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Renate Müller mit Max Gülstorff in „Zweimal Oliver“, Theater in der Königgrätzer Straße, 1926.
Im Lokalanzeiger ist zu lesen: „Ein flottes, elegantes und liebenswürdiges Spielchen, das seine besondere Bedeutung für Berlin lediglich deswegen hat, weil Renate Müller mit der Gestaltung dieser Rolle in die erste Reihe der Darsteller gerückt ist. Da sie neuen und allerneuesten Ansprüchen an die Frauenfigur vollkommen genügt, wurde ihr der Erfolg etwas leicht gemacht. Aber sie ist im Zusammenspiel mit Riemann wirklich erstklassig. Ihre charmante Pikanterie, ihr Temperament, das einmal bis ins leicht Grobe schäumt, ihre nicht nur sympathische, sondern auch gut angewandte Sprache sind Buchungen auf dem Pluskonto des Abends.“ 23 Und der Berliner-Börsen-Courier spricht über „die junge Renate Müller, eine frische, begabte, temperamentvolle Schauspielerin“. 24

Mit Johannes Riemann in „Trixie“, 1928
Der Berliner-Lokalanzeiger fragt in seiner Ausgabe vom 17. September 1928 bekannte Schauspielerinnen der Stadt: „Was tun Sie, wenn Sie nicht Theater spielen?“ Auch Renate Müller wird interviewt: „Eine Dame von Welt, elegant und mondän. Sie spielt auf der Bühne schöne Frauen, also sich selbst. Gegenwärtig im Lustspieltheater, bald aber bei Jessner im Schauspielhaus. ‚Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich den Weg zum Theater fand, denn ich stand bereits vor meinem Abitiurium, als mich diese Leidenschaft packte. Zuerst wollte ich Sängerin werden, und nur, um mich mimisch und darstellerisch auszubilden, ging ich in die Schauspielschule Reinhardts, wo ich, wie es gewöhnlich geschieht, eines Tages entdeckt wurde und plötzlich auf der Bühne stand als Fanny Elßler in ‚L’Aiglon‘. Was ich am liebsten tue, wenn ich nicht Theater spiele? Ach, es wäre so schön, den Vormittag zu verschlafen, um abends wieder lustig zu sein. Aber ich habe keine Zeit dazu und tausend Pläne im Kopf. Ich will meine Gesangstudien fortsetzen, ich will Englisch lernen, Tennis spielen, Auto fahren, Bücher lesen. Ich möchte so viel tun ... aber der Tag ist ja so kurz. Was ich liebe? Blumen, ein neues Kleid, meinen Balkon, die Gegenwart und die Zukunft. Was ich erstrebe: Erfolg auf der Bühne. Und was ich mir wünsche? Alles oder nichts!“
Am 2. Oktober folgt eine weitere Premiere: Ladislaus Fodors Arm wie eine Kirchenmaus. Der ungarische Autor schildert die Geschichte eines jungen Mädchens, arm wie eine Kirchenmaus, aber redegewandt, unerschrocken, und fabelhaft tüchtig, die sich eine Sekretärinnenstellung bei einem erfolgreichen Bankpräsidenten erkämpft und schließlich auch sein Herz erobert. Am Schluß wird sie von ihm sogar geheiratet.
Der Inhalt dieses Lustspiels hat große Ähnlichkeit mit dem Drehbuch zu dem Tonfilm Die Privatsekretärin, mit dem Renate Müller später einen Sensationserfolg erzielen wird. In der erfolgreichen Bühnenfassung (von Siegfried Geyer) spielt Erika von Thellmann die Hauptrolle, der Susie Sachs. Renate sehen wir als Sekretärin Olly, die ihren Bankdirektor (gespielt von Johannes Riemann) „erotisch irritiert und glaubhaft verkörpert.“ 25
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Am Staatstheater

Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt
Im Herbst 1928 schließt Renate Müller einen Vertrag mit dem Preußischen Staatstheater. Es ist die Krönung ihrer Bühnenlaufbahn, denn diese Bühne haben die erlauchtesten Vertreter der deutschen Schauspielkunst betreten, es ist gewissermaßen „geheiligter Boden“. Hier ein Engagement zu bekommen bedeutet den künstlerischen Durchbruch erreicht zu haben. Seit 1919 wird das Theater im Schinkel-Bau am Gendarmenmarkt von Leopold Jessner geleitet, der seit seinem Amtsantritt die Konservativen gegen sich hat, da nun „die letzte christliche Direktion“ im Berliner Theater in jüdischen Händen ist. Jessner versteht das Theater als „Stätte der Erhebung, der edlen Unterhaltung“, trotzdem bleibt der neue Intendant in den kommenden Jahren für die „Völkischen“ der „artfremde Kulturjude“. In Theaterkreisen gilt er als Rivale und Gegenspieler Max Reinhardts. Mit einer Aktualisierung seines Klassikerrepertoires will Jessner seinem Haus einen Bezug zur Gegenwart geben. Er setzt große Regieakzente und erreicht sein erklärtes Ziel, das Staatstheater mit höchsten Ansprüchen zu führen. Bereits sein 1919 aufgeführter Wilhelm Tell wurde zum Freiheitsschrei gegen Staatstyrannei und spiegelte die Nachkriegssituation in Deutschland wider. Berühmt und stilbildend wurde jedoch seine Inszenierung von Shakespeares Richard III. (1920) wo der Übergang vom Bühnenbild zur Bühnenarchitektur wahre Triumphe feierte. Er suchte durch symbolische Mittel (z. B. die Treppe als Spielfläche) die Idee eines Stückes deutlich zu machen. In seinen Inszenierungen ist Jessner besessen von seinen Visionen, die auch seine Schauspieler mitreißen. Diese Wirkung liegt im Unerklärlichen, Aufrüttelnden, das bezwingt und den Eindruck der Einmaligkeit hervorruft. Für eine junge Schauspielerin wie Renate Müller ist das die Erfüllung schlechthin, und Intendant Jessner gibt ihr die Möglichkeit, sich an seinem Haus weiter freizuspielen und ihr Können zu verfeinern.
Renates erster bedeutender Bühnenauftritt unter Jessner ist gleichzeitig auch ein Stück Theatergeschichte. Für den am 11. Februar 1929 verstorbenen Schauspieler und Maler Albert Steinrück gibt das Staatstheater am Gendarmenmarkt eine Gedächtnisvorstellung von Wedekinds Der Marquis von Keith. Steinrück hatte sein Leben lang aus dem Vollen gelebt und so wenig an den Tod gedacht, dass nun das Geld für seine Beerdigung fehlt. Daraufhin setzt die Bühnengenossenschaft eine Benefiz-Veranstaltung an.
Es wird ein Stück von Frank Wedekind ausgewählt, weil Steinrück in seiner großen Münchner Zeit, der Zeit des „Simplicissimus“, der erste wirklich überzeugende Marquis von Keith war und Wedekind den Freund „meinen einzigen Schauspieler“ nannte. Herbert Ihering: „Für ihn hatte Steinrück die sachliche Härte der Diktion, die Knappheit der Gebärde und hinter dem lehrhaften, beinahe moralisierenden Fanatismus die Magie der einsamen Persönlichkeit.“

Schauspielerin am Staatstheater in Berlin, 1929. Foto: Binder, Berlin.
Jessners Inszenierung wird nur ein Mal am 28. März in einer Nachtvorstellung aufgeführt. Es ist das gesellschaftliche Ereignis, an dem die Hautevolee von Berlin teilnimmt. Im Parkett, in den Rängen, bis zur Galerie hinauf, sieht man viele bekannte Gesichter. Darunter Oberbürgermeister Gustav Böß, Max Reinhardt und Albert Einstein. Im Foyer wird eine Schauspielerin von einem Reporter gefragt, ob sie nicht auch auf der Bühne mitwirke. Sie antwortet: „Ich bin nicht prominent genug, um zu statieren.“ Kurz vor halb zwölf tritt Heinrich Mann vor den Vorhang und spricht einige herzliche Worte in Erinnerung an den toten Freund.

Programm der Gedächtnisfeier für Albert Steinrück vom 28. März 1929.
Dann steigt die Komödie. Alles, was in der deutschen Theaterwelt Rang und Namen hat, nimmt an dieser Aufführung teil und das Publikum schwelgt in Berühmtheiten, die sich kaum zählen lassen. Von Werner Krauss, Heinrich George, Otto Wallburg, Conrad Veidt, Fritz Kortner, Paul Wegener bis Rudolf Forster. Von Elisabeth Bergner, Carola Neher, Tilla Durieux bis Mady Christians. Je größer die Prominenz, je kleiner die Rolle: Fritzy Massary und Käthe Dorsch spielen Dienstmädchen. Trude Hesterberg und Tilly Wedekind agieren als Bäckerweiber. Auf dem Programmzettel ganz unten - drei Kellner: Hans Albers, Ernst Deutsch und Kurt Goetz. Je entfernter von der Haupthandlung, um so mehr Freiheit zu improvisatorischer Laune.
Als Gäste des Marquis von Keith stehen auf der Bühne u.a.: Asta Nielsen, Henny Porten, Maria Koppenhöfer, Elsa Wagner, Paul Otto, Mathias Wiemann, Marlene Dietrich und Renate Müller. Jessner hat Mühe seine Schauspieler zu zügeln, sie sind so spielfreudig, dass sie fast an Wedekind vorbeispielen. Der Hilfsinspektor ist Karlheinz Martin, das Bühnenbild stammt von Ernst Pirchan und die Bühnenmusik liefern die Weintraub Synkopators. Dem Ehrenausschuß gehören an: Victor Barnowsky, Georg Bernhard, Albert Einstein, Gustav Hartung, Max Liebermann, Reichstagspräsident Paul Löbe, Max Reinhardt, Werner von Siemens, Franz Ullstein, Bruno Walter und Theodor Wolff. Auch finanziell wird der Abend ein ungewöhnlicher Erfolg. Die Einnahmen kommen der Witwe Steinrücks sowie engagementlosen Schauspielern zugute.
Renate kann sich nun im Kreis der berühmtesten Berliner Bühnen- und Filmstars mühelos behaupten. Sie hat sich zu einer emanzipierten Frau entwickelt, die nach ihren eigenen Regeln lebt und handelt. Sie ist vielbeschäftigt, besucht häufig Nachtclubs und ist gern gesehener Gast auf jeder Party. In ihrer neuen Wohnung in der Landshuter Straße 27 veranstaltet sie Künstlerfeste, wo sich dann etwa dreißig bis vierzig Personen versammeln: Schauspieler, Filmleute, Musiker, Journalisten, Maler. Zu ihrem Freundeskreis gehören u. a. Fritz Lang, Carl Froelich, Otto Wallburg, Robert Siodmak und natürlich Karin Evans.
Renate Müllers Karriere verläuft weiter zielstrebig, sie wird jetzt in mehren Stücken eingesetzt und überzeugt durch ihre Wandlungsfähigkeit. Sogar Kerr richtet sein Augenmerk verstärkt auf die junge Schauspielerin - und das hat seinen Grund.
Der spätere Feuilltonchef des renommierten Berliner Tageblatts, Fred Hildenbrandt, erinnert sich: „Eines Vormittags kam er (Dr. Karl-Eugen Müller) in mein Zimmer, nahm das Einglas aus dem Auge, klemmte es wieder fest und sagte zu meiner Überraschung: ‚Hören Sie mal, ich habe gehört, Sie tanzen gern. Meine beiden Töchter geben am Samstag ein gewaltiges Atelierfest. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie hin.‘ - Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass der Kollege Dr. Müller Töchter hatte. Ich dachte sofort, es müßten hübsche Töchter sein. Denn sonst wäre Dr. Müller mit seinen Einladungen sparsam gewesen. Ich sagte blindlings zu. Denn damals war in Berlin die große Zeit der Budenzauber, der Kostümfeste und besonders der Atelierfeste, und dafür war ich immer zu haben. Das Atelierfest bei Müllers war großartig. Es hatte das gewisse Etwas, das man lange nicht bei allen solchen Abenden vorfand. Dieses gewisse Etwas war stets das Entscheidende. Es kam meistens von den Gastgebern und bereitete unverzüglich vom ersten Moment an gute Laune und Heiterkeit. Die beiden Müllerstöchter Renate und Gabriele strömten gute Laune und Zutraulichkeit und Unbekümmertheit und Herzlichkeit mit solcher Heftigkeit aus, dass es Überwindung kostete, nicht kurzerhand aller beider Lippen zu küssen, ganz egal, was es dabei absetzen konnte. Sie kennenzulernen, machte die nachglühende Schönheit vieler versäumter Augenblicke wieder gut. Karl-Eugen Müller seinerseits hatte jedem Gast strikt verboten etwas mitzubringen, er hatte selber für auserlesene Getränke gesorgt, und in solchen Auslesen war er ein anerkannter Fachmann. Des lauten Lobes war kein Ende. Und auch des Tanzens war kein Ende. Gleich bei der ersten jungen Dame, die ich aus dem Gewühl griff, erschrak ich ein bißchen. Sie hatte nichts an. Das heißt, sie hatte doch etwas an, denn so zügellos ging es bei Müllers nicht zu. Aber die schlanke Schönheit, mit der ich tanzte, nein, sie konnte einfach nichts anhaben. Aber sie hatte doch etwas an. Etwas Purpurrotes. Doch es war so dünn, dass sie einfach nichts anhatte, wenn man mich recht verstehen will. Und sie tanzte so eng, dass mir Hören und Sehen verging, obwohl mein Beruf mir Hören und Sehen zur ersten Pflicht machte. Dann holte ich mir, nach Luft schnappend, Renate. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie war eine Schönheit, wunderbar gewachsen, mittelgroß, von zarter Üppigkeit der Formen, wenn es so etwas wie zarte Üppigkeit überhaupt geben sollte, sie war vergnügt, sie war außerordentlich witzig, sie war sehr klug, sie hatte alle meine Aufsätze gelesen, wovon ich ihr kein Wort glaubte. Und sie hatte etwas an. Gabriele, war dunkelhaarig mit Augen wie Blendlaternen und der erloschenen Stimme einer verlorenen Seele. Aber diese verlorene Seele sagte wunderbare Dinge, und wenn ich nur drei ihrer Sätze behalten hätte, wäre ich als Schriftsteller ein gemachter Mann.
Wie bei allen solchen Festen wurde jeder mit jedem für diesen Abend per du. Ich fragte Renate: ‚Was tust du eigentlich so im Leben?‘
Sie sah mich geradezu erschrocken an: ‚Das weißt du nicht? Das hat Vater dir nicht gesagt? Ich bin Schauspielerin bei Jessner am Staatstheater.‘
Ich sagte: ‚Ach du meine Güte.‘ Ich traute nämlich Schauspielerinnen nicht über den Weg, Ich war und bin mit vielen befreundet. Aber ich traute keiner. Renate sagte: ‚Ich bin natürlich noch nichts. Ich bin eine Null. Aber in ein paar Tagen haben wir Premiere. Und da hat mir Jessner, der Gute, eine kleine Rolle gegeben, meine erste Rolle.‘
Ich sagte: ‚Jessner, der Gute. Hoffentlich kannst du was.‘
‚Wer schreibt bei euch die Kritik?‘ fragte sie und sah mich erwartungsvoll an.
‚Ich nicht.‘ - Ich wußte übrigens nicht, wer die Kritik schreiben würde.
Entweder war es unser Höllenhund Alfred Kerr oder unser herzensguter Fritz Engel.
Ich sagte: ‚Glaubst du, dass du etwas kannst?‘
Sie lachte etwas zerfahren. ‚Du bist gut! Ich bin eine besessene Schauspielerin. Weißt du, was das heißt? - Das heißt, dass ich sogar, wenn ich nichts könnte, glauben müßte, dass ich etwas kann. So verrückt bin ich.‘
Ich sagte: ‚Du meine Güte!‘ Denn alle Schauspielerinnen waren verrückt. Ich sagte: ‚Und was hast du in deiner Rolle zu tun?‘
‚Ein paar Sätze zu sprechen. Und dann muß ich ein bißchen tanzen.‘
Ich sagte nichts. Es war zu wenig, als dass man hätte etwas sagen können. Plötzlich fuhr sie mich an und kniff mich in den Arm: ‚Glaubst du, Kerr geht hinein?‘
Ich wußte es nicht, aber ich begriff das Schwergewicht dieser Frage. Unser aller herzensguter Fritz Engel war der Senior in der Theaterkritik, ein älterer milder, sehr korrekter, sehr liebenswürdiger Kollege. Seiner ganzen Wesensart nach räumte er in den Theatern und unter den Ensembles nicht mit dem Flammenwerfer auf, noch sang er gewaltige Hymnen mit Orgelwucht. Alfred Kerr aber mit seinem brennenden Temperament, mit seinem wütenden Elan, mit seiner glühenden Unbedingtheit war das große Kritikergenie des ganzen Reiches, ein Klassiker, wofür ich ihn heute noch halte und immer halten werde. In seinen leidenschaftlichen Händen konnten Leben oder Tod, Triumph oder Vernichtung eines Stückes liegen, und er war das schwarze oder das heitere Los der Schauspielerschaft. Seine ätzende Ironie (der Kern seiner Begabung), seine profunde Sachkenntnis und ein traumhaft sicherer Instinkt für Talente, Halbtalente, Bluffer und Nichtskönner waren unangreifbar und wurden nur von Schwächeren seines Berufes bestritten. Seine unbekümmerten, oft von neuen Worten und Begriffen, die es bisher in deutscher Sprache nicht gegeben hatte, funkelnden Lobgesänge vermochten sozusagen über Nacht eine unerwartete Karriere zu begründen. Das wußte ich, das wußte Berlin, das wußte jedermann, und das wußte auch Renate Müller.
Sie sagte: ‚Ich wollte, Kerr ginge hinein.‘
Ich sagte ziemlich zögernd: ‚Hör mal, du Schlange, ich werde mich erkundigen, ob Engel oder Kerr schreibt. Und wenn ich dich anrufe und sage Kerr, und du bekommst Zustände, ist das deine Sache.‘
‚Zustände habe ich sowieso.‘
‚Dann bist du abgehärtet.‘
Wir standen aus der Ecke auf, in der wir uns unterhalten hatten, nur gestört von den Liebkosungen, denen sich dicht bei uns zwei junge Leute hingaben.
‚Verdammt noch mal‘, sagte ich, ‚habt ihr alle so schöne Brüste?‘ Renate sagte: ‚Ja, alle.‘
Rings um mich entdeckte ich nämlich in diesem Moment, dass alle Mädchen und Frauen hier auserlesene Busen besaßen. Auch Renate - auch Renate.
Ich grübelte, während wir tanzten. Ich hätte gern irgend etwas für Renate getan. Aber was? Ich dachte, wenn sie auf der Bühne denselben Charme zeigt, den sie hier hat, wenn sie auf der Bühne genauso landfrisch, so hübsch aussah, wenn sie genauso natürlich und unbefangen blieb wie an diesem Abend, dann mußte vielleicht diese wirklich reizende Person auch in einer kleinen Rolle Erfolg haben. Wenigstens einen kleinen, wenigstens ein bißchen. Und Alfred Kerr behielt oft Kleinigkeiten, die ihm gefallen hatten, im Gedächtnis, Kleinigkeiten, die schwachen Kritikeraugen nicht auffallen. Dass ihm solche Kleinigkeiten auffielen, war Glückssache.
Ich grübelte, Renate an meinem Herzen, während wir tanzten. Und ich grübelte lange.
‚Es ist hübsch, dass du nicht sprichst, während wir tanzen‘, sagte die Müllerstochter.
‚Oh Gott‘, sagte ich, ‚rede um Himmels willen bloß nicht so viel.‘
Ich war mit mir einig geworden. Ich hatte mich zu einer ganz und gar unausdenkbaren, unmöglichen und lebensgefährlichen Unternehmung entschlossen, wobei ich an das uralte Wort dachte: Schlage dich nur tapfer durch, wer auch dabei geschlagen werde. Meine Freunde, haltet die Luft an! - Am anderen Morgen, dem Tag der Premiere, ging ich einen Stock höher. In das kleine Zimmer, in dem der Dr. Kerr seine Korrektur zu lesen pflegte. Seine ärgerliche Stimme: ‚Herein!‘ Er war immer ärgerlich, wenn man ihn beim Korrekturlesen störte. Ich schluckte ein paarmal, dann sprang ich mit einem Hechtsprung in das Unmögliche.
‚Herr Doktor Kerr, ich möchte Sie korrumpieren und bestechen.‘
Er wandte den Kopf, senkte ihn etwas und sah mich über den Rand seiner Lesebrille an, dann legte er den Bleistift auf den Tisch. ‚Setzen Sie sich und legen Sie los.‘
Ich setzte mich auf den äußeren Rand des Stuhls und legte los. Und wieder einmal merkte ich, dass ich einen ‚guten Tag‘ hatte. Ich erzählte Doktor Kerr alles, was auf dem Atelierfest passiert war. Ich erzählte bis zum gefährlichen Ende. ‚Sie tanzt wundervoll‘, schloß ich. Dabei hatte ich das Gefühl eines Schwimmers, der sich an das eiskalte Wasser gewöhnt hat.
Er fragte: ‚Hat sie auch in dem Stück zu tanzen?‘
‚Ja.‘
‚Und glauben Sie, dass sie auch in dem Stück wundervoll tanzt?‘
‚Ja.‘
‚Und Sie glauben, dass sie auch in dem Stück so unglaublichen Charme hat, wie Sie mir erzählten?‘
‚Ja.‘
Die Sache wurde brenzlig. Denn der Unterschied zwischen ihm und mir bestand darin, dass er die Geschichte nicht ernst nahm und ich sie todernst nahm.
‚Und halten Sie sie für ein Talent?‘
‚Ja.‘
Meine Sturheit brachte ihn jetzt zum Lachen. Er setzte seine Brille ab und wieder auf. ‚Schön. Gut‘, sagte er. ‚Wenn dies alles der Fall ist, werde ich mich korrumpieren lassen.‘
Mit diesem fragwürdigen Erfolg zog ich ab. Aber was konnte ich von ihm erwarten? Sich bei ihm für eine Schauspielerin einzusetzen, hatte etwas Riskantes. Er konnte annehmen, ich hätte mit der reizenden jungen Dame ‚etwas‘. Ich hätte nichts dagegen gehabt, gar nichts, aber es hatte sich nun einmal nichts ereignet, und ich war auch niemals darauf aus gewesen. Wie würde Kerr reagieren? Er war unberechenbar und konnte teuflisch sein. Er besaß eine Vorliebe für gepfefferte Capriccios, in denen er manchmal ganz zusammenhanglos jemanden lächerlich machte, der niemals darauf gefaßt gewesen war. Auch die Größten der Großen entgingen solchen blitzschnellen und verletzenden Florettstichen nicht. Versagte das Müllerstöchterchen und machte Kerr auch nur eine winzige spöttische Bemerkung über sie, war ihre Sache dahin und vorbei. Also kam jetzt alles auf Renate an. Denn wenn sie versagte, war auch meine Sache bei Dr. Kerr dahin, ich war blamiert, und er würde mich fortan für schwachsinnig halten.
Ich holte mir das Müllerstöchterchen ans Telefon. Ich war wütend, dass ich mich zu dieser Unternehmung hatte hinreißen lassen. Ich sagte ihr kurz, dass Kerr in die Premiere gehe; ich hörte einen tiefen Seufzer und hängte ein. Die Premiere. Am selbigen Abend. Im Staatstheater. Namen und Autor des Stückes weiß ich nicht mehr.
Der andere Morgen. Ich ging in die Setzerei und ließ mir die Fahnenabzüge von Kerrs Kritik geben. Ich durchflog sie. Und da stand es. Da stand ein einziger Satz über die Schauspielerin Renate Müller, meine Müllerstochter. Der Satz äußerte starkes Wohlgefallen an einem neuen Talent, einer neuen Anmut und an einer neuen reizvollen Erscheinung. Der Satz genügte. Er bewies wieder einmal die ungeheure Macht und den sagenhaften Einfluß, den eine Kritik von Alfred Kerr haben konnte. Denn von diesem Tage an begann die Karriere von Renate Müller.“ 26

Privatfoto aus dem Jahre 1929
Ende April 1929 beginnen für Renate die Proben zu Hans Meisels Störungen, einer Komödie, die sich in einer Familienpension abspielt und die Eigenheiten der dort wohnenden Menschen widerspiegelt. Meisel, der 1927 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde, soll nun mit dieser Uraufführung im Staatstheater geehrt werden.
Erich Engel versteht es bereits auf den Proben, gute Laune bei seinen Schauspielern zu entfachen und kann mit seiner modernen Regie und der Originalität seiner Darsteller eine gelungene Inszenierung verbuchen. Unterstützt wird er u. a. durch die exzellenten Bühnenentwürfe von Bernhard Klein. Für das Publikum völlig neu: deckenfreie Rollkulissen, der Bühnenumbau wird vor den Augen der Zuschauer getätigt. Renates Bühnenpartner sind diesmal Elsa Wagner, Julius Falkenstein, Paul Bildt, Hans Leibelt und Veit Harlan. Harlan ist zwar ein ausgezeichneter Schauspieler und Kollege, wird sich jedoch in wenigen Jahren an die Spitze der nationalsozialistischen Filmregisseure setzen. Sein Jud Süß (1940) wird zu den antisemitischsten und niederträchtigsten Filmen der Nazis gehören.
Renate Müller spielt in Störungen die Schweizerin Lilo Derain, die sich mit viel Raffinesse einem introvertierten jungen Russen (Harlan) nähert. Die Premiere findet am 4. Juni statt. Publikum und Kritiker reagieren gespalten. In den Gazetten ist am Tag danach zu lesen: „Erich Engel hatte für die Regie hundert Einfälle und alle hundert waren gut. Eine Schauspielerschaft von erstem Rang folgte ihm in guter Laune. Die beiden Liebenden: Veit Harlan und Renate Müller, schlurfende Passivität gegen aufgeregtes Dekolleté, amüsanter Kontrast.“ 27
In einer anderen Zeitung über Renate: „Reizvoll und kühl die Derain von Renate Müller.“ Und Emil Faktor meint im Berliner-Börsen-Courier: „Renate Müller war als junge Schweizerin recht lieb, so'weit es die von allzuviel Störungen heimgesuchte Rolle ihr ermöglichte.“ 28 Und Kerr verkündet: „Renate Müller. Bezaubernd. Nicht nur was Gutaussehendes. Nicht nur was Melodisches. Hier ist eine Herrlichkeit. Ein zugleich volkhaftes, zugleich adliges Geschöpf.“ 29

Pressezeichnung zu Hans Meisels „Störungen“ am Staatstheater, 1929.
Die erste Produktion in der neuen Spielzeit am Staatstheater ist René Schickeles Kriegsstück Hans im Schnakenloch, das 1917 in Berlin uraufgeführt wurde und jetzt ohne Kürzungen unter der Regie von Walter Gynt neu inszeniert wird. Renate Müller (als Zweitbesetzung) agiert auf der Bühne u. a. wieder mit ihrem ehemaligen Lehrer Lothar Müthel, sowie mit Alexander Granach, Albert Florath und Fritz Odemar. Gleichzeitig probt sie die Rolle der Edelnutte in Gustav Wieds Satire 2 X 2=5, welche am 4. September im Schillertheater herauskommt. Diesmal führt Emil Rameaus die Regie. Er kann dem Stück jedoch zu keinem Erfolg verhelfen. Die Darstellungen von Veit Harlan, Aribert Wäscher, Hans Leibelt und Elsa Wagner werden in den Kritiken jedoch gelobt. Auch Renates Leistung wird in der Vossischen Zeitung kommentiert: „Renate Müller, ungemein appetitlich, ist als Edelnutte um einige Grade zu edel.“ 30 Die Fachwelt erkennt mit der Zeit immer mehr ihre verfeinerte Darstellungsbreite an.