünf weitere Tage. Mehr oder weniger tatenlos.
Ich rief bei Tomas Weber von der Spurensicherung an, um ab jetzt die nötige Geschwindigkeit zumindest in die internen Abläufe zu bringen und keinen weiteren Zeitverlust zu verursachen. Das war das Mindeste, was ich in der Sache und für die verschwundene Frau tun konnte.
Tomas und seine Freundin hatte ich Weiberfastnacht auf der legendären Karnevalsparty in der Polizeikantine kennengelernt und das Fest erst morgens mit den beiden um 05.30 Uhr verlassen. Da ich durch meine Probezeit noch keinen Urlaub für den Tag nach Weiberfastnacht bekommen hatte, war ich von dort aus direkt zum Dienst gegangen. Die beiden anderen waren mit einer größeren Gruppe unserer engsten Kollegen weitergezogen und wurden erst an Aschermittwoch wieder gesehen. Tomas immer noch als Banane verkleidet, bevor er seine Dienstkleidung überzog, die gelbliche Hautfarbe und eine Migräne aber für den Rest des Tages behielt.
„Hi Tomas, hier ist Sara. Habt ihr den weißen Mini aus der Wahner Heide schon in der Halle?“
„Nein, der steht noch mit vier anderen Fahrzeugen auf dem Hänger.“
Der Transporter befand sich auf einem Parkplatz direkt neben dem Polizeipräsidium und wurde von einer eigens dafür beauftragten Security-Firma Tag und Nacht beaufsichtigt. Dort wurden auch verwahrloste oder abgeschleppte Autos hingebracht und warteten bestenfalls auf ihre Abholung und im schlimmsten Fall auf ihre Verschrottung.
„Warum fragst Du?“
Ich informierte ihn über den Anruf des Fitness-Studios auf der Wache in Siegburg und ließ durchblicken, dass wir wichtige Zeit verloren hatten.
„Okay, weil Du es bist. Ich ziehe den Mini vor und wenn Spuren zu finden sind, hast Du spätestens übermorgen meinen Bericht.“ Klang vielversprechend.
Damit das Dokument keine Umwege nehmen musste, sicherte ich zu, es persönlich bei ihm abzuholen.
Nach dem Gespräch erstellte ich einen Bericht und fasste für die am Nachmittag anberaumte Besprechung im Präsidium die Fakten in aller Kürze zusammen. Im Ergebnis war auch hier festzustellen, dass wirklich sehr viel und für die Ermittlungen äußerst wichtige Zeit verstrichen war, und wir vor allem dadurch aktuell mehr oder weniger null verwertbare Informationen zur Verfügung hatten.
Hinweise ergaben sich aus diversen Benachrichtigungen der Deutschen Post über vergebliche Zustellungsversuche, die der Hausmeister aus einem inzwischen überfüllten Briefkasten gefischt hatte. Die dazugehörenden Schreiben und Pakete lagen in der Postfiliale in Lohmar. Darunter war auch ein Einschreiben der Uni, in dem der Eingang ihrer Studie offiziell vom Leiter des Lehrstuhls bescheinigt wurde. Doch der Briefträger hatte, nach dem Scheitern der persönlichen Übergabe, das Dokument inzwischen als nicht zustellbar an den Absender zurückgeschickt. Das zuständige Sekretariat der Uni meldete sich kurz danach auf einer der Polizeidienststellen und machte im Zusammenhang mit der öffentlichen Suche nach Lena Grimm Meldung über die erfolglose Aushändigung und die nicht Wiederaufnahme ihrer Arbeit auf dem Campus – was nun tatsächlich auf ein unfreiwilliges Verschwinden der Vermissten hindeutete.
Um zu klären, von wo aus das Dokument der Uni zugegangen war, rief ich dort an und ließ mich mit Frau Huber, den Namen konnte ich unserer elektronischen Akte entnehmen, verbinden. Nach dem Austausch der üblichen Vorstellungshöflichkeiten fragte ich: „Wie hat Ihnen Frau Grimm ihre Ausarbeitung zukommen lassen?“
„Sie hat sie persönlich hier abgegeben – auch, um sich von uns zu verabschieden. Sie wollte ja länger verreisen.“
„Wann war das?“
„Da muss ich kurz nachsehen. Möchten Sie dranbleiben?“
„Ja, gerne.“ Ich nutzte die Warteschleifenmusik für ein kleines Sitztänzchen und erschrak, als Frau Huber sich wieder meldete.
„Frau Lange?“
„Ja, ich bin noch da.“
„Frau Grimm war am 1. März bei uns und hat den Umschlag abgegeben. Auf die schriftliche Eingangsbestätigung wollte sie nicht warten. Die haben wir dann versucht, ihr postalisch zuzustellen. Aber das wissen Sie ja bereits.“
„Könnten Sie uns eventuell ein aktuelles Foto von Frau Grimm zusenden?“, fragte ich vorsorglich. Man wusste ja nie, wofür es gut sein konnte.
„Klar, wir haben Jahrgangsbücher. Die Bilder sind meistens sehr aktuell. Ich maile Ihnen den Auszug zu.“
„Ok, haben Sie vielen Dank.“
„Keine Ursache.“
Ich trug die spärlichen Ergebnisse meiner Recherchen in unserem Meeting vor und wies meine Kollegen darauf hin, dass die Spurensicherung ihren Bericht spätestens übermorgen vorlegen und ich im Anschluss meine Zusammenfassung per Mail an alle Anwesenden versenden würde. Noch während ich sprach, nahm ich mir vor, auf meinem Heimweg heute Abend am Fundort des Wagens einen Stopp einzulegen, um mir die relevante Region aus der Nähe anzusehen. Andreas hatte mir einmal erklärt, dass unter Umständen der Spirit eines Ortes bei der Wahrnehmung von Eindrücken helfen konnte. Ihm hätte sich so schon manches Mal eine virtuelle Leinwand geöffnet, die einen freieren Blick auf mutmaßliche Ereignisse ermöglichte.
ZWÖLF
Ich hielt auf dem Parkplatz und versuchte möglichst unauffällig meinen Mini genauso abzustellen, wie der von Lena Grimm bei seinem Auffinden gestanden hatte, um eine Art Duplizität der Ereignisse herbeizuführen. Allerdings wirbelte ich schon bei meiner Ankunft viel Staub auf, als ich im ersten Gang über den nicht vorhandenen Belag holperte und die gewünschte Parkposition einnahm. Das Gelände war nicht geteert und hier und dort waren entstandene Schlaglöcher mit Schotter oder Sand gefüllt, dessen Gemisch nun wüstenähnlich durch die sonnige und trockene Luft flimmerte. Dadurch erweckte meine Anwesenheit sofort das Interesse von mehreren Mitarbeitern des Deutschen Roten Kreuzes, die hier regelmäßig die Hobby-Rennradler versorgten und ihnen bei Unwohlsein oder anderen Wehwehchen zur Verfügung standen. Sie warteten auf jeden einzelnen Radfahrer – auch auf diejenigen, die erst nach Stunden eintrudelten. Das war ein festes Abkommen mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und Teil einer sportlichen Absprache mit den Anrainerorten der Wahner Heide, die die Vitalität ihrer Bewohner im Zusammenwirken mit den Krankenkassen förderten.
„Hallo“, grüßte einer von ihnen zu mir herüber.
„Auch hallo.“ Ich ging auf den Bus zu und stellte mich seinen Insassen vor.
Wie sich herausstellte, waren sie über den Knochenfund „Heidi“ informiert und rein vorsorglich zur Aufmerksamkeit veranlasst worden. Vom Vermisstenfall Lena Grimm erfuhren sie jetzt von mir.
„Könnt ihr mich bitte anrufen, wenn ihr euch an irgendetwas erinnert, was in der letzten Zeit auffällig war? Natürlich auch, wenn heute noch etwas passiert oder anders ist, als sonst.“
„Was meinst Du mit ‚wenn heute noch etwas passiert‘?“, fragte der junge Mann auf dem Beifahrersitz und blickte provozierend zu seinem Kumpel auf dem Fahrersitz. „Es wird ja wohl niemand hier aufkreuzen und sich über das nächste Opfer hermachen, während wir hier sind.“
Er hatte zwar nicht ganz Unrecht, aber seine Zurechtweisung ging mir eindeutig zu weit und so zu tun, als hätte ich die blödeste Frage des Tages gestellt, ziemte sich nicht. Ganz und gar nicht.
„Das meinte ich nicht“, rechtfertigte ich mich trotzdem. „Aber vielleicht fährt hier z.B. jemand mehrfach mit dem Auto vorbei und verhält sich dabei irgendwie auffällig. Oder ihr findet Gegenstände. Egal was, es kann wichtig für unsere Ermittlungen sein. Immerhin wird ein Mensch vermisst. Eine Frau, die in großer Gefahr sein könnte!“ Blöder Schnösel. „Falls vorhanden, lass einfach mal Deiner Phantasie freien Lauf und so lange Du nichts beitragen kannst – halt einfach die Klappe.“ Leider konnte ich mich nicht zurückhalten. Aber es hatte wohl gewirkt.
Er nickte betreten und hatte offenbar mit meiner verschärften Ansage nicht gerechnet und sich zudem eine weitere von seinem Vorgesetzten eingefangen. „War ’ne blöde Frage“, nuschelte er so etwas wie eine Entschuldigung.
Ich zog eine Visitenkarte aus meiner Jackentasche. Zum ersten Mal in meinem gesamten Berufsleben besaß ich eigene und war stolz wie Bolle, endlich eine herauszugeben. Mit der entsprechenden Würde strich ich sie glatt, fühlte sanft über das gestanzte Logo des Polizeipräsidiums und zeigte sie dem Empfänger, als handele es sich mindestens um einen Dienstausweis. Ungewollt zelebrierte ich die geplante Übergabe eine Spur zu feierlich und bemerkte gar nicht, dass sich die Sanitäter nach meiner Zurechtweisung längst abgewendet und wieder anderen Dingen gewidmet hatten. Ich klemmte die Karte hinter den Scheibenwischer des Rettungswagens und tauchte ein in die vollkommen unbeteiligt wirkende Natur.
Nachdem ich ein paar Meter gegangen war und mit jedem Schritt Abstand zu den äußeren Einflüssen gewann, verlor sich das gegenseitige Interesse aller Anwesenden und ich konnte ungestört die milde Frühlingsluft aufsaugen. Und nachdenken. Aus allen Richtungen war munteres Gezwitscher der heimischen Vögel zu hören und der Boden roch wunderbar muffig nach tonhaltigem, altem Erdreich. Mahnende Schilder forderten die Besucher immer wieder auf, das Wegegebot zwingend einzuhalten, um damit das Naturschutzgebiet vor Eindringlingen und sich selbst vor den Kampfmittelresten zu schützen. Sperrgebiet halt. Während ich bei meinem Spaziergang versuchte, die beruflichen Eindrücke der letzten Tage zu sortieren und sie auf den aktuellen Fall zu übertragen, kam mir auf dem engen Trampelpfad eine Gruppe Jogger entgegen und trotz der großen Weite der Region kam man sich hautnah und musste sich zumindest an dieser Stelle ausweichen. Einer der jüngeren Läufer schenkte mir ein strahlendweißes Lächeln und wirkte mit seiner engen Laufhose und einem Achselshirt, das jeden seiner definierten Muskeln zeigte, sehr fit. Wirklich sehr fit. Der Schweißgeruch, der unsichtbar über jedem einzelnen von ihnen hing und durch die unvermeidbare Nähe sofort in mein Nasenzentrum drang, zerschlug den Hauch der Erotik. Er zog noch eine Weile nach und störte meine Wahrnehmung derart, dass ich die Mission für gescheitert erklärte, sie abbrach und nach Hause fuhr.
Ich checkte noch im Auto an jeder roten Ampel meine E-Mails. Alleine 39 Eingänge heute – davon 31 Werbung. Schuhe, Wäsche, Bücher, Elektrogeräte und treusorgende, gutbestückte Lebenspartner wurden mir angepriesen. Es war schon mehr als erstaunlich, dass das Internet immer genau wusste, wonach ich mich gerade sehnte. Als ich dann später auf meinem XXL-Sofa saß, löschte ich beinahe alle Nachrichten und beschränkte mich auf die vermeintlich wichtigen Mails. Eine war von meinem damaligen Abteilungsleiter. Unwichtig. Der hatte immer noch nicht überwunden, dass ich ihm nicht nur unser Arbeitsverhältnis gekündigt hatte. Auch diese landete sofort im virtuellen Papierkorb. Kurz überlegte ich sogar, ob ich ihm den Eingang in meine elektronische Welt durch das Blockieren seines Namens generell verwehren sollte. Denn schließlich war er einer der Hauptgründe für meine Kündigung gewesen. Während unserer Zusammenarbeit bewegte er sich ständig am Rande der Übergriffigkeit – physisch und psychisch. Aber das war Vergangenheit und ich nahm mir vor, seine Nachrichten einfach zu ignorieren und fing heute – fast erleichtert über diese Entscheidung – damit an.
Eine weitere Mail kam von meiner Mutter, die sich am Wochenende mit mir zu einem ausgedehnten Frühstück verabreden wollte. Ich streifte meine dunkelblauen Sneakers ungeöffnet ab, legte meine Füße auf den Tisch bis sich Gemütlichkeit einstellte und rief sie an.
„Meine liebe Sara, schön Dich zu hören. Geht’s Dir gut?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das selbst nicht so genau. Die Tätigkeit bei der Polizei ist schon sehr speziell und mir gelingt es nicht immer, das Erlebte abends einfach abzustreifen.“
Ich erzählte ihr nur so viel, wie ich vertreten konnte und sparte die Einzelheiten aus.
„Die Art der Arbeit ist echt eine Riesenumstellung für mich. Ich weiß gar nicht, ob ich das alles schaffe“, seufzte ich.
„Und ob Du das schaffst, mein Mädchen. Komm doch am Wochenende vorbei und erzähl mir alles in Ruhe.“
„Das darf ich ja noch nicht mal. Ist leider alles Dienstgeheimnis. Aber vorbeikommen würde ich trotzdem gerne. Lass uns irgendwo lecker Frühstücken gehen und einen gemütlichen Sonntag machen. Ein ausgedehnter Spaziergang wäre auch toll. Ich habe die paar Minuten gerade in der Wahner Heide schon sehr genossen und gemerkt, dass ich das viel zu selten gemacht habe, in den letzten Wochen.“
„Wir können ja wie früher nach Altenberg in den Märchenwald fahren“, lachte meine Mutter und ich fühlte mich sehr behütet und wie aus dem Nichts in meine Kindheit versetzt. „Spaß beiseite. Wir finden bestimmt etwas zwischen meiner Naivität und deinem beruflichen Irrsinn.“
So telefonierten wir noch eine ganze Weile über dies und das, bis ich um ca. 22.30 Uhr, nach einem langen Tag, vor dem Fernseher und der Grimm-Akte saß.
Ein kurzes akustisches Signal riss mich aus meinen Überlegungen und kündigte die nächste Mail an. Absender war der Flughafen, der mich nun offiziell informierte, dass die gesuchte Person nicht abgeflogen und demnach nicht in Spanien eingereist war. Nicht am Tag des gebuchten Fluges und auch nicht an einem anderen. Lena Grimm galt somit offiziell als verschwunden. Ich musste Andreas und Frank umgehend benachrichtigen und leitete die Mail kommentarlos an die beiden weiter. Jetzt würde die Arbeit eine ganze andere Dynamik bekommen und wir konnten morgen mit der Befragung ihres Umfeldes beginnen. In der Akte war zu lesen, dass im Wageninneren eine Tankquittung gefunden worden war, die besagte, dass Sara Lange am Abreisetag um 17.20 Uhr, also gut zwei Stunden vor dem geplanten Flug, für zehn Euro in der Nähe des Flughafens getankt hatte. Es war demnach höchstwahrscheinlich, dass sie danach auf dem Weg zum Flughafen verschwunden ist.
Ich versetzte meine Phantasie in den besagten Nachmittag, begab mich auf die gemeinsame Reise und fuhr die Strecke hinter meiner Stirn ab. Vielleicht hatte sie den Parkplatz dort als preiswerte Möglichkeit genutzt, ihren Wagen für die Zeit ihrer Abwesenheit abzustellen. Von dort aus konnte man sogar zu Fuß zum Flughafen gehen – auch mit Gepäck. Nutzte man hingegen eines der Parkhäuser am Flughafen, war man für die vorgesehenen vier Wochen schnell einen mittleren dreistelligen Betrag los, den man gut und gerne auch in Spanien lassen und als Reisegeld nutzen konnte. Solche Überlegungen traute ich Frau Grimm auf jeden Fall zu, denn ihr Lebenswandel wirkte auf den ersten Blick bescheiden und sah man von dem Mini ab, eher bodenständig. Die Kollegen, die ihre Wohnung aufgesucht hatten, sprachen von einer einfachen Einrichtung und einer gewissen Unordnung dort. Es habe aber nichts auf ein gewaltsames Eindringen anderer hingedeutet – also auch nicht auf eine Entführung aus ihren eigenen vier Wänden. Ich stocherte mit meinen Gedanken im Ungewissen und mit einer Gabel in einem Glas Oliven herum und, um meiner Nacht ein wenig Ruhe zu geben, trank ich den ziemlich großen Rest aus der ohnehin offenen Flasche Rotwein. So konnte ich die Akte für diesen Abend loslassen und hing im Bett noch ein wenig meinem und dem Leben von Lena Grimm nach. Mit dem Wissen, dass morgen eine Menge Arbeit auf mich zukommen würde, schlief ich endlich ein und wälzte mich auf 1,60 x 2,00 m Federkern durch eine unruhige Nacht. Die abendlichen WhatsApp-Nachrichten meiner Kollegen erreichten mich nicht mehr.
DREIZEHN
Die Farben der Heide begannen der Jahreszeit entsprechend zu leuchten und zwischen sanft blühenden Sträuchern, lagen eingebettet, Flächen aus zartem, grünem Moos. Weich und nur wenige Zentimeter hoch. Aus der Ferne sah alles aus wie immer. Eine Rotte Wildschweine stöberte durch die Region und machte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Halt, in der Hoffnung etwas Fressbares zu finden. Seit einer ganzen Weile verharrten die Tiere. Aufgeregt tauchten sie ihre Nasen ab und trüffelten an einem offenbar größeren Fund. Erst das Rascheln im Unterholz und menschliche Stimmen ließen sie aufschrecken und fluchtartig fortrennen. Der Blick auf ihre Beute wurde frei.
Wie aufgebahrt lag eine Frau jetzt unübersehbar auf der Anhöhe mitten in dem ansonsten mehr oder weniger flachen Gelände. Mit toten Augen starrte sie in den abendlichen Himmel. Ihre Arme lagen eng neben dem Körper und waren ab den Ellenbogen angewinkelt und auf der Mitte des Bauches zu betenden Händen zusammengeführt. Ihr, für dieses noch frühe Stadium des Frühlings definitiv zu sommerliche Kleid, war bis zur Hüfte hochgeschoben. Die langen, schlanken Beine waren gespreizt und ließen von vorne einen Blick auf ihre blank rasierte Scham zu. Im direkten Vergleich mit den kräftigen Farbtönen der sprießenden Natur wirkte ihre Hautfarbe weiß und wie aus Wachs.
Ein junges Paar hatte die Leiche gefunden, als die beiden, um ungestört zu sein, sich ein lauschiges Plätzchen in der Wahner Heide gesucht hatten. Zwar hatten sie die offiziellen Wege entgegen der Warnungen an einigen Stellen verlassen, waren dann aber letztendlich über einen Wanderpfad auf dem kleinen Plateau gelandet, das sie für genau den richtigen Ort hielten. Sie wollten dort bei einer Flasche billigem Sekt einen schönen Abend verbringen, die wunderbare Aussicht genießen und wohl ihre jungen, trainierten Körper gemeinsam und gegenseitig erkunden. Durchaus nachvollziehbar, wenn man sie so in ihrer jugendlichen Schönheit sah. Als sie voller Vorfreude und Aufregung die kleine Anhöhe erreicht hatten, stießen sie unvermittelt auf die Tote. Sie lag plötzlich vor ihnen und war für beide die erste Begegnung mit dem Tod. Ohne Vorwarnung. Das Mädchen wurde beim Anblick der Leiche von derart heftigen Magenkrämpfen befallen, dass sie niederging und nicht mehr in der Lage war, zu handeln. Sie kniete auf dem Boden und übergab sich, während sie bei jedem Würgen einen yogamäßigen Katzenbuckel machte. Der junge Mann war schnell wieder einigermaßen neutralisiert, hielt seiner Begleitung die langen Haare beim Spucken zurück und bettete sie nach ihrer Übelkeitsattacke fürsorglich in stabiler Seitenlage auf dem weichen Boden. Durch diese Position war ihr Blick von der Toten abgewandt und daran würde sie freiwillig garantiert auch nichts mehr ändern. Das sprachen jedenfalls ihre weit aufgerissenen Augen. Erst als es ihr scheinbar ein wenig besser ging, wählte ihr Freund die 110 und verständigte mit präzisen Angaben die Polizei, die sich gleich mit drei Einsatzfahrzeugen, einer zivilen Streife und zwei Notarztwagen auf den Weg machte und einen polizeilichen Großalarm auslöste.
„Wir sind arglos auf sie zugegangen. Meine Freundin wunderte sich, weil die Frau auf dem Boden lag und schon so sommerlich gekleidet war.“ Er strich sich über seine Arme, als friere ihn bei den Gedanken daran. „‚Die holt sich noch den Tod‘, hat sie gesagt!“, berichtete der junge Mann, als die Polizei eintraf und erste Informationen von ihm erfragte. Er stand starr vor den Beamten, als würde er das Geschehene selbst verantworten müssen. Um ihn nicht unnötig zu strapazieren, notierte man seine Daten und entließ ihn aus der ersten Befragung in die Obhut der Sanitäter. Auch damit er in der Nähe seiner Freundin sein konnte. Die Polizei hielt ihn nicht für den Mörder und widmete sich den Untersuchungen vor Ort.