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Ein paar der eifrigen Gestalten hoben kurz den Kopf, zumindest ein bisschen. Das Kind im pinken Anorak ignorierte sie komplett. Niemand erwiderte ihren Gruß, sie konnte noch nicht mal ein gelangweiltes Nicken ausmachen. Stattdessen bereiteten sie weiter die Zukunft der Kröten vor. Frohgemut arbeiteten sie dem Aufbruch der bedürftigen Amphibien entgegen, ungeachtet dessen, dass jeder neue Morgen sie zwangsläufig einen Schritt näher an den Tod bringen würde.
Rubi war erbost, dass keiner ihr einen schönen Tag gewünscht hatte. Sie fuhr schneller und ärgerte sich, weil sie sowieso schon dabei war, auch darüber, wie die Krötenkumpel bald den Verkehr lahmlegen würden. Sie schnaufte durch die Nase und bremste dann plötzlich ab. Vor ihr auf der Straße saß eine der warzigen Poggen. Das Ding war viel zu früh im Jahr unterwegs. Überfahren und platt gedrückt pappte es nun auf dem Asphalt. Rubis Lippen zogen sich zu einer schmollenden Rosette zusammen und sie fühlte sich schlecht.
Der Verkehr nahm zu, als sie in die Stadt hineinfuhr. Menschen und Waren wurden darin hin und her geschoben. Der Kühllaster kam vom Markt und stieß fast mit dem Taxi zusammen, das einen Eiligen zum Bahnhof brachte. Es hupte und die Mutter mit dem einem Kind im Wagen und dem anderen zerrend an ihrer Hand verdrehte die Augen. Die Tafel vor dem Café versprach die besten Croissants der Stadt und der Kellner schielte schon jetzt auf die Uhr nach dem Feierabend, als die Tram bimmelnd und polternd vorbeirauschte. Rubi wich einem Skateboardfahrer aus und hielt an der roten Ampel.
Ein Polizeiwagen kam neben ihr zum Halt und sie blickte ihrem Atem nach, wie er sich in der frischen Luft materialisierte. Das Beifahrerfenster wurde heruntergekurbelt und einer der Streifenbeamten lehnte sich jovial zu ihr herüber: »Fräulein, machen’se mal das Licht an.«
Rubi, die eben noch kurz davor gewesen wäre, ihn freundlich zurückzugrüßen, hielt die Luft an und drehte ihren Kopf schwerfällig in seine Richtung.
»Es ist doch schon hell«, hauchte sie tonlos und schaute wie zum Nachweis gen Himmel.
»Mach das Licht an«, bevormundete der käsige Mann sie staatlich und der dicke Schnurrbart zuckte auf seiner Oberlippe bei so viel Renitenz am Morgen. Auch der Polizist am Steuer schüttelte den Kopf und seine beiden Kinne – es war ihm wirklich ein Bedürfnis.
Rubi beugte sich nach vorne und drückte den Dynamo mit einem Klicken an den Reifen. »Es ist hell«, nuschelte sie dabei und dachte: Und ich bin mündig. Die Ampel sprang auf grün und der Polizeiwagen sauste ohne Adieu davon, als hätte er tatsächlich Besseres zu tun. Sie schwang sich auf den Sattel und das Licht ihrer Fahrradlampe hatte nichts zur Welt beizutragen, außer die Posse zaghaft auszuleuchten.
Weder ihre Finger noch ihre Nasenspitze waren zu spüren. Sie bemühte sich, den uniformierten Geltungsdrang unbeachtet zu lassen und übersah, dass sie ihn damit verfestigte. Mürrisch und herumgeschubst saß sie auf ihrem Drahtesel und war zu nichts zu gebrauchen, als die gräuliche Gefangenschaft in ihrer selbst abzuleugnen.
Sie schob ihr Fahrrad an Peters weißem SUV vorbei und blieb mit dem Lenker im Liguster hängen. An dem alten Schmiedezaun, der das Museumsgelände umgab, kettete sie das Rad fest und ging zum Nebeneingang hinein. Noch bevor sie sich aus ihrem Wintermantel schälte, ging sie zum Kaffeeautomaten im zweiten Stock. Während sie darauf wartete, dass sich der dünne Plastikbecher füllte, rieb sie ihre kalten Hände gegeneinander.
Die Schmeckmeier und Peter schlenderten gefällig schnatternd den Flur herunter. Die blonde Frisur saß wie ein Helm auf dem Kopf der Chefsekretärin, als erwarte sie ständig Schläge auf den Hinterkopf von der Museumsleitung. Ihr mickriger roter Mund tanzte verzückt auf ihrem faltigen Gesicht, wenn sie sich selber reden hörte. Peter nickte vehement und man musste befürchten, dass er eines Tages vor lauter Schleimerei zerfließen würde. Rubi verabscheute ihren Vorgesetzten. Gerade jetzt, wo Frank nicht da war, schien ihr seine übergriffige Art unerträglich. Doch der Automat ließ sie warten und es gab kein Entkommen.
»Rubi! Na, musst du auch aufgewärmt werden? Hähä«, schlawinierte sich Peter mit gebleckten Zähnen in ihre Nähe. Rubis Nackenhaare stellten sich auf und er krempelte sich grienend die Ärmel hoch.
»Also Peter …«, kicherte die Schmeckmeier verrucht und ihre nassen Augen blinkten ihn an.
Mit blutleeren Lippen brachte Rubi ein reserviertes »Morgen« hervor.
»Warum denn so schlecht gelaunt?«, forderte Peter sie mit schiefem Mund heraus und schwang die Faust enthusiastisch vor seiner Brust.
»Ich bin nicht schlecht gelaunt«, stellte sie nüchtern fest und umklammerte den labilen Becher fester. Brühheißer Kaffee schwappte über den Rand auf ihre Finger, doch sie ließ sich nichts anmerken.
»Dann lach doch mal«, verlangte Peter mit solch einer Süffisanz, dass man gar nicht anders konnte, als ihn anspucken zu wollen.
In Rubi regte sich nicht viel: »Worüber denn?«
»Also«, echauffierte sich Peter durch die Nase und wartete ein paar Sekunden.
»Naja«, schloss die Schmeckmeier dann etepetete, nickte wissend und schielte Lob heischend zu Peter (es waren diese Art gehaltloser Kommentare, die die Belegschaft davon abhielt, ihren Vornamen erfahren zu wollen).
Nachdem Rubi immer noch nicht gelacht hatte, orderte Peter streng: »Die Präparate müssen jetzt bald mal fertig werden.«
»Ja, diese Woche bestimmt«, versprach sie und nippte an ihrem Kaffee.
»Na gut, dann will ich das mal glauben«, sagte er mit dem Versuch, Zweifel in seine Stimme zu legen, von denen alle drei wussten, dass es sie nicht gab und sie sowieso unbegründet wären. Rubi war zuverlässig und sie war gut in dem, was sie tat. Ihre Präparate waren noch immer penibel ausgearbeitet und vorschriftsgemäß konserviert worden.
Mit einem feindlichen Nicken verabschiedete sich Peter von ihr. Dann bot er der Schmeckmeier hoheitsvoll seinen haarigen Arm: »Gnädigste.«
Vor Aufregung konnte sie sich bald nicht mehr halten, hakte sich dankbar bei ihm ein. Gefolgt von dem Klackern ihrer Stöckelschuhe gingen Peter und die Schmeckmeier blöde witzelnd in Richtung der Büros. Rubis Blick klebte mutlos an ihren Rücken und sie wischte sich den Kaffee von den Fingern an die Hose.
Das Präparationsatelier befand sich in den hinteren Kellerräumen des Museums. Vor den schmalen Fenstern nahe der Decke sah man die Beete der Parkplatzbepflanzung und manchmal sogar Sonne. Nicht in diesen Monaten. Das war auch nicht nötig, starke Deckenleuchten fluteten jeden Winkel des Raums mit Licht und an den Arbeitsplätzen gab es natürlich noch die Tischlampen. Lange, dürre Blecharme, die sich genügsam hin und her justieren ließen.
Alles war hell, ordentlich und steril in ihrem Reich. Weiße Wände und Regale, weiß polierte Tischplatten und Schränke aus Glas. Der pummeligen Putzfrau mit dem freundlichen Wesen und dem gelb gestreiften Kittel steckte Rubi jeden Monat etwas Geld zu, damit sie es mit dem Staubwischen hier unten besonders genau nahm (der Putzkraft, Martha Lott, war das völlig schnuppe, sie putzte so wie immer und gönnte sich von dem erschlichenen Zaster einen monatlichen Theaterbesuch).
Rubi hängte ihre Tasche an die Lehne des Stuhls, den Mantel in den Spind und zog ihren Laborkittel über. Das war keine Pflicht, schließlich würden sie hier niemandem das Leben zu retten versuchen. Aber sie machte sich gerne bereit für die Arbeit und wollte ihre eigenen Sachen nicht mit irgendeiner Chemikalie verschmutzen.
Die unzähligen Schubladen und Regale, die bis zur Decke reichten, beherbergten Tausende von Exponaten, die sich gleichgültig darin stapelten und reihten. Fische, Echsen, Vögel, Säuger und die Arthropoden, wie Schmetterlinge, Bienen und Spinnen aus aller Welt. Und Käfer.
Das Sortieren und Katalogisieren fiel ihr leicht. Sie mochte es, wie einfach und lautlos die Schubladen mit den fein säuberlichen Beschriftungen sich aufziehen und wieder schließen ließen. Die Präzision und das Präparieren machten ihr richtiggehend Spaß. Es war eine wissenschaftliche Bastelaufgabe, die Geduld und manuelle Geschicklichkeit erforderte. Wenn es den tumben Peter mit seinen Sprüchen und dem fleischigen Nacken nicht gäbe, dann würde sie die Arbeit überhaupt nicht stören.
Die kleinen Körper mussten in Form gehalten, durften nicht beschädigt oder in ihrem Erscheinen verändert werden. Wieder und wieder, jedes neue Exemplar. Die Routine war es, die Rubi mochte. Unaufgeregt, bekannt, vorhersehbar. Ein selbst eingerichteter goldener Käfig, der einen vor der Freiheit mit all den darin lauernden Entscheidungen bewahrte.
Heute würde sie leider nicht an ihrer ostasiatischen Käfersammlung arbeiten können. Die Nasssammlung musste noch umgefüllt werden. Selbstredend nicht die ganze. Bis alle 11 273 in Alkohol gebahrten Tierpräparate aus ihren alten Gefäßen mit den undichten Verschlüssen befreit und in die neuen, stabilen Borosilikatgläser gesetzt waren, würden noch Jahre vergehen. Rubi war das ihrer Passion zum Trotz ganz recht, denn sie würde den sinnlichen Anblick der historischen Gläser vermissen.
Sie würde ihre Zeit mit dem Umtopfen halb ausgewachsener Fische und Schlangen verbringen. Der Geruch machte einen ganz dusselig. Bis zum Ende der Woche musste die Sonderausstellung Wasser – das Leben im Fluss für das anstehende Frühlingsprogramm fertig sein. Die Museumsleitung hatte es durch die Schmeckmeier ausrichten lassen.
»Peeeeter! Sag es denen in deiner Abteilung. Jaaa?«, hatte sie gefleht und nichts darauf gegeben, dass auch Rubi anwesend war. Stattdessen flatterte sie wie eine überspannte Feldwachtel durch den Raum: »Die Sammlung MUSS fertig werden!«
Rubi war so überrascht, dass sie sich die Ohnmacht verkniff.
In der Mittagspause ging sie an den Schaukästen und Auslagen vorbei. Manövrierte sich zwischen den wenigen Besuchern und den Palmen hindurch. Beides schien fehl am Platz. Ein Opa mit Tigerglatze erklärte einem zahnlückigen Jungen etwas über Abseitsregeln, die Frau im blauen Kostüm kratzte sich verstohlen am Po und eine Studentin mit Schmierhaaren zeichnete entnervt eine Gespenstschrecke ab.
Die Vegetation sollte das Erlebnispotenzial steigern, hatte man gesagt. Überall standen nun Kübel und hingen Lianen, damit auch diejenigen im Museum glücklich waren, die gar nicht ins Museum wollten. Flankiert von üppigem Gestrüpp tat es weniger weh, dem Tod in seine tausenden Gesichter zu sehen, so vielleicht die Hoffnung.
All die Mumien, Gerippe und Exoskelette mahnten ungehört. Es lag mehr Ehrgeiz im Zeigen, kaum im Bewahren über den Exitus des Subjekts hinaus. Jeder in diesem Hause, ganz gleich ob Gast oder Angestellter, gab sich der heuchlerischen Totenschau hin und stülpte sich dazu das Käppchen der Bildung über den ignoranten Kopf. Das Einverleiben ihrer Leben durch Beschreibung und Wissenschaft war wertvoller als es ihre tatsächliche Existenz jemals war.
Zielstrebig ging Rubi zu dem Schauraum der tropischen Regenwald- und Baumsavannen-Insekten. Hinten links neben dem abgehangenen Fenster stand der Kasten mit den Käfern. Und da war er, eingerahmt vom Afrikanischen Rosenkäfer und dem Südafrikanischen Fruchtkäfer, ringsum gespickt mit bunt schillernden Scarabaeoiden.
Mit liebevollen Blicken untersuchte sie den prächtigen Goliathkäfer. Dieser fast handtellergroße Goliathus goliatus mit seinen strotzenden Vorderbeinen und dem noblen, schwarzweiß gemusterten Panzer, vergnügte sie. Seine schimmernde Rüstung aus Chitin sprach von den Abenteuern und der Stärke des riesenhaften Insekts. Ein solches Tier wusste, wozu es bestimmt war, und belastete sich nicht mit Zweifeln. Noch im getrockneten Zustand war es ein glänzendes Abbild des Lebens. Er war vollkommen. Ein ideales Spezimen, unübertrefflich gekonnt präpariert. (Das war nicht Rubis Werk, sondern das ihres Vorgängers, ihres Mentors Herrn Zirstens, der, obwohl auch verstorben, nicht hier ausgestellt wurde.)
Im Nebensaal konnte sie Peter feixen hören. Sie lehnte sich ein Stück zurück und spinkste durch die weite Flügeltür. Er kurbelte all seinen Machismo durch ausladende Bewegungen an, zeigte zu viele Zähne und fasste der Praktikantin an den Hintern, die sich das auch noch gerne gefallen ließ. Rubi keuchte verächtlich aus dem Bauch, als könnte sie die Unerträglichkeit seiner Person damit wegatmen. Selbst die Schmeckmeier mit ihrem verknöcherten Mund war ihr lieber.
Sie verlagerte ihr Gewicht wieder nach vorne und besann sich zurück auf den Schaukasten. Dabei beschloss sie, dass sie wieder nachts arbeiten würde. Zumindest bis Frank wieder hier wäre. Dann musste sie nur dem Wärter mit dem gemütlichen Bauch beibringen, die Heizung nicht auszumachen. Bei dem, was sie damit vermeiden konnte, war das Extra an Isolation gut zu ignorieren.

Vor der Eingangstür lag die Fußmatte, die mit geschwungener Schrift säuselte: Tritt ein, bring Glück herein. Rubi war es schon jetzt zu viel, sie wackelte mit der Nase und drückte den Klingelknopf.
»Komme schon«, hörte sie Thilo, der den Knauf schon in der Hand hatte, völlig unnötig hinter der Tür melodisch rufen.
»Rubi, wie schön«, sagte er mit seinem scheelen Grinsen, als sei es eine Überraschung, dass sie hier war, und wies ihr mit aufgeblähter Geste den Weg hinein. Sie spürte seinen prüfenden Blick, der an ihr auf und ab wanderte, als würde er erwarten, seiner sonderlichen Schwägerin sei ein drittes Bein gewachsen. Breitschultrig, akademisch und bis auf den kleinen Zeh durchtrainiert, fühlte er sich naturgemäß überlegen. Barmherzig empfing er sie in seinem Reich und klemmte dabei mitleidig das Gesicht zusammen, bis er aussah wie eine affektierte Dattel.
»Hallo«, überwand die unwillige Gästin sich und schob sich an ihm vorbei in den breiten Flur. Raffa trat mit offenen Armen und einer Schürze mit Superwoman-Aufdruck aus der Küche, dabei hielt sie den kostspieligen Stabmixer in der Hand wie ein Zepter: »Schwesterlein!«
Nachdem sie Rubi einen schnellen Kuss auf Wange gedrückt hatte, stellte sie sich eng neben Thilo und streichelte als Pfand ihrer amourösen Allianz seinen Arm. Für einen Moment standen die drei still voreinander und guckten sich an. Bevor das unangenehme Schweigen nicht mehr zu dementieren war, nahm Raffaela sich ein Herz.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie mit verklärtem Seufzen und wurde dabei fast zum Dörrobst.
»Hallo.«
»Na dann, komm mal rein«, spendierte Raffa und Rubi fand, sie war schon drinnen. Da ihre Schwester schon immer eine überkandidelte Ader gehabt hatte, brauchte sie nicht mehr darauf zu hoffen, dass sich das ändern würde. Rubi hängte ihren Mantel auf, nur damit Thilo ihn gleich wieder vom Haken nahm, um ihn auf einen der samtbeschlagenen Holzbügel zu hängen. Sie streifte sich die Schuhe ab, die dabei an die Tapete über der Fußleiste stießen und er zuckte gepeinigt. Rubi guckte ihn an, wie man nur jemanden angucken konnte, der von einem fremden Planeten kommt, über den man zirka nichts wissen wollte.
Im geräumigen Esszimmer stand der gedeckte Tisch. Der Traumfänger am Fenster reihte sich zwischen die aufwändigen Mandaladrucke an den Wänden. Auf der teuren Kommode aus Indien standen gerahmte Familienbilder von glücklichen Menschen. Auch wenn die Personen auf den Bildern haargenau aussahen wie die Schwestern in ihrer Kindheit (herausgeputzt für die Kommunion ihres Cousins, bei der Oma Anni sich so fürchterlich betrunken und beim Essen den Pastor angeschrien hatte, dass er sich etwas zurücknehmen sollte, jetzt, wo sie schon die Seele des Jungens an die Kirche verkauft hätten) oder Rubi im Kleid auf Raffaela und Thilos Hochzeit – Rubi fand sich nicht darauf wieder. Es war ein Taschenspielertrick aus dem Entwicklungslabor, der eine Familie simulierte, die Raffaela gerngehabt hätte, eine, derer sie sich nicht zu schämen bräuchte.
Rubi setzte sich, spielte mit der Flamme des Teelichts im Dekorglas und hörte sich die Berichte über ihren letzten Wellnessurlaub an.
»Morgens wandern, nachmittags ins Ethno Village und abends Massagen im Spa!«, fasste ihr Schwager die Reise mit Überschwang zusammen.
»Du hättest Thilo mit den Locals sehen sollen! Einfach klasse, wie er sich auf andere Kulturen einlässt«, schwärmte Raffaela.
»Ich dachte, ihr wart in Bulgarien?«, wunderte sich Rubi scheu.
Beide überhörten den unerwünschten Einwurf und Thilo entkorkte den Wein.
»Dieser Weinbauer. Weißt du noch? Das war schon einer …«, rief Raffaela ihm ihren gemeinsamen Coup ins Gedächtnis.
»… ein richtiger Schlingel«, machte Thilo weiter im Bericht, »haha, vier Euro pro Flasche nahm der!«
»Eigentlich ja Wucher. Aber wir helfen ja gern«, schloss die Weitgereiste.
Das Paar schaute sich wissend an, sie hatten wirklich ihr Bestes gegeben. Rubi hielt ihren Zeigefinger tiefer in die Flamme und zog ihn wieder zurück.
»Keine der anderen Frauen hat beim Kraxeln so ein Tempo drauf gehabt wie deine Schwester, musst du wissen«, lobte Thilo seine Anvertraute resolut.
»Toll«, entwich es Rubi.
»Na dann, Prost!«, feierte Thilo. Die Gläser klirrten ein Hurra! auf die sportive Errungenschaft.
»Nur das Essen war nicht so gut«, wiegelte ihre Schwester ab, als wären es zu viel der Blumen, zu viel der Angeberei mit ihrem Gut an Spaß und erwerblicher Freude.
»Na komm«, versuchte er ihre Bescheidenheit wegzuhuschen.
»Also für das Geld hätte es schon alles bio sein können. Und dann jeden Tag die gleiche Vorspeise. Man fragt den Wirt, was es gibt und die Antwort ist immer dieselbe …«
»… Supa Toptscheta!«, vervollständigte Thilo den Satz für sie und hielt sich den Bauch vor lauter Absurdität.
Schon wieder so ein blasierter Blick. Rubi rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und knibbelte unter dem Tisch das Wachs von ihren Nägeln.
»Die Luft hat so gut getan. Das ist schon etwas ganz anderes als in der Stadt«, und Raffa drückte dankbar Thilos Hand.
»Ja, es sind die einfachen Dinge«, stimmte er verträumt zu.
»Was hat’n das alles gekostet?«, fragte Rubi.
Das Paar war durch nichts zu erschüttern. Raffaela rückte das Blumengesteck zurecht und Thilo verschwand in der Küche. Niemand beantwortete Rubis Frage, stattdessen zirkelte der Herr des Hauses mit drei flott angerichteten Tellern zurück, um sie in einer schwungvollen Bewegung auf den Tisch gleiten zu lassen. Das russische Staatsballett wäre vor Neid erblasst.
»Wie geht es dir denn?«, fragte Raffa, ihren Ellbogen auf den Tisch gestützt, und platzierte das untere Ende ihres neugierigen Gesichtes in ihrer Hand. Thilo bestaunte derweil seinen Teller, der ebenso zur Befriedigung seines Appetits da war, wie alles andere auch. Rubi schob die Kombu-Algen an den Tellerrand: »Gut.«
Die Gabel quietschte auf dem Porzellan.
»Nichts Neues? Keinen Freund?«, konkretisierte ihre Schwester und steckte sich eine Gabel ihres Superfoods in den gespitzten Mund.
»Ich muss jede Menge Präparate umfüllen. Vor allem die eingelegten Schlangen und Amphibien«, wechselte sie zum Unmut der anderen das Thema.
Thilo verzog angewidert den Schnabel: »Rubi! Doch nicht beim Essen … also bitte.«
»Immer deine toten Tiere!«, beschwerte sich Raffa und Rubi perzipierte sich an den emotionalen Katzentisch verbannt. Als wäre ihre lässliche Realität nicht gut genug, um in der Gaukelei der anderen mitzuspielen.
»Das ist mein Job«, entschuldigte sie sich lapidar.
Ihre große Schwester schüttelte den Kopf: »Du musst mal raus. Man lebt nur einmal, weißt du? In der Kesselgasse hat letzten Monat eine Sambaschule aufgemacht. Das hat dir doch immer so gut gefallen!«
Nein, sie hatte es nicht gemocht, so wie sie es jetzt nicht mochte, hier zu sitzen. Ihr war, als hätte man sie falsch montiert. Wie sollte man sich denn in diese gesellschaftliche Maschinerie einordnen, ohne zu wissen, ob man eine Mutter oder eine Schraube ist und nicht mal ein Zahnrad von einer Spule unterscheiden kann. Mit Raffa alleine hätte sie vielleicht noch reden können. Sie hätte von Peters Impertinenz erzählen können, von seinen Glubschaugen, die sie anwiderten oder von der Schmeckmeier. Über Cody würde sie gewiss nie ein Wort verlieren, das wäre zu viel. Aber da ihre Schwester in Symbiose mit einem Idioten lebte, erübrigte sich überhaupt jede Überlegung in dieser Richtung.
»Also wir haben ja letztens ein Woke-Yogaseminar besucht«, prustete Thilo selbstherrlich, »eine richtig spirituelle Erfahrung.«
»Thilo hat mir vorher extra eine neue Leggins bestellt!«, bekannte Raffaela euphorisch.
»Und Raffa hat mir vorsorglich Tigerbalsam mitgebracht. Ich hab’s ja immer wieder mit dem Rücken«, wetteiferte er neurotisch darum, wer mehr geliebt wurde.
»Ich dachte Yoga wäre nur eine körperliche Übung fürs eigentliche Meditieren? Frühsport für furzende Muttis.«
Rubi fuhr mit dem Finger über das türkis gefärbte Bambusset und wagte es nicht aufzuschauen, aber nichts passierte.
Thilo überhörte es: »Und dann hat der Yogi gesagt, dass unsere Energien wirklich wahnsinnig gut im Einklang miteinander stehen!«
Raffa nickte so heftig, als hinge die Wahrheit davon ab.
»Au Backe«, kommentierte Rubi prosaisch und saugte mit der Zunge eine Mungosprosse aus ihren Zähnen. Thilo warf ihr einen giftigen Blick zu, stand auf und räumte die Teller ab, ohne zu fragen, ob sie fertig sei. Sie probierte noch einen Schluck des Weins, dessen Kauf die bulgarische Dorfgemeinschaft erretten sollte. Noch in der Küche brabbelte Thilo missmutig vor sich hin. Auch Raffaela war konsterniert bei solchem Undank.
»Wie läuft es eigentlich mit Dr. Prizrak?«, holte sie wie zur Strafe aus und Rubi senkte den Blick. Sie war blindlings in den nächsten Eifer geschlittert, sie hätte es ahnen müssen, und log: »Gut.«
»Gut? Ist das alles?«, frage Raffa enttäuscht.
»Ja«, verabschiedete sich die kleine Schwester endgültig in die Introvertiertheit.
Thilo hatte sich wieder zusammengerissen und eine fröhliche Miene aufgesetzt und kam mit einem knallbunten Dessert zurück an den Tisch getrippelt.
»Organic rawbowl, mit Antioxidanten und Protein, Gojibeeren und einem Hauch Rohrzucker aus Brasilien«, pries er seine Kreation an, »natürlich alles bio«, zwinkerte er und verteilte die Schalen. Dann stellte er sich hinter Raffaela, massierte ihre Schultern und schaute geschwollen in die Runde. Zu seiner eigenen, abschließenden Beglückwünschung wippte sein Kopf vor und zurück. Raffa tätschelte seine Hand.
»Mein Mann!«, zelebrierte die Gattin mit überquellendem Herzen, dass sie sich gegenseitig besaßen: »Ach, was du uns wieder Gutes tust! Nicht wahr, Rubi?«
Von ihrem Platz aus konnte Rubi die Haustüre am Ende des Flurs sehen; gerade schien sie unendlich weit weg.
Sie hatte es nicht erwarten können, nach Hause zu kommen. Der Likör, den es zum Nachtisch gegeben hatte, stieß ihr auf, als sie die Treppen hochrannte. Sie sperrte auf und warf erleichtert ihre Sachen in die Ecke.
Beschwingt machte sie sich ans Werk und bereitete ihr Pult vor. Der Kegel ihrer Tischlampe erhellte ihre Miniaturwerkstatt. Sie kleisterte ein passendes Stück Papier auf den kassettengroßen Styroporblock und steckte die Nadeln, nach Größe sortiert, am Rand auf. Daneben stellte sie die Heißklebepistole, Modelliermasse, die Lackfläschchen und Pinsel. Sie klappte das Ledermäppchen mit ihrem Präparationsbesteck auf, alles war bereit.
Sie stand auf und holte den Käfer aus seinem frostklirrenden Grab zwischen den Erbsen. Vorsichtig ließ sie ihren Blick über ihn schweifen, als könnte schon das zu viel sein für den ungelenken Knirps. Er war tatsächlich ein bisschen unterdimensioniert, aber es würde schon gehen. Zurück am Tisch nahm sie eine der längeren Nadeln zur Hand, stach durch den kleinen Körper und fixierte ihn über dem Styropor schwebend. Sie würde warten, bis er etwas abgetaut war, bevor sie die Beine und Fühler ausrichtete, damit nichts abbrach. Mit weit gespreizten Gliedmaßen würde er beeindruckender aussehen.
Bis dahin konnte sie sich um den Panzer kümmern und studierte dazu die Schautafel im Buch. Mit dem feinen Pinsel trug sie vorsichtig den schwarzen Lack auf den Mantel des Käfers auf, bedacht, dass nichts die Gelenke verkleben würde. Mit der nächsten Farblage musste sie warten, bis er trocken war und eventuell noch das Pygidium nachmodellieren. Als nächstes widmete sie sich den Fühlern. Mit einer Pinzette riss sie den linken aus. Sie musste ihn kürzen und verdicken, damit er richtig aussah.