Jochen Klepper: Der Vater Roman eines Königs

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Zwischen der Königin und der Kronprinzessin, den beiden jungen Frauen, vermittelte sie unermüdlich, freundlich und behutsam, so dass keine sich vor der anderen etwas zu vergeben brauchte. Unter den Frauen ging es diesmal glimpflicher ab als unter den Männern.
Die Herrenabende der festlichen Wochen waren nicht ungefährlich, zumal man nicht umhin gekonnt hatte, den Fürsten Anhalt-Dessau unter den Gästen nach Berlin zu bitten. Und um des Kronprinzen willen war er, leider, gekommen.
Wo der Fürst und der Kronprinz sich von den Festen nur entfernen konnten, suchten sie allein zu sein, die täglich sich häufenden unangenehmen Ereignisse miteinander zu besprechen. Gerade die Herrengesellschaften, die neben den Hoffeierlichkeiten herliefen, schienen ihnen eine Möglichkeit dazu zu geben. So trafen sie sich auch beim Obermundschenk von Grumbkow. Der, an der Pforte des Alters stehend, führte eine erlesene Küche und einen vorzüglichen Keller, und man traf mit Sicherheit nur die Herren bei ihm. Ängstlich hielt er seine Frau dem Hofe fern, solange eine Gräfin Wartenberg in Wahrheit dort vor Königin und Kronprinzessin residierte, wie ehedem in der väterlichen Schankstube; nur dass sie jetzt, auf der höchsten Stufe ihrer Laufbahn, Mätresse lediglich dem Ruf nach war. König Friedrich wollte den Potentaten Europas nicht nachstehen.
Alle waren sie in Grumbkows Hause im Gesellschaftsanzug; auch der Kronprinz; auch der Fürst von Anhalt-Dessau; man sah viel bunten Brokat, Samt und überaus kostbare Perücken, die man neu aus Paris hatte kommen lassen. Es reizte den Kronprinzen, wie sie da alle um den Kamin saßen, in goldenen Sesseln mit geblümter Seide, die Lockentürme im Gespräch dicht aneinander gedrängt. Der Kronprinz lenkte die Unterhaltung auf die Mode. Ob die Herren nicht auch all das Neue, Französische in Berlin etwas fremdartig fänden? Ja, das fanden sie. Ob man die beträchtlichen Gelder, die allein die Perücken in dieser Kaminnische hier ausmachten, nicht nützlicher anwenden könne? Ob der preußische Handel nicht jeglichen Betrag sehr dringend brauche? Die Herren waren sich einig.
Herr von Grumbkow fand im geheimen, die Hoheit benehme sich in seinem Hause nicht sonderlich gut. Aber darauf würde man sich in Zukunft nun einzustellen haben. Der Hoheit gehörte die Zukunft.
Endlich hatte es der Kronprinz soweit getrieben.
„Wer kein Hundsfott ist, der tut es mir nach!“
Er riss die Perücke vom Kopf und schleuderte sie in den Kamin. Herr von Grumbkow erfüllte seine Hausherrenpflicht. Die Lockenbündel der anderen folgten. Es roch widerlich nach versengtem Haar, die Flammen schlugen aus dem Kamin; die schwarzhaarigen, braunen, blonden, grauen und kahlköpfigen Kavaliere sahen recht bestürzt darein, nannten aber den Einfall des Kronprinzen außerordentlich lustig. Nur die Herren Markgrafen, die Brüder des Königs, suchten ihre Grämlichkeit gar nicht erst zu verbergen. Aber durften sie dem Neffen etwas sagen? Konnte er nicht schon morgen ihr Brotherr sein? Die Feigheit und Verlegenheit reizten den Prinzen. Sein Brokatrock fuhr als Zugwind über die Kerzen und in die Flammen. Der Kamin vermochte die Fülle der Röcke nicht zu fassen, die nun nachgeworfen werden mussten. Das Feuer sank zusammen, der Raum verdunkelte sich; alle Herren bemühten sich um einen Vorwand, diesen Schreckenswinkel verlassen zu dürfen. Zum Glück hatte jeder in Sänfte oder Wagen seinen Umhang oder Mantel.
Grumbkow bot auch seine Weste zum Verfeuern an.
„Nur so sind Königliche Hoheit auf dem rechten Wege. Alle brauchen sie hier handgreifliche Beispiele.“
Die Antwort überraschte Friedrich Wilhelm. Er entschuldigte sich, in Grumbkows Hause ein gar so lebhaftes Exempel statuiert zu haben. Aber der Hausherr belachte es ohne Befangenheit und Verstellung. Auch der Kronprinz und der Fürst mussten lächeln über die verstörte Flucht aller Gäste und wie sie selbst hier voreinander standen ohne Perücken, ohne Spitzenjabots, ohne Röcke, nur in Hose, Hemd und Weste, zerrauft und verrußt. Sie waren so lustig und aufgeräumt, dass sie sich gar nicht erst in Ordnung brachten, sondern so, wie sie waren, am Kamin sitzen blieben, während die Lakaien in unbeirrbarer Gemessenheit Weine, Pasteten, eine ganze kalte Küche auftrugen.
In allen Äußerungen Grumbkows lag eine Billigung dessen, was der Kronprinz getan hatte; dabei hielt er sich von Schmeicheleien weit entfernt. Auch schien er deutlich die tieferen Gründe zu erkennen, aus denen alle Heftigkeit des jungen Herrn hervorgebrochen war. Jedenfalls nahm das Gespräch sehr rasch die Wendung zum Ernste, und zwar – von Grumbkow so geführt – gerade zu den Dingen, die den Sinn des Prinzen so ungestüm bewegten. Plötzlich war der Hausherr in alle geheimen Gedanken des Gastes eingeschaltet. Ein ausgezeichnetes Beobachtungsvermögen hatte ihn genau dieselben Wahrnehmungen machen lassen, die den Thronfolger derart erschütterten. Auch war nun die Zurückhaltung, die Grumbkow sich Gaëtano gegenüber aufgelegt hatte, mit einem Male bedeutsam.
Der große, dunkle Grumbkow, der verhaltene und ernste Mann mit dem genießerischen, satten Mund hätte noch zu schweigen gewusst, wenn er nicht vom nahen Zusammenbruch der Wittgenstein, Wartenberg und Wartensleben so felsenfest überzeugt gewesen wäre. Das Land war am Ende. Grumbkow hatte die Augen offengehalten und den Weg erkannt, auf dem das Unglück kommen musste. Grumbkow hatte auch wirklich gearbeitet. Das gab ihm jetzt die Übermacht über die drei Minister, die nicht mehr in der Lage waren, das Feld ihrer Zerstörung zu überblicken und das Gewirr der Fäden in der Hand zu halten, das sie um den König gar zu kunstvoll spannen. Es war kein Gold mehr da. Da sackten Intrigen, Rankünen und alle Diplomatie einfach in sich zusammen.
Fraglos überschätzte der Kronprinz in dieser wunderlichen Nacht am Kamin Grumbkows innere Größe. Er fand einen, der alles wusste. Er begegnete einem, der im geheimen auf das Bündnis mit ihm hingearbeitet hatte. Unter Müßiggängern, Verschwendern und Verschwörern traf er auf einen Strebsamen, der sich in den Staatsaffären einen Überblick angeeignet hatte, weit über den eigenen Amtsbezirk hinaus.
Aber was bei dem Königssohn in der Stunde dieser Bundesschließung die Aufwallung eines großen Herzens war, blieb bei dem Obermundschenk der mühsam vorbereitete Schlussakt einer schwierigen diplomatischen Unternehmung.
Ein anspruchsvoller, ehrgeiziger, genusssüchtiger junger Herr aus gutem Hause, war er ziemlich mittellos in die Staatslaufbahn und die Hofämter gekommen, die seinen Vätern alles bedeuteten: Brot und Glanz. Die entscheidende Stunde des Aufstiegs und des Einflusses schien ihm genaht, als dem Großen Kurfürsten der schwache Sohn gefolgt war, im Banne nur der einen Sehnsucht, ein König zu sein, um welchen Preis und mit welchem Sinn oder Unsinn es auch sei. Sobald nun Grumbkow sah, was zwischen dem ersten „König von Preußen“ und seinem Volk gespielt wurde, hielt er sich eng an die allmächtigen drei Minister. Aber ihr Bund war so fest und vorsichtig geschlossen, dass kein vierter Raum darin finden konnte. Kreatur zu sein – dazu war Grumbkow zu hochmütig und herrschsüchtig. Der König schien ihm zu schwach, als dass er allein gemeinsam mit ihm gegen die Minister hätte stehen können. So blieb dem Hofmann nichts, als auf das Heranwachsen des Thronfolgers zu warten. Fremder konnten ein älterer und ein jüngerer Mann einander nicht sein. Aber Grumbkow spürte die gewaltige Energie, die vielleicht schon in kurzem alle preußischen Staatsaffären durcheinanderschütteln, der keiner sich entziehen können würde und auf die im wankenden Preußen allein noch zu bauen war.
Der Dessauer stand sorgenvoll bei dem jungen Fürsten und dem Hofmann. Es war zu wenig Einsatz für den Bund, dass Grumbkow gar nichts in ihn einbrachte als die Verbitterung über die Allmacht des Dreifachen Wehs. Aber eben um jener gemeinsamen Gegnerschaft willen musste der Fürst dem Höfling gegenüber jedes eigene Bedenken zurückstellen und den Thronfolger an das Bündnis zwischen ihnen dreien glauben lassen; denn Klugheit, wie die eines Grumbkow, war ein rares Ding im Lande und bei Hofe.
Als die drei Männer in Weste und Hemd am verflackernden Feuer im spärlichen Anbruch erster Helligkeit über dem Tisch mit den geleerten Bechern einander die Hände zum Abschied hinhielten, schien es eine jener seltenen Stunden neuer Freundschaft zu sein, aus denen gemeinsames Werk wird. Und allein die Erinnerung an diese Nacht ließ den Kronprinzen geduldig bei den weiteren Vermählungsfeierlichkeiten ausharren.
Der königliche Bräutigam selbst war von nun an viel bedrückter, dass niemand etwas von der Schwangerschaft der Schwiegertochter gemerkt haben sollte; dass man ihn in die neue Ehe gehetzt hatte; dass so entgegengesetzte Männer wie der Fürst von Anhalt-Dessau und Herr von Grumbkow – die beiden fähigsten und unbequemsten – plötzlich zueinander fanden, dies alles machte ihn betroffen. Er fühlte sich verraten und verkauft, ohne zu wissen, an wen, von wem und für welchen Preis. Immer wieder wurde ihm der Kronprinz als der Stein des Anstoßes und Grund allen Ärgernisses genannt. Hass setzte sich in ihm fest. Weil er sich nicht mehr hindurchfand durch die Wirren, Lügen und Gefahren, hielt er sich an die einzige Erklärung, die man ihm gab: Der Sohn war schuld, der Sohn, der Sohn, der Sohn.
Der Kronprinz begann sich bei den neuen Gefährten bitter zu beklagen: „Ich habe es nicht verdient, wie um der Ungnade des Königs willen alle diese Canailles hier mit mir verfahren. Sie müssen wissen, dass ich wenig und bald gar nichts mehr zu sagen haben werde. Der König glaubt, ich wäre ein Verräter. Meine Freunde dürfen nicht von mir sprechen, wenn sie sich nicht beim König in Verdacht bringen wollen. Wenn ich nur nicht hier wäre und müsste alle die Schelmereien mit ansehen, wie sie unseren guten König betrügen, so wäre ich zufrieden. Hier kann nur Gott noch alles gutmachen!“
Aber der König und die Seinen taten übel.
Und dennoch ließ der König den Kronprinzen seinen Unwillen noch nicht in den letzten Folgerungen auskosten. Wenn nun sein drittes Kind, auch noch so unerwünscht, geboren werden würde und gar ein Knabe wäre, so sollte ihm alle gebührende Ehre erwiesen werden. Denn Preußens erster König ehrte ja sich selbst und sein Werk, wenn er dem Thronfolger und des Thronfolgers Sohn huldigen ließ. Ach, Glanz und Unsterblichkeit über seinem jungen, noch von aller Welt verachteten Königshaus! Friedrich I. atmete tief. Er söhnte sich aus mit dem Gedanken, es möchte nun doch wieder ein Knabe sein.
* * *
Es war ein Knabe.
Am Abend seines eigenen Geburtstages war der Kronprinz allein zurückgeblieben. Eine lange Sommernacht hatte er auf den Schrei des neuen Menschen und das Licht des neuen Tages geharrt. Als es hell war, sank er in Schlaf – unentkleidet, ungewaschen sogar gegen seine selbstverständliche Gewohnheit.
Und nun beglückwünschten sie ihn, wie sie ihn gestern kaum mit Gratulationen bedacht hatten.
Ein Sohn sei es, ein schöner Sohn.
Natürlich, das mussten sie sagen. Friedrich Wilhelm lachte.
Aber beim Anblick des Kindes verlor sich das Lächeln; kaum dass er auf die junge Mutter achtete. Dort lag noch einmal sein erster Sohn. Es strömte ihm glühend über das Herz: Gott konnte alles wiedergeben, was er nahm. Der Sohn war wiedergekommen! Er blieb tief über ihn gebeugt. Nein, es war doch ein anderer, ein ganz anderer – die Augen waren noch dunkler zwischen Schwarz und Blau und waren klarer, der Mund schien kräftiger geschwungen, Stirn- und Backenknochen waren stärker ausgeprägt; und runder war er; und lauter im Schrei; und lebenskräftiger – oh, es war ein ganz anderes Kind! Sein Sohn! Sein Geburtstagsgeschenk! Sein Friedrich Wilhelm! Man konnte ihn schon recht fest anpacken. Er ließ sich schon streicheln und ein ganz klein wenig drücken. Er brummte dem Kleinen ins Ohr, ob er es sich merken würde – Friedrich Wilhelm! Friedrich Wilhelm! Und was für ein pünktlicher kleiner Soldat – genau am ersten Tage im neuen Lebensjahr des Vaters angetreten! Solche Dinge schwatzte der Kronprinz überglücklich und töricht.
Die Kronprinzessin, vierundzwanzigjährig, lächelte milde und weise. Sie kam sich so viel reifer vor als der dreiundzwanzigjährige Vater. Übersah er denn ganz die großen Aspekte dieser Stunde? Die regierende Königin war zum Eindringling im jungen preußischen Königshause gestempelt! Auch die Kronprinzessin, auf ihre Weise, war sehr glücklich.
Aber das Größte an dieser Stunde des frühen Augustmorgens ging ihr verloren. Sie nahm es nicht wahr, dass Friedrich Wilhelm sie von diesem Tage an unauslöschlich zu lieben begann, sie und den Sohn.
Im Vorzimmer nahm er die kleine Wilhelmine auf den Arm und küsste sie, bis sie zu weinen und von ihm wegzustreben anfing.
* * *
Nichts drang in das Glück seines Herzens, auch das nicht, dass heute aus Ansbach und Hannover Kavaliere eingetroffen waren, zur ansbachisch-hannöverischen Hochzeit einzuladen.
Gott kann wiedergeben, was er nahm. Der Kronprinz dachte es auch hier von den Frauen wie zuvor von seinen Söhnen.
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt“, prägte sein Herz in heißen, raschen Schlägen den Taufspruch für den zweiten Sohn, und dem jungen Vater kam nicht der Gedanke, dass dieses Wort an den Gräbern und nicht am Taufbecken gesprochen wird. Aber endlich musste eine Abordnung des Konsistoriums die Hoheit auf den peinlichen Irrtum aufmerksam machen. Da schlug der Kronprinz einen anderen Text, aus dem Evangelium des Johannes, vor: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.“
Nun war das Entsetzen noch größer. Die Locken der Amtsperücken wehten, die schwarzen Roben der geistlichen Räte rauschten.
Das Wort stand bei des toten Lazarus Erweckung. Wer wagte es dem jungen Herrn zu sagen?!
Aber er war ganz still. Es war ihm selber eingefallen. Er kannte die Schrift.
* * *
Preußen schritt von Fest zu Fest. Die neue Taufe sollte ein Höhepunkt werden. Friedrich Wilhelm aber wollte über dem Taufbecken des Sohnes die Hand des Vaters gereicht bekommen. Er aß nicht mehr; er trank nicht mehr; er magerte zusehends ab. Die Feiern wurden ihm zur Qual und zum Gericht. Im Festgeläute hörte er das Wimmern der Armesünderglocke von Küstrin. Statt des goldenen Kirchenschmuckes sah er nur den Galgen im Rauschgold, und der Purpur um die Schultern des Täuflings wurde ihm zum Flittermantel des Goldmachers, in dem man ihn zur Richtstätte führte.
Wieder trug ein Sohn den Reichsapfel, das Ordensband, die Krone und das Zepter. Das kleine Antlitz war wächsern; das schwankende Köpfchen wurde gestützt. Aber Predigt und Einsegnung, Namensgebung und Gesang, heroische und sakrale Musik nahmen gerade erst den Anfang.
Friedrich Wilhelm suchte sich aus dem Kreise der Paten und Gäste zu lösen; Schritt für Schritt, dass keiner es bemerkte, wollte er seinem Kinde näherkommen bis an die Stufen des Taufsteins.
Als sie den Knaben über das silberne Becken mit dem geweihten Jordanwasser hielten und die Krone emporhoben, das Haupt des hohen Kindes mit den Tropfen der heiligen Flut zu netzen, sah er den blutenden Riss. Dort, wo der Rand der Krone sich in den bleichen Schläfen breit und dunkel abgezeichnet hatte, war das Wundmal eingegraben. Sie senkten die Krone auf das ungestillte Blut.
Noch schrie der Vater nicht, noch gebot er nicht Einhalt. Aber die um ihn wussten es sofort, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Gewaltig, aufgereckt und totenblass stieß der Kronprinz sie zur Seite, mit beiden Armen griff er nach den Pfeilern zur Rechten und Linken, wie Simson einst die Säulen packte.
Aber kein Dachgewölbe, keine Wände stürzten, und die Pfeiler sanken nicht. Die Hände des jungen Vaters waren an den Stein gepresst, sein Mund war stumm geöffnet.
Dann klirrte die Krone auf die Stufen des Altars. Reichsapfel und Zepter rollten auf den Samt der Gänge, in Blumen und seidene Schleppen. Alle, die um den Taufstein standen, umringten entsetzt den Prinzen; die in den Kirchgestühlen neigten sich vor und steckten die Köpfe zueinander. Der Kronprinz schlug den Purpurmantel um sein Kind. Keiner mehr sollte es anrühren, keiner mehr es sehen. Er gab es nicht mehr her. Und aller Sohnesgehorsam war in ihm nun abgetan. Er blickte den Vater und König nicht an, er fragte nach niemand, der ihn halten oder ihm das Kind vom Arme nehmen wollte. Er durcheilte den Dom zum Portal. Am Tor war er allein, denn alle wandten sich voll Sorge nach dem König um. Dem bedeckte kalter Schweiß die Stirn und die Wangen. Zitternd lehnte er in seinem hohen Stuhl. Der Dombischof sprach milde auf ihn ein. Als er das Taufbecken umgestoßen und das Jordanwasser über die Stufen des Altars rinnen sah, erstarben ihm die Worte auf den Lippen.
* * *
Erst als die Ärzte kamen, überließ Friedrich Wilhelm seinen Sohn den Kinderfrauen. Er gab ihn den Ärzten angstvoll und schweigend. Die Ärzte hatten Furcht vor ihm. Was sie nicht verordneten! Was sie nicht erfanden! Welche Krankheiten sie nicht entdeckten!
Das Dreifache Weh hatte gute, gute Tage. Kein Kronprinz störte seine Machenschaften.
Der Kronprinz hielt zwischen seinen Räumen und den Zimmern der Gattin und des Kindes fürchterlichen Umgang, die halbe Nacht hindurch.
Ehe er frühzeitig wiederkam, hatten sie den toten Knaben schon entfernt, den Leichnam zu waschen, zu balsamieren, aufzubahren. Der Vater fand nur noch die leere Wiege. Den Kopf auf den noch nicht erkalteten Kissen seines Kindes, schlief er ein nach einer schlummerlosen Nacht.
Am Abend konnte man wie sonst mit ihm reden; nur der König hielt sich fern. Der Kronprinz stand Rede und Antwort, aber man spürte, wie ihm die Zeit zu langsam verrann, bis sie ihn endlich allein lassen würden. In der zwölften Stunde ging er mit dem Leuchter, ohne Diener, durch das Schloss. Er schritt so rasch, dass alle Kerzen flackerten und wirre Schatten warfen in dem langen, hohen Gang. Vor der Treppe zur Kapelle stellte er den Leuchter ab. Mit beiden Fäusten klopfte er an die Tür, die den Gang zu den Gesindekammern von der Galerie abschloss. Der Kronprinz wollte die Schlüssel zur Kapelle.
Kein Diener ist ihm gern gefolgt. Mitternacht, Leichnam und Kapelle – der Dreiklang ließ auch Männer schaudern. Aber dem Vater war, was die anderen entsetzte, der süße Körper seines Kindes. Er suchte ihn, er leuchtete das Gewölbe ab.
Am Särglein von rohem Holze lehnten zwei wächserne Engel, seinen toten Söhnen nachgebildet, die Arme lieblich gehoben, die Lippen lächelnd geöffnet, die dunklen Augen sinnend aufgeschlagen. Ganz nackt waren sie, umschlungen nur vom Band des Schwarzen Adlerordens. Hochgeschlagene Hüte mit gewaltigen, weißen Straußenfedern hatten sie wie im Spiel auf ihre kleinen Häupter gedrückt.
„Nehmt sie weg!“ schrie der Kronprinz fassungslos die furchtsamen Diener an. Gleich danach gab er ruhige Erklärungen. Sie sollten sich nicht so töricht anstellen; dies seien die vom König dem Hofwachsbossierer für das Trauerlager in Auftrag gegebenen Figuren der verstorbenen Prinzen. Dort liege noch das Gerät des Wachsbildners, den der Abend überraschte, als er das Konterfei des kleinen Leichnams überprüfte.
Die Diener waren befreit und belebt. Neugierig leuchteten sie in den Winkel mit dem Zeichentisch, auf dem die Skizzen für das Trauerprunkbett aufgeheftet waren: auf hohem Katafalk der Sarg mit Totenkopf und Krone, Gebeinen und geflügelten Saturnsköpfen als Zier seiner Wandungen. Die wächsernen Knaben umschwebten ihn als Engel.
Der Kronprinz trat unter die Diener. Er riss die Skizzen vom Tische, warf sie in einen Winkel. Die Wachsfiguren rührte er nicht an; es war überflüssig, dass sich gleich die Diener schützend vor sie stellten. Doch den Sarg hob er auf und trug sein Kind hinweg ins Dunkel. Sie geleiteten ihn mit den Kerzen. Keiner wagte eine Frage. Keiner nahm ihm den Sarg ab. Er trug ihn in sein Schlafgemach; er stellte ihn auf den Tisch. Die Diener wies er an der Schwelle ab. Nur ein Licht ließ er sich noch reichen. Das nahm er auf den Tisch zu dem Sarge. Er rückte sich den Sessel heran. Er zog den Sarg ganz dicht an sich. Nun konnte er den Arm um ihn legen, ganz eng, ganz nahe um das harte, rohe Holz. Er trauerte um das Geschlecht, um seinen Vater, seine Söhne. Das Land brach zusammen. Seine Söhne starben.
Morgen sollte der Knabe in goldenem Sarge ruhen, auf hohem Katafalk, bei Fackeln und Engeln. Ach, dass solche Feier nicht mehr wäre! Er wollte kein Fest des Goldes und des Todes mehr. Ach, dass er sein Kind noch diese Nacht im Garten vergraben dürfte! Niemand sollte es finden.
Schon erhob er sich. Aber als er aufstehen wollte, standen die Frauen in der Tür. Viele Leuchter wurden über sie gehalten. Er sank zusammen. Er war wie ohne alle Kraft. Nur der Arm um das Särglein blieb stark. Seine Blicke, weil sie vor den Frauen flohen, blieben auf dem toten Kinde haften. Es war im Sarge vom Tragen und vom Niederstellen zur Seite gefallen; nun schien es lebend, schlafend. Nichts, nur dies sah der Vater.
Die Kronprinzessin schluchzte auf. Die Ansbacherin stand schweigend, beide Arme um die Schwägerin geschlossen, so dass die eigenen Hände wieder ineinandergriffen. Noch spät in der Nacht hatte sie bei der Trauernden geweilt. Da hatten die Frauen die Diener gehört und das grausige und seltsame Tun des Kronprinzen erfahren. „Wir müssen zu ihm“, hatte die Ansbacherin gesagt, und die Kronprinzessin war ihr gefolgt, von ihr gestützt, von ihr geführt und weinend.
Die künftigen Königinnen von Preußen und England hielten einander umschlungen. Der Kronprinzessin verschleierten Tränen den Blick. Die Augen der Ansbacherin waren tränenlos und klar. Sie sah den Mann, den Tisch, den Sarg, das Licht. Sie atmete zitternd, doch beherrschte sie ihr Stöhnen.
Friedrich Wilhelm wandte den Kopf auf sie zu. Regungslos blieb er sitzen, zusammengesunken, den Arm um den Sarg gelegt, den leeren, schweren Blick auf die Frauen gerichtet.
Die Ansbacherin presste den Leib der Schwägerin an sich. Gib ihm Kinder, immer wieder Kinder, gib ihm den Sohn, riefen alle Sehnsüchte, schrie alles Mitleid in ihr. In einem einzigen Schlage ihres Herzens begriff sie, dass sie von dem Blicke dieses Mannes niemals loskommen würde, was auch verloren und beendet, was auch an Glanz des Welfenhauses über ihr verheißen war.
Sie bebten alle vor dem Morgen, am bangsten der König. Um Mitternacht war ihm schon gemeldet worden, was sich in der Kapelle begab.
„Gott gnade ihm vor dem Sohn“, flüsterte der Hof.
Der Hof tat alles, die Wirren und Leiden dieser Stunden in weite Zukunft hin zu mehren.

Graf Alexander Dohna
Gott gnade dem Hof vor dem Sohn, dachte Graf Dohna, der Hüter dieser Prinzenkindheit.
Ein Wort des Knaben Friedrich Wilhelm war wieder im Umlauf: „Der Teufel hole mich! Wann ich werde groß werden, will ich sie alle miteinander aufhängen lassen und ihnen den Kopf abhauen!“
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