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Sie setzte an, den zweiten Fühler auszurupfen, doch da bewegte sich ebendieser. Rubi hielt den Atem an. Sie war sich sicher, dass sie sich geirrt haben musste und starrte verzagt auf ihr Model hinab. Nichts rührte sich. Sie belächelte sich und hielt den Kunststoffblock dann dicht vor ihre Nase, um genau sehen zu können, wo die Antenne sich lösen würde. Sie drehte die Montage im Licht und plötzlich fingen die strammen, schwarzen Beinchen an in der Luft zu krabbeln.
Vor lauter Entsetzen schleuderte Rubi ihre Schöpfung in die Ecke und die frische Farbe hinterließ einen Fleck auf der Tapete, wo der kostümierte Käfer abgeprallt war. Der Schreck machte sie noch sauer dazu. Sie war zu ungeduldig gewesen, sie hätte ihn länger im Tiefkühlfach lassen müssen, dachte sie zornig; fassungslos, dass er lebendig war und nicht das, was sie wollte.

Der große braune Ledersessel stand dem Fenster hin zugewandt und sie stierte in den hergerichteten Garten. Dr. Prizrak saß ihr auf einem einfachen Stuhl gegenüber, faltete die Hände über seinem Notizblock und wartete geduldig wie die Dämmerung. Durch seine Ohren leuchtete rot die verlegene Sonne und in den Stoppeln seiner getrimmten Halbglatze hing eine Fluse.
Rubi wollte ihn nicht anschauen, davon überzeugt, er würde dann schon nicht merken, dass sie da war. Nach einer Weile räusperte er sich und brach das Schweigen: »Sie sagten, es war eine dumme Idee, dass ihre Schwester Sie zu dieser Therapie überredet hat.« (Nach der dritten Sitzung hatte er ihr das Du angeboten, das sie nachdrücklich abgelehnt hatte. Sie wollte seine Wertschätzung nicht und hielt ihn lieber auf der anderen Seite der Formalie.)
»Gezwungen, nicht überredet«, korrigierte Rubi und zog die Beine an.
Dr. Prizrak überging ihren Einwand und fuhr gelassen fort: »Sehen Sie das immer noch so?«
Sie antwortete nicht, er klappte sein Büchlein auf, machte eine längere Notiz und sie gaffte weiter nach draußen. Dann schnaubte sie, drehte sich ein kleines Stück weiter zu dem Therapeuten und maulte: »Und? Was haben Sie jetzt da reingeschrieben?«
Dr. Prizrak legte den Kopf leicht zur Seite, als erwartete er, dass gleich etwas an ihm vorbeifliegen würde. Sein Antlitz blieb Rubi weiter durch das Gegenlicht verborgen und sie kaute auf ihrer Unterlippe. Er strich mit seiner Hand über die Seite und las ihr mit ruhiger Stimme vor: »Patientin negiert ihr Entwicklungspotenzial.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt erst mal gar nichts. Es bedeutet nur, dass Sie ihre Denkmuster nicht mit mir besprechen wollen. Das ist nichts Schlimmes.«
»Aha«, sagte Rubi und verstand kein Wort. Ihrer Meinung nach waren ihre Denkmuster in einem fabelhaften Zustand. Vielmehr störte sie ihr Instinktdefizit; dass sie immerzu herausfinden sollte, was zu tun war.
Und gleichwohl sie das gar nicht wollte, stolperte sie fast über eine der größten Fragen des Anthropozäns – darüber was genau dieser Anthropode nun eben sei –, die sich ihr quer in den Weg gelegt hatte, wie ein loser Pflasterstein. Sie wand sich darum und bemühte sich, die elende Frage nicht zu fokussieren und stammelte alternativ vor sich hin: »Wollen Sie mir sagen, ich brauche solche Denkmuster?«
»Sie haben Denkmuster«, attestierte Dr. Prizrak versöhnlich, »wir alle haben sie.«
Und schon durchzog sie wieder das Gefühl unlösbarer Materie.
»Und wofür sind die bitteschön gut?«, fragte sie trotzig und äffte: »Fehlgeleitete Willenshandlungen?«
Der Medicus klappte sein Buch zu und schlug die Beine in die andere Richtung übereinander. Er war in einer fließenden Lauerstellung: »Glauben Sie, dass das Ihr Problem ist?«
»Nein.«
Rubi dachte, dass ihr Willenshandlungen jedweder Art fehlten. Damit war sie wie ein Tier, nur gemeinerweise ohne die angeborene Weisheit. Der Therapeut nickte verständnisvoll und klappte das Buch wieder auf. Auf der Wiese flatterte ein Admiral vorbei und grämte sich wohl über die gemähte Monokultur. Sie schwiegen wieder für ein Weile. Mit einem tiefen Atemzug richtete der graue Mann seinen Oberkörper auf und probierte es weiter.
»Haben Sie diese Woche etwas auf Ihre Liste geschrieben?«, fragte er fromm.
Rubi zog die zerknitterte Liste aus ihrer Gesäßtasche und hielt sie ihm hin. Mit einem linden Lächeln nahm er sie entgegen und studierte den kurzen Text eingehend. Er sagte jetzt nichts mehr. Rubi schob ihren Hintern von links nach rechts und hatte vergessen, wie man bequem saß. Nach ein paar Minuten hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich habe einen Käfer aus dem Museum getötet«, beichtete sie, um überhaupt was zu sagen und die Sitzung wenigstens mit Gefasel befeuern zu können.
»Warum haben Sie das getan?«, fragte er, ohne eine Tonlage der Wertung anzustimmen.
»Weil ich ihn haben wollte!«, erwiderte sie logischerweise.
Er schrieb etwas in sein Buch und sah sie mit ernster Visage an. Diesmal fragte sie nicht, was er aufgeschrieben hatte. Sie fühlte sich unverstanden.
Seit Adam und Eva es mit dem Paradies verbockt hatten, musste man sich mit all dieser Scham und Schuld herumschlagen. Seit sie sich zu dieser Krone der Schöpfung emporgeschwungen hatten (das Ding war die reinste Attrappe. Entweder das ach so feine menschliche Bewusstsein war ein bloßes Abfallprodukt der Hirnaktivität oder ein simpler Mechanismus, der den Menschen die natürliche Selektion umgehen ließ, dabei offensichtlich völlig außer Kontrolle geraten war und viel mehr als nur den eigenen Geist übermannte), ging das so.
Sie war nicht unglücklich, aber trotzdem unerfüllt. Es schmeckte abgestanden. Unter Rubis Maske juckte es und die der anderen dünkten ihr nunmehr bizarr. Wie wächserne Totenmasken, im Fieber verschwommen.
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