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Inzwischen hat sich Renate wie besessen mit Haut und Haaren der Bühne verschrieben. Das Theater ist für sie wie ein Schlüssel zu ungeahnten seelischen Offenbarungen; hier entwickelt sie eine neue Sicherheit und lernt ihre Stimme und ihren Körper zu beherrschen. Die Zeit auf der Schauspielschule gehört zu den glücklichsten Lebensabschnitten in Renate Müllers Leben.
Bei einer Feier mit ihren theaterbesessenen Kommilitonen bekommt sie ihren ersten Schwips. Renate: „Ich hatte mir schon lange gewünscht, mal einen Schwips zu haben, so einen richtigen fidelen kleinen Schwips. Erstens, weil ich mir das reizend vorstelle, zweitens, weil ich der Überzeugung war, man müsse auch das mal durchgemacht haben. Als wir Schüler mal einen gemütlichen Bowleabend verabredeten, hielt ich die Gelegenheit für gekommen und verkündete laut, dass ich mir heute meinen garantiert ersten Schwips zulegen wolle. Der Abend wurde vergnügt und lustig und ich gab mich der Bowle mit Inbrunst hin - aber leider ohne Erfolg. Sei es nun, dass die Bowle zu schwach oder ich zu stark war, es gelang mir jedenfalls beim besten Willen nicht, irgendwelche Spuren einer leichten Umnebelung bei mir festzustellen. Jedes meiner Worte, jede Bewegung beobachtete ich aufmerksam, ging langsam durchs Zimmer, - nein, ich ging noch so sicher wie nur je. Resigniert kehrte ich zu meinem Stuhl zurück und - machte auf unsanfteste Art mit dem Boden Bekanntschaft. Schallendes Gelächter. ‚Erst den Stuhl wegziehen und dann noch auslachen, das ist eine Gemeinheit‘, schimpfte ich. ‚Wir den Stuhl? Aber Renate, Du hast einen Schwips.‘ Zur Versöhnung holte ich Werner Fuetterer zu einem Tanz. Und es stand auf - Ottuard. (Mit Namen Otto Eduard Hasse, einer der besten unseres Jahrganges.) ‚Nein, ich wollte doch mit Werner tanzen.‘ ‚Du hast aber mich aufgefordert.‘ ‚Nein Werner.‘ ‚Nein mich, scheinbar siehst Du nicht mehr deutlich.‘ Also das ging mir denn doch zu weit. Einen Blonden konnte ich doch schließlich noch von einem Dunklen unterscheiden! Was soll man aber machen, wenn alle einstimmig brüllen, ich hätte die beiden verwechselt? Ich bot den Wahrheitsbeweis an, dass ich nicht im mindesten beschwipst sei. Angenommen. Ich sollte auf einem Strich balancieren. Eine weiße Schnur quer durch das Zimmer bezeichnete meinen Leidensweg. Nanu, der Strich war doch eine Wellenlinie? Konnte ich wirklich nicht mehr richtig sehen? Ich faßte mich an den Kopf, zwickte mich in den Arm, also gefühllos war ich noch nicht, und das gute Köpfchen war auch noch da. Um mich herum todernste Gesichter. Schnurgerade, ich schien an mir selber zu zweifeln, nahm all meine Energie zusammen, spannte mein Rückgrat und die Beinmuskeln an und begann meinen Drahtseiltanz. Mit haarscharfer Genauigkeit setzte ich ein Bein vors andere und traf immer daneben. Die Linie unter meinen Füßen schien zu schwanken, bei jedem Fußtritt wich sie nach der anderen Seite aus. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Einmal drehte ich mich blitzschnell um, aber unbewegt saß Werner am Boden und hielt die weiße Schnur fest. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er sie bei jedem Schritt hin und her zog, aber nie gelang es mir, ihn zu überführen. Ich hatte die Probe nicht bestanden. Und nun begann mein Leidensweg erst wirklich. Kein Widerspruch half. Mit sanfter Gewalt zog man mich aufs Sofa und verpackte mich unter drei Federbetten. ‚Das treibt am besten raus.‘ Jeder wußte noch ein anderes unfehlbares Rezept und im Laufe einer halben Stunde mußte ich folgende Heilmittel zu mir nehmen: 2 rohe Kartoffeln mitsamt der Schale, eine ausgepreßte Zitrone mit Pfeffer, drei Magenbitter mit Tomatenpüree (Prärieauster nannten sie das), einen Eßlöffel voll Salz nebst einer halben Zwiebel. Dazu unaufhörlich eiskalte Umschläge auf meine arme Stirn gepreßt, während mein Körper unter den Federkissen dampfte. All meine Abwehrversuche wurden energisch erstickt. Schließlich lag ich ganz apathisch da und ließ alles über mich ergehen, denn nun fühlte ich mich wirklich kreuzelend. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass alles Theater war. Trotzdem habe ich meinen Schwur gehalten. Denn niemals werde ich meinen ersten Schwips vergessen, der - in Wirklichkeit - gar keiner war.“ 9
Am 31. Mai 1925 geht das Schuljahr der Schauspielschule zu Ende. Zu der Abschlußaufführung kommen wie immer einige Theaterdirektoren und Agenten, um sich junge Talente auszusuchen. Fast alle Schauspielschüler finden dabei ein Engagement, der eine nach Greiz, der andere nach Schneidemühl, der dritte vielleicht nach Frankfurt am Main oder nach Breslau. Bei dieser Abschlußprüfung ziehen die Schülerinnen Evans und Müller das große Los, sie werden an Berliner Bühnen verpflichtet. Karin geht an das Deutsche- und Renate an das Lessing-Theater, das Arthur Hellmer gepachtet hatte.

Privatfoto aus dem Jahre 1926.
Doch bevor die neue Spielzeit in Berlin beginnt nimmt Renate ein Sommerengagement - vom 9. Juli bis 31. August - am Harzer Bergtheater, einer Freilichtbühne in Thale, an. Es ist die älteste Naturbühne Deutschlands. Dr. Ernst Wachler hatte sie 1903 nach dem Vorbild antiker Amphitheater in der Natur errichten lassen und formulierte seine Idee mit dem Werbespruch: „Hinaus ins Freie, in den Reichtum der Landschaft, dass ihr Duft und ihre Stimme hier auf den Zuschauer überfließe.“
Erich Pabst, der in Thale mit Dr. Wachler die Oberspielleitung übernommen hat, bietet einigen seiner Schüler die Möglichkeit, sich Bühnenerfahrung in der Provinz anzueignen. Mit von der Partie sind außer den ehemaligen Schauspielschülern Müller, Evans und Hasse, auch der Schauspiellehrer Lothar Müthel und die Schauspieler Kurt Arndt und Helmuth Rudolph.
Das Freilichttheater befindet sich auf dem Hexentanzplatz, am Osthang des Harzes, über Thale. Von dort hat man einen herrlichen Blick über die Ebene bis Magdeburg. Es ist nicht leicht für einen Anfänger auf dieser Bühne, die 1200 Personen faßt, zu bestehen. Sie hat riesige Ausmaße und natürlich keinen Vorhang. Die Gänge sind groß, die Gesten müssen ausdrucksstark sein, der Text muß besonders deutlich gesprochen werden, denn das Felsmassiv duldet keine falschen Töne.
Vor allem klassische Stücke werden hier gegeben, doch zum 60. Geburtstag des in Weimar lebenden Dichters Friedrich Lienhard, werden im Sommer 1925 auch seine Werke Gottfried von Straßburg, Heinrich von Osterdingen, König Arthur und Wieland der Schmied in Thale aufgeführt. Die achtzehnjährige Renate übernimmt in diesen Stücken, in denen es sehr teutonisch und mythologisch zugeht, die Rollen von schwertumgürteten deutschen Jungfrauen. Ihre interessanteste und größte Leistung in Thale ist aber die Rolle der Helena in Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Das Publikum ist begeistert und die Kritiken erwähnen die Anfängerin lobend. Sogar überregionale Zeitungen, die sonst Provinztheaterleistungen keine Beachtung schenken, erwähnen diese besondere Leistung in Artikeln. Renate äußerte sich rückblickend über ihre Zeit in Thale kritisch: „Ich freue mich noch heute, dass ich nicht im Publikum sitzen mußte, um das mitanzusehen!“ 10
* * *
Direktor Arthur Hellmer ist gebürtiger Österreicher und ist ebenfalls vom Theater besessen. Bereits im Jahre 1911 hatte er sein erstes eigenes Theater eröffnet, das Neue Theater, in Frankfurt am Main. In seinem Spielplan lag der Schwerpunkt auf der expressionistischen Dramatik. Hellmer hat ein Gespür für schauspielerisches Talent; auch die junge Helene Weigel gehörte zu seinen Entdeckungen, die er förderte.
Mitte der zwanziger Jahre versucht sich Hellmer auch in der Theatermetropole Berlin zu etablieren und pachtet drei Bühnen gleichzeitig: das Trianon-, das Kleine- und das Lessing-Theater. Das nahe der Kronprinzenbrücke, gegenüber dem Reichstag gelegene - 1889 mit Lessings Nathan der Weise eröffnete Theater - lebt von dem im Deutschen Theater erprobten Repertoire. 1925 sind an diesem renommierten Haus u. a.: Adele Sandrock, Olga Limburg, Lucie Höflich, Leopoldine Konstantin, Anton Pointner, Julius Falkenstein, Camilla Spira, Ida Wüst, Wilhelm Bendow und Albert Bassermann engagiert. Nach ihrem Thale-Gastspiel zählt nun auch Renate Müller zum Ensemble.
Renates erste Rolle an diesem Theater ist die einer belanglosen Hofdame in Edmond Rostands Der junge Aar (L’Aiglon). Rostands Historienspiel von dem „kleinen Adler“, dem Sohn Napoleons I, der so früh tragisch endete, ist eigentlich für das expressionistische Berlin nicht zeitgemäß. Aber da sich Klabund (Deckname des Schriftstellers Alfred Henschke) entschloß, es zu übersetzen, „kam doch ein Bühnenschmaus von mancherlei Reizen zu Tage.“ 11 Unter der Regie von Berthold Viertel lernt Renate viel. Während der Probenarbeit fällt dem Regisseur nicht nur Renates Talent auf, sondern auch, dass sie sich in ihrem Ehrgeiz nicht nur mit ihrem eigenen Text beschäftigt, sondern mit dem ganzen Stück, mit dem Autor und der Zeit, in der das Stück spielt.
Vierzehn Tage später bekommt Renate ihre große Chance: Kollegin Erika von Thellmann erkrankt und Renate kann ihre Rolle, die der schönen Tänzerin Fanny Elßler übernehmen. An der Seite von Lothar Müthel (Aiglon), Gerda Müller (Comtesse Camerata) und Dagny Servaes (Marie Louise) kann die junge Schauspielerin überzeugen. Renate liebt, lacht, weint und kämpft in ihrer Rolle und kann zeigen, dass sie die Grundlagen der Schauspielerei bei Reinhardt gelernt hat und umsetzen kann. Plötzlich springt der Funke über. Es ist jetzt ihre Rolle und Publikum und Direktion sind voller Anerkennung. Der Lokalanzeiger schreibt: „Berthold Viertel läßt alle Mimen des Theaters springen und erreicht einen stürmischen Erfolg damit. Eine Meisterleistung der Regie.“ 12 Und in der Vossischen Zeitung steht: „Applaus und Ovation ohne Widerspruch.“ 13 Auch das Berliner-Tageblatt spricht von einem „stürmischen Publikumserfolg dieses effektreichen Stückes.“ 14 Nachdem sich Erika von Thellmann am Theater zurückmeldet und ihre Rolle wieder übernimmt, kündigt Renate ihren Vertrag, da Direktor Hellmer ihr weder künstlerisch noch finanziell entgegenkommt, bzw. entgegen kommen kann. Hellmer konnte sich in Berlin nicht durchsetzen und gibt die Leitung des Theaters wieder ab.
Nichtssagende Rollen und zweite Besetzung sind für die ehrgeizige Renate nicht erstrebenswert. Sie sprüht vor Selbstbewußtsein, ist jung, schön, ehrgeizig und als der umstrittene Regisseur, Kritiker und Zeitschriftenherausgeber Joe Sherman das „Theater Junge Generation“ in der Klosterstraße 43. gründet, ist Renate voller Begeisterung mit von der Partie. Es ist ein Parallelunternehmen zur „Jungen Bühne“, die von Moritz Seeler geleitet wird.
Das Ensemble vom „Theater Junge Generation“ ist ein avantgardistisches Kollektiv, welches jeden Sonntagvormittag in einer Matinee ein Stück eines noch unbekannten Autors zu Uraufführung bringt. Selten vergeht so eine Aufführung ohne einen kleinen Theaterskandal und manchmal brauchen die Schauspieler viel Mut, um in dem Gelächter und Pfeifen weiterzuspielen. Die „Junge Generation“ will mit realistisch provozierenden Stücken die Fesseln des konventionellen Theaters sprengen. So kommt eine ganze Reihe seltsamer Erstaufführungen heraus, bei denen Renate trotzdem nicht unentdeckt bleibt. Man sieht sie in diesem Schauspielkreis in dem heute vergessenen Stück Brigitte von Albert Hirte, indem es sogar „blutschänderisch“ zugeht. Die Premiere findet am 29. November 1925 statt. Die Reaktion des Publikums ist geteilt, es ist entrüstet und amüsiert zugleich. Begeistertes Klatschen und gellendes Pfeifen. Das Stück kann schließlich nicht zu Ende gespielt werden. Berlin hat einen neuen Theaterskandal. Die Aufführung wird in den Zeitungen verrissen: „Wenn Lächerlichkeit töten könnte - Herr Joe Sherman wäre schon nach der Regie von ‚Klavier‘ nicht mehr am Leben gewesen. Gestern, wieder in einer Matinee, wieder in der Klosterstraße, prustete das Publikum, prusteten zum Schluß sogar die Darsteller. Das ‚Drama‘, das aufgeführt wurde, begab sich in zwei Teilen, hieß ‚Brigitte‘ und war von Albert Hirte. Unbeschreiblich. Unkritisierbar. Aber weiß man, ob der Autor das Stück überhaupt auf die Bühne, weiß man, ob er es in dieser Gestalt auf die Bühne lassen wollte? Was Herrn Sherman in die Hände fällt, ist verloren. Diesmal versteckte er seinen Namen. Diesmal verkroch er sich hinter den Inspizienten. Diesmal schien nur wie zufällig ein Teil der Presse benachrichtigt zu sein. Diesmal machte Herr Sherman Vertuschungsmanöver. Die Sonntag-Mittag-Existenz des Herrn Sherman könnte gleichgültig sein, wenn der Grad der Dreistigkeit, mit der hier die Öffentlichkeit belästigt wird, nicht an die Folgen denken ließe. Herr Sherman ist der neue Rottertyp. Er wollte sich zuerst auffällig im Theater festsetzen. Es mißlang. Jetzt wählte er die anonyme Methode. Er verwischt die Spuren. Er wanzt sich heimlich ein. Er macht sich an Unzufriedene heran, um schließlich nach zäher, bohrender Vorarbeit mit einem Konzessionsgesuch hervorzutreten. Als die Revolution kam, benutzten die Rotters die allgemeine Verwirrung, um, gestützt auf die Gutachten der um ihre Existenz besorgten Schauspieler, ihre Konzessionsfähigkeit durchzusetzen - trotz ihrer Vergangenheit. Auch Herr Sherman wird im Zustand einer allgemeinen Verwirrung, gestützt auf die Gutachten unzufriedener Schriftsteller und Schauspieler, die er zuerst ‚ans Licht zog‘, sich als Direktor aufspielen wollen - trotz seiner Vergangenheit. Fähigkeit löscht jede üble Vergangenheit aus. Unfähigkeit bestätigt sie. Herr Sherman bestätigt durch seine Gegenwart seine Vergangenheit.“ 15, kommentiert Herbert Jhering, der führende Theaterkritiker vom Berliner-Börsen-Courier. Renate Müller erntet trotzdem Anerkennung und Sympathie, und diese kommt von dem gefürchteten Alfred Kerr, der süffisant in seiner Besprechung bemerkt: „Die Brigitte spielt ein Fräulein Renate Müller. Man wird sich den Namen Müller merken müssen!“
Sherman läßt sich nicht entmutigen und bringt ein weiteres provokantes Stück heraus, das überhaupt keinen Namen trägt, sondern nur mit + + + bezeichnet wird. Mit dieser Aufführung versetzt Sherman sich den Todesstoß, sein Theaterunternehmen bricht mitten in der Saison zusammen. Einige Schauspieler stehen nun, wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, ohne Engagement da. Renate: „Für mich fielen immerhin einige gute Kritiken dabei ab, die mir meine erste Bombenrolle verschaffte.“ 16
Renate hat in dieser Zeit viele Männerbekanntschaften, die eine oder andere Affäre, will aber von einer festen Beziehung nichts wissen, denn sie lebt nur für das Theater, das wie ein Lebenselixier auf sie wirkt. In der Welt des Theaters kann sie der Wirklichkeit entfliehen. Die noch nicht Volljährige ist flügge geworden und ist aus der Wohnung ihrer Eltern ausgezogen. In Berlin-Wilmersdorf mietet sie ihre erste eigene Wohnung, in der Nachodstraße 28. Die Eltern stehen ihr dabei nicht im Wege und unterstützen ihre Tochter in all ihren Plänen. Und als Renate voller Stolz die Familie zum erstenmal zu sich zum Tee bittet, versichert sie ihnen: „In zwei Jahren muß ich prominent sein!“ - Ein Vorsatz, den Renate auch glücklich und viel umfassender in die Tat umsetzen wird, als ihr damals überhaupt bewußt sein kann. In der Gegenwart muß Renate aber erst einmal darangehen, die Miete zu verdienen. Möglichkeiten gibt es für dieses attraktive Mädchen mit den hübschen Beinen genug. Ihre Qualitäten werden nicht nur als Schauspielerin erkannt, sondern auch als Photomodell. Renate macht Reklame für Modeartikel. Sie ist ein Energiebündel und überaus beliebt. Mit ihrer Fröhlichkeit und Herzlichkeit steckt sie ihr Umfeld an. Schwester Gabriele erinnert sich: „Einmal saß ich mit ihr - damals war sie noch nicht prominent - in einem Kabarett und der Conférencier erzählte Geschichten, die ich gar nicht so furchtbar witzig fand. Aber Renate lachte so fröhlich und hell, dass es die gemäßigte Heiterkeit des Publikums übertönte. Alles schwieg, der Conférencier machte eine minutenlange Pause und dann lachte plötzlich der ganze Saal wie im Chor, angeführt von Renates hellem Solo, und die etwas müde Premierenstimmung dieses Kabaretts war gerettet.“ 17
Theaterdirektor Victor Barnowsky, der die Ambition hegt, ein zweiter Reinhardt zu werden, hat Renates künstlerische Entwicklung verfolgt und verpflichtet sie an sein Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Sie soll als Nachfolgerin Erika von Thellmanns die Rolle der Liedersängerin Tilly Hasselberger in der Komödie Der Garten Eden von Rudolf Bernauer und Rudolf Oesterreicher übernehmen. In vier Kapiteln werden Szenen aus dem Leben eines „unanständigen Mädchens“ gezeigt. Renate spielt an der Seite so großartiger Schauspieler wie: Georg Alexander, Heinrich Schroth, Olga Engel, Hilde Körber, Ilka Grüning und Hilde Hildebrand. Monatelang steht die neunzehnjährige Renate jeden Abend als Tilly auf der Bühne. Das ist eine neue Herausforderung, die der jungen Künstlerin viel Freude macht. Sie tanzt, weint und reißt das Publikum mit. In den Gazetten ist zu lesen: „Ein Riesenerfolg. So das richtige Stück für Berlin. Gemütvoll, phantastisch, kühn, mondän und witzig. Und trotz aller Unwahrscheinlichkeiten voll viel echten Lebens. In der Hauptrolle eine Schauspielerin, die Begeisterungsstürme erntet und verdient: Renate Müller.“ 18

Renate Müller in den zwanziger Jahren.
Renates Ehrgeiz wird nun weiter gewaltig angespornt, da sie nach jedem Aktschluß ein dutzendmal oder mehr vor den Vorhang muß. Barnowsky behält sie nach diesem erfolgreichen Gastspiel in seinem Ensemble. Ab und an wird ihr Talent auch in tragischen Rollen gefordert, wie bei der Uraufführung 1926 von Georg Kaisers Zweimal Oliver im Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie neben dem begnadeten Alexander Moissi und Max Gülstorff, ihrem ehemaligen Schauspiellehrer, wirken kann. Doch vorwiegend wird die vielbeschäftigte Schauspielerin in modernen Gesellschaftskomödien oder in Schwänken eingesetzt. Auch andere Berliner Bühnen locken mit neuen Theaterangeboten; so arbeitet Renate unter anderem bei Direktor Theodor Tagger im Theater am Kurfürstendamm und am Renaissance-Theater in der Hardenberg-/Ecke Knesebeckstraße. Sowie bei Heinz Saltenburg, der das Deutsche Künstler-Theater in der Nürnberger Straße 70/71 leitet.
Karheinz Martin inzeniert einen Wedekind-Abend und präsentiert im Renaissance-Theater dem Berliner Publikum eine glanzvolle Besetzung: Tilla Durieux, Valeska Gert, Margo Lion und Renate Müller. Der Dreizehnte Stuhl von Bayard Veiller heißt das Stück, das Erich Pabst ebenfalls im Renaissance-Theater herausbringt. Diesmal steht Renate mit Rosa Valetti, Lotte Stein und Hans Leibelt auf der Bühne. Nach diesen ersten Erfolgen ist die junge Schauspielerin in der Berliner Theaterszene bekannt geworden. Auch die Kritiken sind für Renate meist wohlmeinend und erfolgversprechend. In einer Besprechung heißt es: „Eine schöne Hoffnung für größere Aufgaben scheint Renate Müller zu sein. Ihre blendende Erscheinung hindert sie nicht an einer künstlerisch tief empfundenen Leistung. Sie hatte den einzigen menschlichen Ton in dieser Aufführung.“
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Renate klettert in den folgenden Monaten die Karriereleiter immer weiter hinauf. Ihre Einkünfte erlauben es ihr nun, einen neuen Wohnsitz zu nehmen: Kaiserallee 171, ebenfalls in Berlin-Wilmersdorf (westlich von Schöneberg). Seit Herbst 1927 gehört sie zum Verband der Saltenburg-Bühnen, zu dem auch das elegante Lustspielhaus am unteren Ende der Friedrichstraße gehört. Geleitet wird es vom Doktor der Germanistik, Martin Zickel, der bereits um die Jahrhundertwende die „Sezessionsbühne“ am Alexanderplatz, ein Theater mit Niveau, gegründet hatte. In der aktuellen Theaterszene ist er für seine häufig wechselnden Amouren bekannt und verschrien.
An diesem Hause hat Renate Müller am 21. Dezember 1927 ihre nächste Premiere: Unter Geschäftsaufsicht heißt der Schwank von Franz Arnold und Ernst Bach, der eigens für das Zugpferd des Theaters, den Komiker Guido Thielscher, geschrieben wurde.
Wie alle „richtigen“ Berliner kommt Thielscher aus Schlesien. Der kleine, kugelrunde Mime gehört zu den populärsten Künstlern Berlins. Sein Handwerk hat er beim Zirkus gelernt, als Artist. 1877 trat er im Berliner Belle-Alliance-Theater zum ersten Mal als Schauspieler auf. Dann folgte das Central-Theater. Aufsehen erregte Thielscher, als er an das Deutsche Theater verpflichtet wurde. Hier spielte der Possen-Komiker in Werken von Fulda, Schnitzler, Sudermann, Hauptmann und Ibsen, ein Beweis für seine schauspieleriche Vielseitigkeit. Später kehrte er zur Posse und zum Schwank zurück und wurde mit Charly’s Tante zum absoluten Liebling der Berliner.
In Unter Geschäftsaufsicht spielt Guido Thielscher den Buchhalter Haselhuhn aus Merseburg, der in einem Geschäft Ordnung schaffen soll und natürlich nur Unordnung hinterläßt. In gewagten Situationen, hart an der Grenze zum Schmierentheater, entfaltet er seine entwaffnende Liebenswürdigkeit und die ihm eigene Drollerie. Ein Lächeln, ein Zucken der Mundwinkel genügen und Thielscher versetzt sein Publikum in unbändige Heiterkeit. Renate spielt wieder die Rolle einer eleganten Dame, diesmal mit Namen Puffy. Mit ihren Reizen sorgt sie für allerlei Verwirrung. Olga Limburg, Käte Lenz und Hans Zesch-Ballot sind ebenfalls mit von der Partie. Franz Arnold inszeniert mit viel Humor und Leichtigkeit, so dass das begeisterte Publikum aus dem Lachen nicht heraus kommt. Das Stück wird zum Dauerbrenner in der Berliner Theatersaison. Thielscher wird von den Kritikern wie immer gelobt und über Puffy ist zu lesen: „sehr natürlich und anmutig die blonde Renate Müller.“ 19
Es gibt aber auch kritische Stimmen, die sich darüber wundern, dass Renate Müller sich für diese „Klamotte“ hergibt. 20
Thielscher ist von Renate angetan, und als er am 27. März 1928 sein 50-jähriges Bühnenjubiläum feiert, bittet er sie nach der 100. Aufführung von Unter Geschäftsaufsicht auch im anschließenden Nachtkabarett des Lustspielhauses mitzuwirken. Als sogenanntes „Thielscher-Girl“, in einer zwölfköpfigen Tänzerinnentruppe des Impresarios Thielscher, steht sie zusammen mit Alice Hechy, Trude Hesterberg, Charlotte Ander und Marlene Dietrich auf der Bühne.

Presseanzeige zum Theaterstück,1927.
Die Berliner Morgenpost schreibt: „Wer ‚unser Guido‘ ist, braucht man keinem Berliner zu erzählen. Seit 50 Jahren ist unser Guido Thielscher ein Stück Berlin und wenn Paul Morgan ein Quodlibet dichtet, dessen Titel kurz und bündig ‚unser Guido‘ heißt, so braucht es keinen Kommentar und keine Erklärung dazu. ‚Unser Guido‘ war eine der Attraktionen, die den Gästen bei dem Nachtkabarett nach der Thielscherfeier im Lustspielhaus vorgesetzt wurden. 25 der größten Kanonen, alphabetisch von Adalbert bis Westermeier geordnet, führen auf, um unseren Guido liebevoll zu seinem Jubiläum zu veräppeln. Wir haben Tränen gelacht, Thielscher mit an der Spitze. Als Conferencier wirkte Willi Schaeffers, aufgemacht als Thielscher-Imitation in
‚Charlys Tante‘, von zwerchfellerschütternder Komik. Dann Paul Grätz, Willy Prager, Otto Reutter! Eine ununterbrochene Kette von Superlativen der Brettlkunst. Aber den Vogel schossen doch wohl die Thielscher-Girls ab, auch wieder die größten Kanonen, ebenfalls alphabetisch geordnet, zwölf Schönheiten, von Charlotte Ander und Marlene Dietrich bis Renate Müller und Molly Wessely. Unser Guido war begeistert als die Girls mit dem Chor schlossen: ‚Und zum Schluß und zum Schluß gib uns jeder einen Kuß!‘ Das ließ sich Thielscher nicht zweimal sagen. Raus aus der Loge, rauf auf die Bühne, und da die ganze Reihe durchgeküßt.“ 21

Thielscher Girls:
Charlotte Ander, Marlene Dietrich und Renate Müller. Berlin, Lustspielhaus 27. März 1928.
Zickel bringt Renate auch in der deutschen Erstaufführung des amerikanischen Gesellschaftsstücks Trixie, von Cosmo Hamilton, heraus. In New York hatte das Lustspiel einen Aufführungsrekord erreicht, nun soll es in Berlin ebenfalls ein Renner werden. Renate spielt die Titelrolle: Beatrix Vanderdyke (Trixie) ist eine mondäne extravagante Millionärstochter mit Herz, aber auch Launen, die Abenteuer sucht. Als sie von ihrer Familie zu ungewöhnlicher Stunde im Atelier eines Malers von üblem Ruf erwischt wird, rettet sie sich mit dem Schwindel, sie sei mit Pelhem Franklin (gespielt von Johannes Riemann) heimlich verheiratet. So unsinnig wie die Konstruktion der Handlung ist ihre Fortführung. Die beiden spielen nach außen Eheleute und raufen sich, wenn sie alleine sind. Riemann hat in seiner Rolle die Zähmung einer Widerspenstigen von heute zu vollziehen und Renate sorgt auf der Bühne wieder für Spaß, Stimmung und einem Schuß Sex-Appeal. Ihre Partner sind Harry Hardt, Olga Engel und der bereits erwähnte Johannes Riemann, ein junger und schon bekannter Schauspieler, mit dem sie oft vom Film spricht, zu dem sie noch keine richtigen Verbindungen hat. Die Premiere von Trixie findet am 1. September statt. Die Produktion wird freundlich besprochen, ist aber abgesehen von der prominenten Besetzung kein Ereignis. Max Osborn in der Berliner Morgenpost: „Die zwei Schauspieler, von denen die Aufführung getragen wird, und die mit ihrem Temperament und ihrer Liebenswürdigkeit dem Abend wahrhaftig zu so etwas wie einem Erfolg verhalfen, hatten hier die beste Laune: die hübsche, gutgewachsene, von Herzen anmutige Renate Müller mit dem Köpfchen eines amerikanischen Farbendruckplakats, und Johannes Riemann, der die Sache mit annehmbarer Routine abmachte.“ 22