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„Das kenn’ ich“, sie strahlte mich an, ihre Augen bildeten nun schwarze Knöpfe in diesem plüschweichen Gesicht. „Leopold, natürlich. Da gibt es jeden Freitag Chill-Out und die Deejays legen echt geil auf. Nicht so eine alte Kacke wie hier.“ Mit dem Kopf machte sie eine Geste in Richtung des Mischpults.
Mir gab es einen Stich, denn es lief „Higher Ground“ von Stevie Wonder und im selben Moment zwang ich meinen zuckenden Oberkörper wieder starr zu sein. Ich hatte meine Hand auf ihrem Arm liegen und sie drückte ihren Schenkel gegen mein Bein.
„Vielleicht willst du woanders hin, wenn dir die Musik hier nicht gefällt?“
„Warum gehen wir nicht endlich bumsen?“
So kam ich in dieses Hotel. Mein Kopf brummte und einzelne Teile des Abends liegen noch immer bedeckt unter einer dicken Eisschicht ohne Hoffnung auf eine baldige Klimaerwärmung. Wir waren mit dem Taxi losgefahren und ich weiß noch, dass sie meine Versuche, sie am Busen oder zwischen den Beinen zu berühren, effizient abgewehrt hatte. Ich hatte mehr getrunken als mir guttat und war so geil, dass ich mich am liebsten noch im Fond des Wagens auf sie geworfen hätte, was der indische Taxifahrer wohl mitbekommen haben musste, denn seine weißen Augen, die unter seinem Turban hervorstachen wie zwei Xenonlichter, waren mehr auf den Rückspiegel als auf die Straße geheftet. Wahrscheinlich hatte er auf Action gehofft, wie sie Bollywood-Filme selten bieten. Aber vielleicht hätte er auch nur angehalten und uns gesteinigt. In Indien geht man gegen Moralverstöße eher archaisch vor.
Bei jeder Ampel läutete Schneewittchens Handy und sie würgte die Gespräche genauso schnell ab wie meine Annäherungsversuche. Sie ließ sich in die Garage bringen und ich fragte mich, ob sie vermeiden wollte, dass man uns am Eingang gemeinsam sah. Wir stiegen aus und sie sagte, sie hätte noch kurz etwas zu erledigen. Sie drückte mir ihr Mobiltelefon in die Hand und ließ mich den Fahrer bezahlen. Als Ihr Handy abermals läutete, warf ich es genervt in einen Mistkübel.
Endlich waren wir im Zimmer. Aus der Minibar hatten wir uns einen Drink genommen. Ich saß am Bettrand. Wir hatten uns bislang nicht vorgestellt. Und genau genommen waren unsere Namen vollkommen egal. Dennoch sagte ich: „Du kennst nicht einmal meinen Namen.“
„Namen sind jetzt wurscht. Außerdem weiß ich genau, mit wem ich mich einlasse. Ich nenne dich einfach Mister Big.“ Sie machte eine Kunstpause und ihre Lippen schmollten mich äußerst sexy an, dann setzte sie nach: „Und ich hoffe, du enttäuscht mich nicht.“
Sie hätte mir nicht auf den Schritt schauen müssen, damit ich kapierte, was sie sich erhoffte, und ich überlegte, ob ich jetzt noch aus dieser Nummer herauskommen würde, bevor es zu peinlich für mich wurde. Aber wenigstens durfte ich meinen Namen für mich behalten. Ich heiße Cosinus Gauß. Das kommt davon, wenn man einen Vater mit diesem Nachnamen hat, der noch dazu Mathematikprofessor ist.
„Ich heiße Maria.“
„Für mich bist du Schneewittchen.“ In diesem Moment hätte ich wegen meiner Blödheit aus der Haut fahren wollen. Nicht schon wieder alles vermasseln!
Doch sie verzog nur die Mundwinkel zu einem schelmischen Grinsen und kleine Grübchen bildeten sich dabei auf ihren Wangen. Sie sagte: „Wusstest du nicht, dass Schneewittchen in Wirklichkeit Maria hieß?“
Ich wusste es nicht. Ich machte Augen wie ein Kindergartenkind, dem man ein Märchen vorliest.
Sie erklärte weiter: „Die Brüder Grimm hatten für die Figur des Schneewittchens Maria Magdalena als Vorbild.“
Mann war die gut! Sie konnte lügen, dass sich die Balken bogen und dass ich sie am liebsten gefragt hätte, ob sie bei mir in der Kanzlei einsteigen wolle. Doch ich wollte sie lieber ins Bett bekommen.
„Gib zu, auch das wusstest du nicht.“ Sie machte kleine Schritte auf mich zu. Bei jedem Buchstaben eine Zehenspitze näher zu mir. Dabei knöpfte sie ihre Bluse auf, schlüpfte aus den Schuhen und hatte ihre Augen zu Schlitzen verengt; wie eine Raubkatze bei der Jagd. In mir wuchs die Vorfreude und an mir noch etwas anderes.
Und genau in dem Moment, als sie die Bluse abstreifte und ich vom Bett hochschnellte, um sie mir zu nehmen, wurde mir schwindelig und ich sackte ohnmächtig zu Boden.
Ich erwachte in der beschriebenen Position, halb auf das Bett gestreckt. Die Matratze hatte mich aufgefangen und meinen Sturz gebremst. Dabei wäre eine Beule am Kopf im Moment das geringste Übel gewesen. Doch im Zimmer gemeinsam mit einer Leiche, das machte alles andere als einen schlanken Fuß. Ein Bild durchbohrte meine Vorstellung wie das Schwert des Magiers den Kasten mit der Jungfrau. Ich, wie ich auf Schneewittchen knie und ihr den Hals mit einem Skalpell durchtrenne.
Mir fehlt zum Glück das Panik-Gen, das manche Leute in prekären Situationen den Kopf verlieren und die Flucht antreten lässt. Selbst wenn man mir das Messer an die Gurgel setzt, bleibe ich rational. Das war jetzt natürlich ein blödes Bild, denn Schneewittchen hatte mir bewiesen, dass man mit dem Messer am Hals auch sterben kann.
Ich spielte meine Möglichkeiten durch. Aufstehen und abhauen war eine davon. Aber gut möglich, dass ich dann dem Portier in die Arme gelaufen wäre – oder der Polizei. Wer immer die Kleine auf dem Gewissen hatte, war sicher dankbar, in mir den passenden Sündenbock gefunden zu haben. Gut möglich, dass der Mörder bereits die Polizei verständigt hatte. Abhauen war also durchaus eine Option. Abhauen ja, aber überlegt.
Ich fragte mich, ob ich irgendwelche Personalien am Hotelempfang hatte angeben müssen. Doch dunkel hatte ich in Erinnerung, dass Schneewittchen die Magnetkarte für das Schloss an der Zimmertür bereits bei sich getragen hatte. Wir waren auch mit dem Lift von der Parkgarage direkt in die Etage gekommen, ohne irgendwelche Formalitäten zu erledigen. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Verschwinden war also die weit bessere Option, als hier zu bleiben und den nutzlosen Versuch zu unternehmen, der Polizei meine Unschuld zu erklären. Ich war das Bauernopfer, dem man die „smokin’ gun“ in die Hand gedrückt hatte und dem niemand glauben würde.
Ich blickte mich nochmals um. Ich hatte nichts mitgebracht und würde nichts mitnehmen. Das Dumme war nur, dass überall meine DNA verteilt war. Mit Fingerabdrücken hält sich die moderne Kriminalistik gar nicht mehr auf, wenn sie aus einem Speicheltröpfchen meine gesamte Genealogie herauslesen kann. Aus einer Wimper können die Techniker die Haarfarbe irgendeiner Urahnin aus dem Kaukasus bestimmen und aus den Sekretrückständen meiner Fingerkuppen beim Betätigen der Klospülung, nachdem ich meinen Schwanz ausgeschüttelt hatte, wahrscheinlich sogar den Zeitpunkt meines ersten Orgasmus bestimmen: Ich war 17 und es geschah neben dem Turnsaal im Gerätekammerl, dort hinter dem Barren mit Emily Werner. Emily war nicht sonderlich hübsch. Das Beste an ihr war der Geruch nach den Erdbeerschnüren, die sie den ganzen Vormittag über den Unterricht verteilt in sich stopfte. Sie hatte leichte Speckwulste um Bauch und Hüften, außerdem ein rundes Gesicht mit viel zu großen Brillen, aber sie hatte ordentliche Brüste und ließ die meisten von uns Jungs drüber, auch wenn wir uns nicht in ihr ergießen durften. Wenn sie merkte, dass ein Typ am Kommen war, drückte sie ihn aus ihrer Mitte hinaus und ließ ihn in ihre Hand spritzen. In guten Turnstunden schaffte sie zwei von uns. Einen zu Beginn, wenn das Zeugs für die Turnübungen herzurichten war, und den zweiten am Ende der Stunde, wenn es hieß „einpacken und umziehen“. Einer von uns durfte dann auspacken und sie ausziehen. Die Turnmatte, auf der wir es mit ihr trieben, wurde mit der Zeit ein Ejakulat-Biotop und mir taten die Kleinen aus den Unterstufen leid, die auf der verkrusteten, blau genoppten Oberfläche Übungen machen mussten.
Wie gerne wäre ich jetzt auf der pummeligen Emily Werner gelegen statt hier neben dem viel schöneren, aber toten Schneewittchen. Im nächsten Moment lag ich dann aber doch auf Schneewittchen. Ich drückte mich gegen ihren weichen, aber kalten Körper und versuchte, so gut es ging, sie mit meinem eigenen abzudecken.
„Sehen Sie nicht, dass Sie stören?“, presste ich heraus, meinen Mund auf das Gesicht der Leiche gedrückt.
„Oh, Entschuldigung …“
Das Zimmermädchen zog die Tür hinter sich zu und ich fragte mich, ob sie irgendetwas anderes gesehen haben mochte als zwei, die zur Sache kamen. Ich musste jetzt schnell sein. Den Plan, draußen den Brandmelder zu betätigen und dann einige Minuten zu warten, bis die Gäste das Hotel wegen des Alarms verlassen hatten, um das Zimmer in Brand zu setzen, verwarf ich wieder. So ein Feuer lässt sich schwer kontrollieren und ich würde nicht viel gewinnen, wenn ich meine Spuren vernichtete, um einen Mord, den ich nicht begangen hatte, zu vertuschen, dafür aber womöglich andere Menschen auf dem Gewissen hätte. Oder ich flüchtete vor den Flammen und zehn Sekunden später war das Feuer von der Sprinkleranlage gelöscht.
Das brachte mich auf eine andere Idee. Sicher war die Polizei schon auf dem Weg. Ich ging zur Tür und lauschte, ob vom Gang Geräusche zu vernehmen waren. Als ich nichts hörte, verließ ich das Zimmer und nahm den Feuerlöscher, wie er in jeder Etage angebracht war, aus seiner Halterung. Ich kehrte ins Zimmer zurück und begann den Löschschaum zu verteilen. Mit Schneewittchen fing ich an. Immerhin hatte ich gerade auf ihr gelegen. Sie verschwand unter dem weißen Schaum wie eine verirrte Tourengeherin im Winter, verschluckt von Eis und Schnee. Als nur mehr die Umrisse zu erkennen waren, tat sie mir plötzlich leid. Solange ich unter Anspannung stehe, ist das Empathiezentrum in mir blockiert. Mir geht es da wie den amerikanischen GIs, die, solange sie am Kämpfen und am Töten sind, kein Mitleid empfinden und die dann nach Jahren, als Veteranen, daheim durchknallen. Jetzt musste ich weinen. Das passierte mir manchmal und ich konnte es nicht kontrollieren. Ich musste aufpassen, dass ich nicht im Gerichtssaal in Tränen ausbrach.
Ich würde zu gern vergessen, wie es mich damals mitten in einer Scheidungsverhandlung überkommen war. Der Richter fragte sofort, ob etwas nicht In Ordnung sei, und ich musste eine Ausrede finden. Ich schützte vor, dass mir die armen Kinder unendlich leidtäten. Denn nach so einer Trennung waren sie entweder innerlich zerrissen oder sie würden als unnötiger Ballast hin und her geschoben werden. Das scheidungswütige Paar, das eben noch um die letzten stinkenden Socken gestritten hatte, fiel sich in die Arme und begann ebenfalls zu schluchzen. Die Scheidung wurde abgeblasen und ich verdiente viel weniger Geld. Das war der eigentliche Grund zum Weinen.
Jetzt war es Schneewittchen, die meine Emotion außer Kontrolle gebracht hatte. Mir tat aber auch leid, dass ich keinen Sex mit ihr gehabt hatte. Selbst als Leiche hatte sie noch ihren Reiz. Dieser Gedanke ließ mich den Kopf schütteln. Eine nekrophile Ader in mir wäre ebenso neu gewesen wie die des Gewalttäters, aber vielleicht zweifelte der Mörder an meiner Person und hatte deshalb ihre Schamlippen vernietet, um mich vom Sex mit einer Leiche abzuhalten?
Während ich diese Gedanken wälzte, war das Bett völlig unter der Decke aus Löschschaum verschwunden. Ich hoffte, dass ich nicht noch einen Feuerlöscher holen musste, weil der erste bald leer sein würde. Aber letztlich schaffte ich es, alles in dem Raum damit zu überziehen. Ich warf Schneewittchen einen letzten Blick zu, nahm ihre Tasche an mich, drückte dann am Gang das Glas für den Alarm ein, und während die Feuermelder ihr schrilles Pfeifen von der Decke warfen, nahm ich den Lift in die Garage. Unten fragte ich mich, wieso wir über die Garage kommen konnten, wenn wir doch mit dem Taxi zum Hotel gefahren waren.
4.
Vor dem Hotel reflektierten Glasscheiben die Blaulichter der Feuerwehrfahrzeuge. Ein paar Männer in Montur stampften mit schweren Schritten in die Lobby, aus der noch vereinzelte Menschen hetzten, Erstaunen und Verwunderung und vielleicht auch Angst um das in den Zimmern zurückgelassene Hab und Gut in den Gesichtern. Die Vorsichtigen hatten wohl das Wichtigste in die Bauchtaschen gestopft. Und die Raucher hatten ihre Zigaretten gerettet.
Ich empfand ein wenig Häme, als ich zwei Pärchen in sehr leichter Montur auf dem Gehsteig ausmachte. Die blonden Damen trugen Negligés und zeigten ihre Beine und sonstigen Reize, während deren Begleiter in Schlapfen unterwegs waren. Der eine hatte eine Jogginghose an, der andere Boxershorts und ein ärmelloses Shirt, aus dem vorne wie hinten schwarz gekräuselte Haare quollen. Ich betrachtete deren Visagen und war mir sicher, dass es sich um Russen handeln musste. Eine schiefe Nase wie Putin und ein aufgedunsenes Gesicht, Zeichen für zu viele Kartoffeln. Gekocht und auch in flüssiger Form. Und so einen Pelz auf Brust und Rücken braucht man nur in Sibirien.
Zwei Feuerwehrmänner mit Atemschutzmasken liefen an mir vorbei in die Garage. Ich drehte ab und überlegte nun, wie viel Zeit mir blieb. In gut zehn bis fünfzehn Minuten würden sie das Hotel soweit gecheckt haben, um zu wissen, dass kein Feuer ausgebrochen war. Dann würden sie den Melder prüfen, von dem der Alarm gekommen war, und die dortige Etage unter die Lupe nehmen. Das würde vielleicht zehn Minuten dauern und dann etwa weitere zehn, bis das Blaulicht der Polizei mit jenem der Feuerwehr Hochzeit feiern konnte. Eine halbe Stunde, in der ich so viel Distanz wie möglich zwischen Schneewittchen und mich bringen sollte. Es durfte keine Flucht sein, sondern es sollte wie das Bemühen, einen knappen Termin einzuhalten, erscheinen.
Ein Polizeifahrzeug näherte sich im Einsatz. Ich zwang mich, ihm nicht nachzusehen, drehte den Kopf aber doch leicht zurück. Als sich die Tonfolge immer weiter entfernte und die Töne tiefer wurden, eilte ich etwas entspannter weiter. Der Einsatz hatte nicht dem Hotel gegolten, zumindest noch nicht.
Am Ring, ich ging gerade am Café Schwarzenberg vorbei, in dessen Schanigarten sich die Touristen um einen Platz rauften, fiel mir ein, dass ich ja gestern mit dem Auto gekommen war. Ich hatte es noch vor dem Volksgarten geparkt. Ich ging also vor bis zur Oper, und weil ich das Gefühl hatte, ein wenig wackelig auf den Beinen zu stehen, wollte ich dort in einen Ringwagen einsteigen, um mich die zwei Stationen bis zum Volksgarten bringen zu lassen. Ein Kaffee wäre ganz gut. Ich überlegte, die Ankerfiliale in der Passage aufzusuchen, um mir einen Cappuccino im Pappbecher zu besorgen. Ich betrat die Rolltreppe und plötzlich drehten sich nicht nur deren Antriebsräder.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich in zwei besorgte Gesichter. Eine dunkelhäutige Frau, die ein Kopftuch über ihre Haare gebunden hatte, und ein Typ ungefähr in meinem Alter, wie ich an den silbern schimmernden Bartstoppeln auf seinen Wangen sehen konnte.
„Haben Sie sich wehgetan? Ist Ihnen nicht gut?“
Er reichte mir die Hand und ich sah ein Schlangentattoo auf seinem rechten Unterarm. Mit einem Ruck hatte er mir hochgeholfen. Ich musste gestürzt sein.
„Danke“, sagte ich und putzte den Staub von meinem Jackett. Die Bewegung verursachte leichten Schmerz, aber es schien nichts gebrochen zu sein, als ich loshumpelte. Der Mann gab meine Hand frei und die Frau legte mir ihre auf die Schulter.
„Wollen nicht besser setzen?“, fragte sie mit Akzent.
Ich schüttelte meinen Kopf. „Es geht schon“, sagte ich. „Ich brauche nur einen Kaffee.“
„Des glaub’ ich a“, sagte der Mann sardonisch. Offenbar sah man mir die schwere Nacht an. Seine Schlange war wieder in den Hemdsärmel gekrochen, dafür sah ich jetzt die Goldkettchen um Handgelenk und Hals.
Wenig später saß ich in einem Zug der Linie 1. Die Hände hatte ich um den warmen Becher geschlungen. Nach einigen Schlucken fühlte ich mich wieder der Welt um mich zugehörig. Offenbar hatten mir Stress und Aufregung weit mehr zugesetzt als gedacht.
Endlich hatte ich meinen Wagen erreicht. Ein alter 3er BMW, der nur mehr durch die liebevolle Wartung meines Mechanikers zusammengehalten wurde. Hinter dem Scheibenwischer begrüßte mich ein Liebesbrief der MA 67, der Magistratsabteilung für Parkraumbewirtschaftung.
Mein Auto war aber nicht das einzige, das am Vorabend vor dem Club stehen geblieben war. Links und rechts von meiner Karre prangten weitere Erlagscheine an den Windschutzscheiben. Mit Ausnahme des Wagens direkt rechts neben meinem. Ich konnte mich an den grauen SUV erinnern, weil er gestern schon dagestanden hatte und ich mich darüber ärgerte, dass er anderthalb Parkplätze für sich beanspruchte. Natürlich hatte so ein Bonzenfahrzeug keinen Strafzettel bekommen. Und ich hatte mich gestern so in die verbleibende Lücke hineingequetscht, dass der Fahrer des SUV seinen vermutlich fetten Bauch würde einziehen müssen, um einsteigen zu können.
„Fahren Sie weg?“
Ich drehte mich um und sah einen beleibten Mittvierziger mit Doppelkinn neben meinem Fenster stehen. Ich war zwischenzeitig ins Auto gestiegen und hatte die Seitenscheibe heruntergelassen. Ich nickte und ließ den Motor an. Als ich weiter vorne beim Burgtheater in den Ring einbog, fiel mir ein, dass es sich bei dem Typen um einen Politiker gehandelt hatte. Irgendein Bezirkspolitiker, der es mit seinen markigen Sprüchen immer wieder auf die Titelseiten schaffte. Wieso konnte der ohne Zeitlimit parken? Vielleicht mit Handyparken. Oder der Wagen war auf das Rathaus zugelassen. Ein fescher Dienstwagen. Politiker müsste man sein, dachte ich. Und dann fiel mir ein, dass er gestern an dem Tisch gesessen war, den Schneewittchen noch aufgesucht hatte, bevor sie mit mir abgezogen war. Und ihre Hand war die, die ich zuvor im Halbdunkel gesehen hatte. Die sich das Geld geholt hatte.
5.
Ich hatte den Wagen in der Paulanergasse gerade eingeparkt, als mein Telefon läutete. Ich zuckte zusammen. Aber nur, weil es sich mit dem Radio verbunden hatte und das Klingeln in einer infernalischen Lautstärke kam. Ich sah, wie sich in einem nahen Schanigarten einige Köpfe in meine Richtung drehten. Es war Dragana.
„Was willst du? Ich bin gleich da. Hab ich irgendwelche Termine versäumt?“, fragte ich unfreundlich.
„Deswegen rufe ich ja an. Die Verhandlung am Arbeitsgericht wurde vertagt, der Richter oder sein Praktikant haben in der Früh angerufen und sich entschuldigt, der neue Termin kommt mit Ladung und Stanisic hat die Besprechung am Nachmittag abgesagt, er hat heute angeblich keine Zeit. Wenn du mich fragst, hat er schon wieder die Stadt verlassen.“
„Ich frag’ dich aber nicht.“
Mirko Stanisic war einer der Klienten, mit denen ich ein paar Dinger drehte, nichts Großes. Immer wenn ihm das Pflaster hier in Wien zu heiß wurde, tauchte er für ein paar Tage unter. Vor allem der eine Clan aus dem Kosovo war nicht gut auf ihn zu sprechen, seit das mit den Schüssen beim Figlmüller war. Ich schien bei seinen Transaktionen zum Glück nirgends auf, konnte aber bei Gelingen durchaus die Hand aufhalten. Schade, sagte ich zu mir, ich hatte heute mit ein paar lila Scheinchen gerechnet. Solange es sie noch gab.
„Sonst noch was?“, fuhr ich Dragana schroff an.
Sie brauchte das. Wenn ich sie zu gut behandelte, würde sie sich vielleicht eine besser und vor allem regelmäßig bezahlte Arbeit suchen, doch so traute sie sich nicht einmal über eine Kündigung nachzudenken.
„Ich wollte heute früher Schluss machen, wenn sonst nichts ansteht. Meine Tochter kommt mit der Kleinen vorbei.“
„Melanie?“
„Valerie!“
Wieder hatte ich vergessen, wie lange Dragana schon für mich arbeitete und wie lange es tatsächlich her sein musste, dass wir was miteinander laufen hatten. Das war vor ihren Töchtern gewesen. Und die Ältere der beiden hatte jetzt selbst schon ein Kind. Dragana war also eigentlich eine GRILF, eine #Granny I’d like to fuck#. Warum ihre Tochter das Kind ausgerechnet Valerie nennen musste, würde mir ewig ein Rätsel bleiben. Zu einem Nachnamen wie Pantelic hätte eine Sladjana oder von mir aus Silvija einfach besser gepasst.
„Wenn es auf deine Zeit geht, kannst du von mir aus eine halbe Stunde früher Schluss machen.“
„Bei dem, was du mir zahlst, hätte ich die letzten zehn Jahre zu Hause bleiben können.“
„Vorsicht“, warnte ich Dragana, „das kann schneller passieren, als dir lieb ist. Und was würde Ratko dann dazu sagen?“
„War ein Witz. Bis morgen.“
„Bis morgen, aber pünktlich.“
Ich hatte das letzte Wort und ich hatte die Chefkarte gezogen. Natürlich hätte ich sie auch nach Hause schicken können, zu tun gab es im Moment nicht viel, aber ein wenig Schikane entspannte mich. Dafür würde ich nicht früher gehen. Denn ich würde erst gar nicht kommen. Beschloss ich und startete den Motor. Die Fehlzündungen ließen ein paar Gastgartenbesucher blöd gaffen. Würde die Polizei bereits nach mir fahnden, würden die Bullen sicher zuerst in der Kanzlei antanzen.
Keine fünf Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht. Ich war beim Mittersteig. Nicht bei der bekannten Strafvollzugsanstalt, sondern bei meinem Wohnhaus. Mittlerweile war ich es leid, zu betonen, dass ich nicht im Gefangenenhaus zu tun hatte, wenn ich nach Hause wollte und dem Taxler meine Adresse gab. Auch im Bekanntenkreis mache ich nur noch Scherze darüber, wenn einer sagt: „Das ist aber praktisch. Da bist du ja ganz in der Nähe von deinen Klienten.“
„Nur, wenn ich versagt habe und sie einsitzen müssen“, antworte ich dann meist. Und schiebe oft nach: „Aber das Beste ist: Die Kuchen, in die ich die Feile einbacke, sind meist noch warm, wenn ich sie rüberbringe.“
Es war weit nach Mittag und ich hatte Hunger. Also kehrte ich bei meinem Stammwirt ein. Sein Lokal am Eck betrieb er seit vielen Jahren und ebenso lang kannten wir uns. Früher hatte mich auch noch was anderes hingetrieben, doch das war jetzt vorbei. Ich betrat das Lokal und grüßte Severin, der hinter der Budel stand und gerade zwei Bier zapfte.
„Für mich kannst auch gleich eins machen“, rief ich ihm zu und suchte mir einen Platz etwas weiter hinten, nicht direkt am Fenster. Ich sitze nicht gern in der Auslage.
Die meisten Tische waren frei, lediglich ein Maler in seiner fleckigen Kluft und zwei Bauarbeiter, die ihre Mittagspause ausdehnten, saßen da. Am Tisch schräg mir gegenüber saß im Zwielicht, durch das sich dünnfadig die Rauchschwaden schlichen, ein Pensionist, der die Kronen Zeitung studierte. Ich hatte selbst auf das Blatt gespitzt, sagte mir dann aber, dass dort wohl noch nichts drinstehen würde. Dafür lief in der Ecke der Fernseher. Die Mittagsnachrichten würden gleich beginnen. Der Ton war auf leise gestellt und ich würde nicht den Fehler machen, den Wirt zu bitten, lauter zu stellen. Das waren genau die Indizien, die so manchen schon zu Fall gebracht hatten. Severin stellte das Bier vor mir ab und fragte, ob ich etwas essen wolle. Ich bejahte.
„Als Menü haben wir heut an g’selchten Schopf mit Kraut und Knödel oder sonst Augsburger mit g’röste Erdäpfel.“
„Dann will ich das Einser-Menü“, sagte ich.
„Den Schopf?“, vergewisserte sich Severin.
„Nein“, sagte ich, „ein Schnitzel.“
Severin grinste: „Geht klar, der Herr in der Panier will’s Fleisch in der Panier.“
Nachdem er die Bestellung in der Küche aufgegeben hatte, kam er mit einem Gewürzbord, auf dem sich in der Mitte tatsächlich noch eine braune Maggi-Flasche befand, und einem in eine große Papierserviette eingewickelten Besteck zurück und sagte, während er mit seinem Geschirrtuch ein paar Brösel vom Tischtuch fegte: „Warst lang nicht da. Wie läuft’s?“
„Nicht gut, ich kann nicht klagen“, sagte ich.
Severin machte einen grübelnden Gesichtsausdruck, bis der Anwaltswitz bei ihm durchgesickert war, dann lachte er.
In der Zwischenzeit war am Bildschirm der Nachrichtensprecher erschienen und ich versuchte, zumindest die Headlines zu verstehen. Nach einem Bericht über einen EU-Gipfel und den nächsten Skandal um das neu errichtete Krankenhaus im Norden Wiens kamen die Lokalnachrichten. Ich trank einen Schluck Bier und das Glas blieb an meinen Lippen hängen, als der nächste Beitrag über den Fund einer Frauenleiche in einem Wiener Hotel berichtete. Man sah sie zwar nicht, aber Schneewittchen hatte es in die Nachrichten geschafft. Keine besonders erstrebenswerte Form der Publicity. Ich würde hier nicht auftreten wollen. Und das Einzige, was das verhindern konnte, war, die Aufklärung dieses Verbrechens in die eigene Hand zu nehmen. Ich musste den Täter finden.