- -
- 100%
- +
Zwang zur Individualität
Bisher konnte mit Hilfe einiger Beispiele gezeigt werden, dass unsere Ernährungsgewohnheiten weit weniger individuell ausgeprägt sind, als wir vermutlich erwartet haben. In den Zeiten der Individualisierung, in denen jeder Mensch seinen unverwechselbaren und eigenen Weg gehen muss (Beck-Gernsheim 1993), fühlen wir uns verpflichtet, in allem besonders individuell und einzigartig zu sein – auch bei der Nahrungsaufnahme. Deshalb favorisieren wir die Ausblendung kultureller und geschichtlicher Faktoren, die uns leider klar machen, dass die Kultur sehr viel darüber bestimmt, was und wie wir essen und was wir nicht essen (Ventura/Worobey 2013; Anderson 2014).
1.4 Arm und reich: Essen als Mittel der sozialen Distinktion
Fleisch und Macht
Die Kluft zwischen der mediterranen Kost und der „barbarischen“ ist bis heute nicht geschlossen, aber es steht außer Zweifel, dass sich beide Kostformen vermischt haben. Zwar hat die römisch-katholische Kirche einen teilweise erbitterten Krieg gegen die Maßlosigkeit geführt, auch wenn sie selbst oft der Völlerei verfallen ist, aber sie konnte nicht verhindern, dass Fleischkonsum zum Statussymbol der oberen Schichten der europäischen Gesellschaften wurde. Die antike Forderung an die Elite der griechischen Stadtstaaten, sich zu mäßigen, blieb im Mittelalter ungehört. Auch christliche Mäßigungsregeln wie das Fasten wurden in dieser Epoche nicht durchgehend umgesetzt. Fleisch und der Konsum hiervon in großen Mengen galten hingegen als untrügerische Indizien für Macht und für eine hohe gesellschaftliche Position. Die Mitglieder der oberen Stände waren sozusagen gezwungen, viel Fleisch zu konsumieren, um sich nach unten abzugrenzen.
Erst seit ca. 50 Jahren können sich die oberen Schichten unserer Gesellschaft nicht mehr durch Fleischkonsum von den unteren Schichten abgrenzen – weil fast alle Schichten die Möglichkeit haben, viel Fleisch zu essen. Die oberen Schichten mussten sich demnach neue Nahrungsgewohnheiten einfallen lassen, um ihren Status angemessen auszuweisen: z. B. durch Vegetarismus oder durch Schlankheit, also einer neuen Form der Mäßigung. Es ist auch gut möglich, sich mit exotischen Kostformen abzugrenzen, z. B. mit der asiatischen Küche in Europa.

Menell (1988) und Montanari (1993) geben eine Fülle von Beispielen, wie Nahrungsmittel genutzt worden sind, um eine soziale Schicht von der anderen sichtbar zu differenzieren. Elias hat in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ (1978), und im Anschluss daran auch Menell (1988), herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch die Zubereitungsformen oder die Tischsitten ausgezeichnete Mittel der sozialen Distinktion gewesen sind und es immer noch sind.

Auch heute noch dürfte ein Gourmet-Tempel für die meisten Menschen weniger ein verführerischer denn ein Ort des Grauens sein – muss man schließlich dort die unterschiedlichsten Gläser und Formen von Besteck unterscheiden und benutzen können.
Mit der Moderne und mit der Pluralisierung der Lebenswelten ist es sicherlich nicht mehr so einfach, von den Lebensmitteln und der Art der Zubereitung sowie der Form des Verzehrs auf eine bestimmte soziale Schicht zu schließen, aber dennoch hat die Nahrungsaufnahme als Mittel der sozialen Distinktion gewiss nicht ausgedient (Bourdieu 1987; Andrews 2012; Kahma et al. 2016).
1.5 Kultur und Essstörungen
eigenes Leiden?
Auch wenn Essstörungen in aller Regel und überwiegend leidvoll sind, so sind sie zugleich ein Teil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums. Essstörungen sind identitätsstiftend. Die Betroffenen definieren sich über ihre Essstörung, grübeln darüber, warum ausgerechnet sie bulimisch oder adipös sind. Was aber, wenn auch bei Essstörungen die Kultur mit eine Rolle spielt? Wenn das vermeintlich Ureigenste, das individuelle Leiden auch gesellschaftliche Ursachen hat? Üblicherweise versteht man Essstörungen als Ergebnis von z. B. genetischen Besonderheiten oder als Ausdruck psychischer Konflikte oder als eine Art von Problembewältigung. Keine Frage, dass Essstörungen diesen Hintergrund haben können. Aber eine Essstörung ist auch etwas, was zunächst als Essstörung definiert sein muss.
Definition einer Störung
In aller Regel definiert in unserer Kultur der Ärztestand, was als Störung gilt und was nicht als Störung bezeichnet wird. Das bis zur Neuzeit in Europa übliche exzessive Trinken von Alkohol in der Gemeinschaft gilt heutzutage als Ausdruck einer Pathologie. Es gälte nicht als normal. Eine körperliche oder psychische Auffälligkeit wie übermäßiges Trinken bedarf deshalb stets einer in einer Kultur üblichen Definition, um den Status einer Störung oder Krankheit zu gewinnen (Freidson 1979).
variable Norm
Und diese Definitionen sind relativ variabel. Das bedeutet, dass einmal in einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Maß an Übergewicht als Störung gilt, in einer anderen Epoche hingegen als gänzlich normal. Die Betroffenen werden in der Regel die Definition der Experten akzeptieren und sich das eine Mal als krank, das andere Mal als gesund begreifen. Wenn eine Gesellschaft dafür Verständnis hat, dass junge Frauen, um ihr Figurproblem zu lösen, nach den Mahlzeiten erbrechen, dann gibt es keine Bulimia nervosa als anerkanntes Krankheitsbild. Wenn wie noch vor hundert Jahren bei Carl von Noorden, einem der bekanntesten Adipositasforscher seiner Zeit, ein 1,75 m großer Mann an die 90 kg wiegen darf, ohne als übergewichtig oder adipös mit Krankheitswert eingestuft zu werden, dann ist dieser Mann offiziell nicht krank. Er fühlt sich wahrscheinlich auch nicht krank und macht sich keine Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Er wird nicht bemüht sein, eine Diät zu beginnen. Er wird nicht darüber nachdenken, welche psychischen Probleme ihn in die Adipositas getrieben haben.
Idealgewicht
Wenn hingegen wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Idealgewicht als gesundheitlich optimal angepriesen wird und alles Gewicht, das darüber liegt, als lebensverkürzend gilt, wenn sich zusätzlich das vorherrschende Schlankheitsideal der Frauen der Magersucht annähert, dann sind sozusagen von einem Tag auf den anderen große Bevölkerungskreise übergewichtig und adipös (s. Kasten 1.1).
Kasten 1.1: Idealgewicht
Was ist das Idealgewicht? Es berechnet sich nach dem Broca-Normalgewicht, das früher der dominierende Gewichtsindex gewesen ist.
Broca-Normalgewicht = Körpergröße in cm minus 100
Das Idealgewicht ist dann: Broca-Normalgewicht minus 10% für Männer und minus 15% für Frauen.
Früher wurde angenommen, dass das Idealgewicht mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Heute ist dies umstritten. Das Broca-Normalgewicht berechnet sich zwar einfach, aber es korreliert noch schlechter mit dem relativen Fettanteil am Gesamtkörpergewicht als der Body Mass Index, der weiter unten vorgestellt wird.
Diese neue und sehr große Gruppe jetzt Übergewichtiger und Adipöser ist nun darum bemüht, das Gewicht zu reduzieren. Schließlich wird heutzutage Glück mit Schlankheit in Zusammenhang gebracht. Viken et al. (2005) konnten dies in einer Studie gut belegen, ebenfalls Swami et al. (2015) und Robertson et al. (2015).
Bilanz von Diäten
Gewicht zu reduzieren, gelingt aber nicht allzu häufig. Diäten und andere Formen der Gewichtsreduktion sind langfristig selten erfolgreich. Die um Gewichtsabnahme Bemühten sind angesichts der ausbleibenden Erfolge enttäuscht und essen angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen potenziell mehr als davor. Diätversuche führen tendenziell zu allen Formen von Essstörungen, also auch zur Bulimia nervosa oder zur Anorexia nervosa (Howard/Porzelius 1999; Neumark-Sztainer et al. 2006; Liechty et al. 2013; Saunders et al. 2016).

Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht unerheblich, dass jedes dritte Mädchen bis zu einem Alter von zehn Jahren über Diäterfahrungen verfügt (Bruns-Philipps/Dreesman 2004). Neumark-Sztainer et al. (2000) ermittelten, dass mehr als 50% der Bevölkerung versuchen, ihr Gewicht zu kontrollieren: 56,7% der erwachsenen Frauen, 50,3% der erwachsenen Männer, 44% der Mädchen und 36,8% der Jungen. Bublitz (2010) gibt für die US-Bevölkerung an, dass sogar 75% der Frauen Diätversuche hinter sich haben.
In einer anderen Studie von Schur et al. (2000) wurde ermittelt, dass 50% junger Kinder ihr Gewicht reduzieren wollen und 16% dies bereits versucht haben. 77% dieser Kinder berichteten von Familienmitgliedern, die über die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten erzählt haben. Schur und Kollegen kommen deshalb zum Schluss, dass die Familie einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten und dessen Umstellung hat.
Diätversuche in Eigenregie sind allerdings zu unterscheiden von professionell durchgeführten Gewichtsabnahmeprogrammen. Diese münden in der Regel nicht in Essstörungen (Buryn/Wadden 2005). Dagegen verursacht kontrolliertes Essverhalten als alltägliches kulturelles Muster vor allem von Mädchen und jungen Frauen Essstörungen (Austin 2001).
Der eben modellhaft beschriebene Teufelskreis könnte eine Erklärung dafür liefern, warum die Anzahl adipöser Personen zunimmt. Dieser Teufelkreis könnte allerdings auch anders ausgehen. Er kann in Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa münden, also einmal in totaler Kontrolle der Essimpulse, das andere Mal in der Korrektur des übermäßigen Essens durch z. B. selbst induziertes Erbrechen. Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse, nämlich die Setzung des Idealgewichts, dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung der Adipositas und der Bulimia nervosa deutlich zugenommen hat.

Mit empirischen Studien kann diese Überlegung gut unterfüttert werden. Tiggeman und Slater (2004) führten 84 Frauen entweder Videoclips zu Popmusik mit dünnen Frauen vor oder Clips ohne diese. Bei der Gruppe, die die Clips mit dünnen attraktiven Frauen ansah, erhöhte sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die Frauen in dieser Gruppe begannen verstärkt, ihren Körper mit denen anderer Frauen zu vergleichen. Um diesen Effekt zu erreichen, reichte es aus, sechs Clips in der Länge von 15 Minuten anzuschauen. Die mediale Präsentation führt also zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Es ist anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit teilweise mit Diätbemühungen beantwortet wird. Und dann ist der genannte Teufelskreis begonnen.
In einer Meta-Analyse bewerteten Groez et al. (2002) 25 experimentelle Studien, die den Einfluss medial vermittelter schlanker Körper auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild untersuchten. Ergebnis war, dass das Darbieten schlanker Körper zu einer Zunahme der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führte (Quigg/Want 2011; Mulgrew et al. 2014; Rustemeier et al. 2015; Mannat et al. 2016; Naumann et al. 2016).
1.6 Soziale Lage und Gesundheit
Bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheit stimmen bestimmte Vorurteile nicht: Arbeitslose hätten ein entspanntes und gutes Leben, müssten nichts tun, lägen auf der faulen Haut und feierten. Wer arbeitslos ist oder von Sozialhilfe lebt, hat eine höhere Anfälligkeit für Erkrankungen zahlreicher Art. Zudem ist die Lebenserwartung verkürzt (Prahl/Setzwein 1999; Mielck 2000). Dies lässt sich allgemeiner fassen: Wer nicht viel verdient, wer keinen hohen Bildungsabschluss hat, ist kränker und stirbt früher. Das ist seit vielen Jahren bekannt (Novak 1980; Siegrist 1995).

In einer schwedischen Studie konnten Gerdtham und Johannesson (2000) zeigen, dass junge Männer mit dem niedrigsten Einkommen eine Reduktion der Lebenserwartung um 4,1 Jahre haben, die ältesten in derselben Einkommensgruppe immerhin noch eine Verringerung um 2,1 Jahre. Bei den Frauen ist es ähnlich.
Besonders beunruhigend ist, dass sich bereits aus einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Kindheit eine erhöhte Mortalitätsrate im Erwachsenenalter voraussagen lässt (Claussen et al. 2003).
Arbeit und Gesundheit
Niedriger sozioökonomischer Status ist häufig verbunden mit schlechten Arbeitsbedingungen. Gerade bei der Koronaren Herzkrankheit scheint es sich so zu verhalten, dass schlechte Arbeitsbedingungen deren Anstieg begünstigen (Marmot et al. 1997). Das Vorurteil, Personen in beruflich höheren Positionen stürben eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist also nicht gültig. Jedenfalls heute nicht mehr, vor 50 Jahren war es kein Vorurteil.
Diese Tendenz, dass sozialer Status, Arbeitsbedingungen und Gesundheit miteinander positiv korrelieren, gilt selbst noch unter den Wohlhabenden und Gebildeten: Der Chefarzt lebt im Durchschnitt länger als der Oberarzt (Syme 1991). Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass der Chefarzt mehr Entscheidungsspielräume hat als der Oberarzt. Doch der Unterschied zwischen der Lebenserwartung des Chef- und Oberarztes in einer Industrienation ist relativ klein – angesichts eines Blicks auf die gesamte Erde: Weltweit gibt es Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den Nationen von 48 Jahren. Und innerhalb eines Landes wie der USA differiert die durchschnittliche Lebenserwartung je nach sozialer Schichtzugehörigkeit um 20 Jahre (Marmot 2005). In Deutschland ist diese Differenz viel geringer, sie ist dennoch nach wie vor da (BZgA 2013; Lampert et al. 2013).
In neueren Studien wird ersichtlich, dass die Bildung einen bedeutsamen Einfluss auf die Gesundheit hat (Leopold/Leopold 2018). In einer Längsschnittstudie von 1994 bis 2014 konnte festgestellt werden, dass geringe Bildung zu schlechter Gesundheit führt. Die Bildungsungleichheit hat sich zwar reduziert, die gesundheitliche ist jedoch stabil geblieben (Moor et al. 2018). Aue et al. (2016) präzisieren diesen Zusammenhang: Armut, aber auch eine prekäre Lebenslage, begünstigen gesundheitsschädigendes Verhalten. Ein niedriger sozialer Status ist auch mit schweren chronischen Erkrankungen assoziiert (Lampert et al. 2016).
1.7 Soziale Lage und Ernährung
Lebensstil
Die Ernährungsweise ist Teil eines bestimmten Lebensstils und nicht abzukoppeln von anderen Merkmalen dieses Lebensstils oder eines bestimmten sozialen Status. Andere Merkmale wären nach Prahl und Setzwein (1999): Arbeits- und Wohnverhältnisse, Inanspruchnahme von Expertenhilfe, Risikoverhalten und Drogenkonsum. Was das Ernährungsverhalten betrifft, resümieren die eben genannten Autoren, dass sich die unteren sozialen Schichten hinsichtlich dessen, was heute als gesunde Kost definiert wird, schlechter ernähren als die oberen sozialen Schichten. Die oberen sozialen Schichten essen
● abwechslungsreicher,
● mehr proteinreiche Produkte wie Milch und Joghurt,
● viel Obst,
● und sie achten mehr auf ihr Gewicht.
In den unteren Schichten isst man eher
● Butter,
● Zucker,
● Weißbrot,
● Fleisch,
● Wurstwaren.

In einer Überblicksstudie, die sich auf den Konsum von Obst und Gemüse in Europa bezieht, kommen Roos et al. (2000) zu folgendem Schluss: Es gibt eine zentrale Tendenz, wonach mit steigendem Bildungsniveau auch der Verbrauch von Obst und Gemüse ansteigt. Leonhäuser und Lehmkühler (2002) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: In armen Haushalten wird wenig Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse verzehrt. Lawrence et al. (2009) machen darauf aufmerksam, dass sich schwangere Frauen mit einem geringeren sozioökonomischen Status ungesünder ernähren als die mit einem höheren.
Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet nicht nur, weniger Handlungsspielräume beim Einkaufen zu haben, es ist auch verbunden mit geringen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Nahrungszubereitung und mit geringem Wissen über gesunde Ernährung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in armen Haushalten Gesundheit als Wert und Ziel nicht an der ersten Stelle der Wert- und Zielhierarchie steht (Lehmkühler 2002).
materielle vs. soziale Armut
Prahl und Setzwein (1999) unterscheiden in diesem Zusam menhang zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut: „Materiell“ bedeutet, dass man tatsächlich nicht genug zum Essen hat. „Sozial“ soll veranschaulichen, dass zwar genug Geld da ist, um sich nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten hinreichend gut zu versorgen, dass aber bestimmte kulturelle Standards nicht eingehalten werden können. Man kann es sich z. B. nicht leisten, essen zu gehen. Man kann keine Einladungen aussprechen.
Tab. 1.1: Gesunde Ernährung in armen Haushalten (Köhler/Feichtinger 1998, zit. nach Leonhäuser/Lehmkühler 2002, 23)
DimensionenFunktionenProbleme in ArmutssituationenphysiologischVersorgung mit Energie und NährstoffenBeeinträchtigungen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeitsozialsoziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, KommunikationBeeinträchtigungen sozialer Beziehungen (z. B. wenn Einladungen nicht erwidert werden können)kulturellnormative Wertsysteme, Ernährungssitten und -gebräuche, Essbarkeit, GeschmackAbweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (z. B. Braten statt Hackfleisch als „unangebrachter Luxus“)psychischGenuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, SelbstwertgefühlVerlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (z. B. „Leistungshungern“ oder Hamstern)Begleitdimensionökonomischfür Ernährung verfügbares Einkommen als ökonomische und soziokulturelle ZugangsberechtigungBeeinträchtigung des Marktzugangs, der Teilhabe am Konsum, der NahrungsversorgungzeitlichAuswirkung von Häufigkeit und Dauer bestimmter Ernährungssituationen im Zeitverlaufgesundheitliche und psychosoziale Spätfolgen (z. B. lebenslange Sensitivität gegen Nahrungsbeschränkung)
Robertson (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht kleiner wird, sondern die soziale Ungleichheit zunimmt. In ganz Europa können sich Menschen mit geringem Einkommen nicht (mehr) gesund ernähren. Dies gilt vor allem für Kinder, Jugendliche, schwangere und stillende Frauen sowie für ältere Menschen. Soziale Ungleichheit zeigt sich auch im Vergleich europäischer Länder: Der prozentuale Anteil des verfügbaren Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt in Rumänien bei 60%, in Polen bei 40%. In der EU verbraucht man dagegen im Durchschnitt nur 22% für Lebensmittel. Aber auch in den reichen EU-Ländern wird die Kluft zwischen arm und reich größer, so etwa in Großbritannien.
Dass sich an dem Zusammenhang zwischen sozialer Lebenslage und Ernährung wenig geändert hat, macht der „12. Ernährungsbericht“ der DGE (2012) deutlich (vgl. auch Mensink et al. 2013).
soziale Distinktion
Neuere Studien zeichnen ein vergleichbares Bild. Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und einem gesunden Essen (Kamphuis et al. 2015). Atkinson und Deeming (2015) beziehen sich auf den Franzosen Bourdieu, der in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts herausgearbeitet hat, dass die soziale Lebenslage einen bedeutsamen Einfluss auf die Art des Essens hat. Und sie stellen fest, dass dies auch auf das Großbritannien von heute zutrifft. Flemmen und Hjellbrekke (2018) kommen für Norwegen zum selben Schluss. In Kanada kaufen arme Familien günstig ein, weil es nicht anders geht, aber sie wissen, dass es bessere Lebensmittel gibt. Die Wohlhabenden erwerben eben diese (Beagan et al. 2016). Ärmere Menschen essen mehr Fleisch, nicht weil sie mehr Hunger haben, sondern aus Statusgründen, die symbolische Bedeutung von Fleisch wird verzehrt (Chan/Zlatevska 2018). Fleisch steht in der gesamten Menschheitsgeschichte für Überleben, Wohlstand und Macht (Mellinger 2000). Das sich ausbreitende alternative Essen wie Vegetarismus und Veganismus wird hingegen von den besser Gestellten bevorzugt. Essen stellt also im Sinne Bourdieus ein Mittel der sozialen Distinktion dar, ein Mittel der sozialen Abgrenzung (Paddoch 2016).
1.8 Sozialisation und Ernährungsverhalten

Hurrelmann (2002, 15f) gibt eine umfassende Definition der Sozialisation: „Sozialisation bezeichnet […] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden.“
Wichtig in dieser Definition ist der Umstand, dass Sozialisation nicht auf Anpassung an Realität reduziert wird. Sozialisation ist lebenslängliche aktive Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. In diesem Abschnitt soll nun weniger der aktiven Auseinandersetzung nachgegangen werden, sondern ihrem Gegenteil: dem prägenden Einfluss der Sozialisation auf das Ernährungsverhalten.
Kinder entwickeln sich zu gesünderen Menschen, wenn sie unter förderlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wenn der sozioökonomische Status der Eltern relativ hoch ist und wenn hinreichend emotionale Zuwendung vorhanden ist (Siegrist 2003; Fiesea et al. 2012; Andersona 2012).

Auch die Ernährung ist von entscheidender Bedeutung. Und Ernährung ist mehr als biologische Nahrungsaufnahme. „Food is an interaction not an object.“ (Eagleton, zit. n. Belton 2003, 2) Um etwas die Schärfe aus diesem Zitat herauszunehmen: Nahrungsaufnahme ist eingebettet in Interaktion, sie ist untrennbar verbunden mit Interaktion. Die kleinen Kinder essen das, was ihre Eltern essen. Sie mögen die Lebensmittel, die die Eltern besonders gerne konsumieren.
ungesunde Esskultur
Mielck (2000) nimmt an, dass die Kinder aus den unteren Schichten die ungesunde Ernährungsweise ihrer Eltern regelrecht lernen. Kinder reproduzieren die Esskultur, die ihnen die Eltern vorleben. Wenn die Mahlzeiten stumm vor dem Fernseher eingenommen werden, dann kopieren die Kinder diese Verhaltensweisen. Mit zunehmendem Alter schwinden die elterlichen Einflüsse, das Ernährungsverhalten wird dann z. B. auch durch gleichaltrige Jugendliche bestimmt. Aber im Sinne des Klassikers von Bourdieu (1987) ist anzunehmen, dass es zwar möglich ist, die Einflüsse der Eltern zu reduzieren, dass es aber prinzipiell sehr schwer ist, dem spezifischen Lebensstil der sozialen Schicht, der man entstammt, zu entkommen.
Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährung lässt sich bezüglich der Adipositas so knapp umreißen: Kinder, die in nicht intakten Familien aufwachsen, haben ein siebenfach erhöhtes Risiko, eine Adipositas zu bekommen (Petermann/Häring 2003).

Zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährungsverhalten wurden zahlreiche Studien durchgeführt. Einige sollen nun vorgestellt werden.
● Hays et al. (2001) haben eine Feldforschungsstudie an mexikanischamerikanischen Müttern durchgeführt, um herauszufinden, welche sozialisatorischen Einflüsse Mütter auf das Ernährungswissen und Essverhalten von Kindern haben können. Sie ermittelten, dass ein nicht direktiver, erklärender und partizipatorischer Erziehungsstil der Mütter das Ernährungswissen der Kinder verbessert.