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● Patrick et al. (2005) stellten fest, dass ein bestimmter und entschlossener Erziehungsstil positiven Einfluss auf den Konsum von Früchten und Gemüse bei Kindern hat. Dagegen erzielt ein unterwerfender, Gehorsam verlangender Erziehungsstil diesbezüglich negative Effekte.
Erziehungsstil
Die Befunde von Hays et al. (2001) und Patrick et al. (2005) lassen sich dahingehend bündeln, dass weder Gleichgültigkeit noch autoritärer Erziehungsstil zu gesundem Ernährungsverhalten der Kinder führen. Vielmehr scheinen sich Kinder dann gesund zu ernähren, wenn sie ein entschlossenes Anliegen der Eltern spüren, ohne sich allerdings diesem Anliegen blind unterwerfen zu müssen. Entscheidend ist auch, dass gesunde Ernährung nicht zum Dogma erhoben wird.

Weitere Studien zum Zusammenhang von Sozialisation und Ernährungsverhalten belegen Folgendes:
● Roos et al. (2001) konnten einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau in Haushalten und dem Konsum von rohem Gemüse ermitteln: Je höher das Bildungsniveau, umso höher war auch der Konsum von rohem Gemüse. Die Schulleistungen hatten ebenfalls einen starken Einfluss auf diesen Konsum. Wer gute Schulleistungen hatte, aß viel Gemüse.
● In einer Längsschnittstudie untersuchten Lake et al. (2004), wie sich Personen ihr verändertes Essverhalten im Zeitraum von der Jugend bis zum Erwachsenenalter erklären. Die Veränderungen wurden zugeschrieben dem Einfluss der Eltern, des Partners, der Kinder, dem Ernährungsbewusstsein, der Beschäftigung und dem Mangel an Zeit. Der Einfluss der Eltern wurde sowohl als positiver als auch als negativer, dem man entkommen muss, erlebt. Für Männer, die eine Partnerschaft eingingen, war der Einfluss der Partnerin auf das Essen tendenziell ein positiver.
● Hannon et al. (2003) ermittelten, dass die Person, die in einem Haushalt das Essen zubereitet, sehr großen Einfluss auf das Essverhalten des Ehepartners und der Kinder hat. Nimmt diese Person viel Gemüse und Obst zu sich, so tun dies auch der Partner und die Kinder. Isst diese Person viel Fett, so essen auch Partner und Kinder viel Fett. Verstärkt wird dieser Einfluss, wenn viele Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden.
● Nicklaus et al. (2005) schreiben der Kindheit einen wesentlichen Einfluss auf das spätere Essverhalten zu. In einer prospektiven Studie verfolgten sie die Entwicklung kleiner Kinder bis in das junge Erwachsenenalter. Wer als zwei- bis dreijähriges Kind eine freie Auswahl von Lebensmitteln treffen durfte, ernährte sich als Jugendlicher oder als junger Erwachsener abwechslungsreich und damit gesund.
● Groele et al. (2018) stellen fest, dass der Obstkonsum der Mütter den der Kinder stark beeinflusst.
● In einer Metaanalyse kommen Yee et al. (2017) zum Schluss, dass die Verfügbarkeit von Lebensmitteln im Haushalt und die Eltern in ihrer Vorbildfunktion am stärksten mit dem Essverhalten der Kinder korreliert sind, und zwar sowohl mit dem gesunden, als auch mit dem ungesunden. Wenn die Schüssel mit den Keksen immer vorhanden ist, und wenn die Eltern die ganze Zeit Kekse naschen, dann tun dies die Kinder auch.
1.9 Soziologische Modelle der Ernährung
Eigensinn der Disziplinen
Es liegt in der Eigenart vermutlich jeglicher wissenschaftlicher Disziplin, einen bestimmten Forschungsgegenstand für die eigene Disziplin zu reklamieren. Für die Medizin oder die Oecotrophologie ist die Nahrungsaufnahme überwiegend ein körperlicher Vorgang. Die Psychologie möchte geltend machen, dass psychische Variablen eine entscheidende Rolle spielen können. Die Soziologie will die sozialen Dimensionen der Ernährung herausstellen. Sie wendet sich gegen Modelle, die entweder soziale Merkmale gar nicht berücksichtigen oder – wie das von ihr angeprangerte biokulturelle Modell – die sozialen und kulturellen Aspekte der Ernährung nur als Verlängerung oder soziale Transformation körperlicher Vorgänge begreifen (Barlösius 2011). Würde z. B. in allen menschlichen Kulturen morgens, mittags und abends nur Kuchen gegessen werden, dann würden die Vertreter des biokulturellen Modells behaupten, dass der Körper des Menschen mit ausschließlichem Kuchenkonsum ernährungsphysiologisch am besten versorgt sei.

Barlösius (2011; u. a. im Anschluss an Eder 1988, 103ff) unterscheidet unter Ausschließung des biokulturellen Ansatzes folgende soziologische Modelle. Alle versuchen zu erklären, warum in bestimmten Gesellschaften Nahrungstabus bestehen:
● Das rationalistische Modell: Repräsentant hierfür ist Harris (1988). Harris geht davon aus, dass sich für jedes Nahrungstabu rationale Gründe finden lassen: Tabus garantieren das nutritive Überleben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.
● Diesem Ansatz gegenüber steht das funktionalistische Modell, das Nahrungstabus auf die Stabilisierung einer bestehenden Ordnung zurückführt. Mit Nahrungstabus stärkt eine Gesellschaft ihre eigene Identität und grenzt sich von anderen Gesellschaften ab. Das funktionalistische Modell geht also davon aus, dass Tabus auf mehr fußen als nur auf einer rationalen Ökonomie. Tabus können eine Gesellschaft zusammenhalten.
● Das strukturalistische Modell setzt die Kultur vor die Natur. Denn die Natur muss zuerst symbolisch konstituiert werden, um sie begreifen zu können. Die Natur erschließt sich entsprechend dieses Modells nicht unmittelbar. Sie bedarf der Sprache, um zugänglich zu werden. Eine dieser Sprachen ist die Küche. Die Küche dient nach Lévi-Strauss (1976) zusätzlich dazu, die menschlichen Grundkategorien Natur und Kultur zu vermitteln. Der strukturalistische Ansatz untersucht außerdem die Küche, um herauszufinden, welche kognitive Ordnung eine Gesellschaft sich gibt. Der Strukturalismus sucht wie ein Detektiv in der Küche die Logik einer Gemeinschaft.
● Das Modell des Paradoxes der doppelten Zugehörigkeit: Der Mensch als Allesesser kann sich frei entscheiden, was er essen will. Das ist seine kulturelle Freiheit. Tiere könnten hingegen in der Regel nicht frei entscheiden, was sie essen wollen. Ihnen geben die Instinkte vor, was sie an Nahrung zu sich nehmen können. Menschen in ihrer kulturellen Freiheit könnten allerdings die Natur nicht vergessen. Würde sich ein Mensch nur von Kuchen ernähren, was seine Freiheit beinhaltet, würde er sich massiv mangelernähren. Die Natur fordert also ihre Rechte. Deshalb befindet sich der Mensch im Widerspruch oder Paradox zwischen Freiheit und Zwang.
unterschiedliche Interpretationen
Die von Barlösius angebotenen soziologischen Modelle der Ernährung widersprechen sich offenkundig. Es ist zu vermuten, dass die Diskussion nicht mit der Aussage beendet werden kann: Das eine Modell ist richtig, das andere Modell ist falsch. Vielmehr bleiben sie Interpretationsfolien oder Perspektiven, die je nach konkretem Forschungsgegenstand brauchbarer oder unbrauchbarer sind. Möglicherweise lassen sie sich auch parallel gebrauchen: Wenn die Kuh in Indien nicht geschlachtet werden darf, so mag dies im Sinne von Harris rationale Gründe haben, dieses Tabu kann im Sinne des funktionalistischen Modells auch identitätsstiftend sein.
1.10 Zusammenfassung des ersten Kapitels
Nicht nur physiologische Prozesse regulieren die Nahrungsaufnahme. Es reicht aber auch nicht aus, den physiologischen Steuerungen nur psychische Variablen hinzuzufügen. Vielmehr beeinflussen gesellschaftlich-kulturelle und soziale Faktoren das Essverhalten erheblich. Dies sollte in diesem Kapitel veranschaulicht werden. Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten des Essverhaltens sind dem Bewusstsein wenig zugänglich, da sie wie selbstverständlich existieren. So muss erst gründlich reflektiert werden, dass die derzeitige Versorgung mit Lebensmitteln in Anbetracht der Menschheitsgeschichte einem Paradies gleichkommt.
Auch der Streit am Mittagstisch, ob eine Fleischbeigabe überhaupt notwendig ist, hat historische Wurzeln. Am Mittagstisch treffen so die „barbarische“ Tradition (möglichst viel Fleisch essen) mit dem römisch-christlichen Erbe eventuell konflikthaft aufeinander. Ebenfalls kulturell überformt ist die Lebensmittelpräferenz. In unseren Breitengraden essen wir nicht gerne Heuschrecken, und wir verspeisen auch keine süßen kleinen Katzen.
Dass Lebensmittel nicht nur Mittel zum Zweck sind, um zu überleben, belegt die Nutzung von Speisen, um sich von anderen zu unterscheiden. Nahrungsaufnahme ist ein Mittel der sozialen Distinktion. Die Geschichte lehrt, dass Essen oder bestimmte Lebensmittel häufig dafür eingesetzt wurden, um Macht und Reichtum zu demonstrieren. Auch heute noch lässt sich am Verzehr bestimmter Lebensmittel der soziale Status ablesen. Mit finanziellen Mitteln aus Harz IV lassen sich Hummer und Trüffel schwerlich bezahlen.
Nicht einmal Essstörungen sind frei von historischen und kulturellen Einflüssen. In einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit gilt Wohlbeleibtheit als Ausdruck von Macht und Ansehen. In einer anderen Kultur in anderen Zeiten ist sie als Krankheit etikettiert und verpönt.
Im Alltagsbewusstsein ist es nicht deutlich verankert, wie stark soziale Faktoren die Gesundheit und die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Wer eine gute Ausbildung, ein gutes finanzielles Auskommen und einen interessanten Beruf hat, ist deutlich gesünder und lebt länger. Die Kluft zwischen arm und reich wird derzeit nicht kleiner, sondern größer. Die Qualität der Herkunftsfamilie und der elterliche Erziehungsstil spielen eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung von gesunder oder ungesunder Ernährungsweise. Was und wie gegessen wird, ist nicht nur individuelle Wahl oder reiner Zufall. Vielmehr repräsentieren und konstruieren die Art der Nahrungsaufnahme und die Küche eine soziale Ordnung.

1.11 Fragen zum ersten Kapitel
Überprüfen Sie Ihr Wissen!
1. Welche historischen Traditionen bestimmen die heutige Nahrungsaufnahme?
2. Welche Theorien bietet die Soziologie an, um Lebensmittelpräferenzen zu erklären?
3. Was bedeutet der Begriff der sozialen Distinktion?
4. Wie beeinflusst die Sozialisation das Essverhalten?
5. Wie werden die Definition und die Verbreitung von Essstörungen durch gesellschaftliche Einflüsse mitbestimmt?
2 Psyche, Soma und die Nahrungsaufnahme
Psychosomatik vs. Medizin
Die Frage: „Wie beeinflusst die Psyche die Nahrungsaufnahme“ wird nicht erst heute gestellt. Diese Frage rührt aus der Tradition der Psychosomatik, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Die als Gegenbewegung zur ausschließlich naturwissenschaftlichen Medizin konzipierte Psychosomatik bremste einerseits also eine Entwicklung, die Krankheit auf körperliche Prozesse reduzieren wollte. Sie lief und läuft andererseits Gefahr, in einen Pan-Psychologismus zu verfallen. Das meint, dass der Versuch unternommen wird, alle körperlichen Prozesse, so auch Krankheiten, auf die Psyche zurückzuführen.
bio-psycho-sozial
Der einfachen Frage nach dem Einfluss der Psyche auf den Körper wurde im 20. Jahrhundert die Frage hinzugefügt: Wie wirkt der Körper auf die Seele? Bezogen auf die Nahrungsaufnahme, bedeutet dies: Wie wirkt sich die Nahrungsaufnahme auf die Psyche aus? Die psychosomatische und die somatopsychische Fragestellung wurden anschließend in das umfassende biopsycho-soziale Gesundheits- und Krankheitsmodell integriert. Umfassend bedeutet hier, dass die sozialen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit mit einbezogen werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich neben der Psychosomatik die Verhaltensmedizin etabliert. Diese basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell, bearbeitet ähnliche Fragestellungen wie die Psychosomatik. Sie grenzt sich aber von der Psychosomatik ab, da sie nicht psychoanalytisch, sondern verhaltenstherapeutisch orientiert ist.
2.1 Die klassische Psychosomatik
Als sich im 19. Jahrhundert allmählich die naturwissenschaftliche Medizin durchsetzte, etablierte sich parallel dazu die Psychosomatik – als Gegenbewegung zur naturwissenschaftlichen Medizin. Gelang es der naturwissenschaftlichen Medizin immer besser, zahlreiche Erkrankungen als rein biologische Prozesse zu erforschen, so setzte sich die Psychosomatik davon ab, indem sie postulierte, dass körperliche Erkrankungen nicht nur durch körperliche Faktoren verursacht seien. Vielmehr könnten psychische Konflikte zu körperlichen Erkrankungen führen.

Der Terminus „Psychosomatik“ setzt sich aus zwei griechischen Begriffen zusammen: „Psyche“ ist die Seele und „Soma“ ist der Körper. Die klassische Psychosomatik geht von einem unilinearen Prozess aus: Aus seelischen Konflikten entstehen körperliche Symptome. Sie untersuchte nicht den umgekehrten Zusammenhang, dass nämlich auch aus körperlichen Erkrankungen psychische Probleme entstehen können. Oder allgemeiner noch, dass Psyche und Körper in komplexer Wechselwirkung zueinander stehen.
Freud und die Hysterie
Die Geschichte der Psychosomatik ist untrennbar mit dem Begründer der Psychoanalyse verbunden, mit Sigmund Freud. Er entwickelte die erste bedeutsame psychosomatische Theorie. Nachdem er viele Jahre lang naturwissenschaftlich gearbeitet hatte, konfrontierte er sich mit einer „Modeerkrankung“ des 19. Jahrhunderts: der Hysterie. Diese erschien ihm nicht naturwissenschaftlich erforschbar zu sein. Im Rahmen eines psychotherapeutischen Gesprächs versuchte er, die seelischen Ursachen der Hysterie zu erkunden. Psychologische Labor-experimente dienen dazu, Ursache-Wirkungs-Gefüge, also all-gemeine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, die alle Menschen betreffen, zu ergründen. Das psychotherapeutische Gespräch diente Freud dagegen dazu, die individuell spezifischen unbewussten Ursachen der Hysterie bewusst zu machen und zur Sprache zu bringen.

Der noch relativ junge Freud macht einen Ausflug in die Hohen Tauern, „um für eine Weile die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen.“ (Freud 1999a, 184) Dies sollte ihm nicht gelingen. Eine junge Frau, Katharina, bittet um seine Hilfe, da sie „nervenkrank“ sei. Nervenkrank bedeutet für sie Atemnot, Druck auf den Augen, ein schwerer und sausender Kopf, Schwindel, zusammengepresste Brust und zusammengepresster Hals, verbunden mit Todesangst. Katharina hat keine Ahnung, warum sie ihrer Meinung nach nervenkrank ist. In einem relativ kurzen Gespräch gelingt es den beiden, die unbewussten Motive der Nervenkrankheit bewusst zu machen. Eines davon ist der massive Ekel angesichts der versuchten sexuellen Übergriffe ihres Vaters. Aber warum hat Katharina diesen Ekel verdrängt? Eine Antwort könnte sein, dass ihr der Gedanke, dass ihr Vater ihr gegenüber sexuell übergriffig werden wollte, unerträglich war. Sie musste diesen Gedanken und die damit verbundenen Gefühle abwehren. Anstelle dieser Gefühle und Gedanken entstanden körperliche Beschwerden. Katharina war es sozusagen lieber, körperlich zu leiden, als mit unerträglichen Gefühlen und Gedanken konfrontiert zu sein.
Freud ging davon aus, dass der hysterischen Symptomatik entweder wie bei Katharina sexuelle Traumata oder unakzeptable Liebesregungen zugrunde liegen. In der Zeit Freuds war es z. B. für ein Hausmädchen moralisch unakzeptabel, sich in den Hausherrn zu verlieben. Da wir heute andere Moralvorstellungen haben, würde dieses Hausmädchen heutzutage vermutlich keine körperliche Symptomatik entwickeln.
sinnvolle Symptome
Die körperlichen Leiden bei der Hysterie sind für Freud alles andere als zufällig. Sie sind stets sinnvoll und damit auch dechiffrierbar. Man muss nur den verborgenen Sinn erkennen. Psychotherapeutische Arbeit erscheint in dieser Hinsicht dann als ein Indizienprozess. Anders als seine Nachfolger beschränkte Freud den Umschlag von seelischen in körperliche Symptome auf den sensomotorischen Bereich. So waren für Freud nur Störungen im Bereich der Sinne wie Taubheit, Blindheit oder der Motorik, wie z. B. Lähmungen, hysterische Symptome. Er ging außerdem davon aus, dass es zur Herausbildung hysterischer Symptome eines organischen Entgegenkommens bedarf, also einer bestimmten Organschwäche. Trotz dieser bleibt für Freud ein unilinearer Zusammenhang bestehen: Aus seelischen Konflikten erwachsen körperliche Symptome. Freud nannte dies Konversion.
Gespräch vs. Labor
Um es nochmals herauszustellen: Dieser Umschlag vom Psychischen ins Körperliche lässt sich im psychotherapeutischen Gespräch nur rekonstruieren. Er lässt sich alleine aus ethischen Gründen in einem Laborexperiment nicht erfassen. Angenommen, man wolle ungeachtet schwerwiegender ethischer Bedenken im Rahmen eines Laborexperiments Wirkungen sexueller Übergriffigkeit überprüfen, so könnten z. B. nur unmittelbare Wirkungen dokumentiert werden, aber nicht Reaktionen wie die von Katharina, die sich erst ein paar Tage später einstellen.
Einzigartigkeit
Freud hat zwar ein allgemeines Modell der Hysterie entwickelt. Zugleich hat er betont, dass jede Hysterie einzigartig ist – verbunden mit einer spezifischen Biografie und spezifischen Ursachen. Das bedeutet, dass jeder Hysteriekranke anders ist. Von hysterischen Symptomen lässt sich im Sinne Freuds allgemein auf sexuelle Ursachen oder Traumata schließen. Aber diese sind von Fall zu Fall völlig unterschiedlich.
Kasten 2.1: Tabus: Sex oder Essen?
Hätte Freud in unserer Zeit gelebt, dann hätte er sich vermutlich den „Modeerkrankungen“ unserer Zeit zugewandt, nämlich den Essstörungen. Zu Zeiten Freuds wurde die Sexualität eher problematisiert und tabuiert. Dies lässt sich etwa daran erkennen, dass Freud bestimmte sexuelle Praktiken ins Lateinische übersetzt. Diese Problematisierung und die im Vergleich zu heute wesentlich strengeren Moralvorstellungen begünstigten die starke Verbreitung der Hysterie. Heutzutage ist zumindest dem Anschein nach die Sexualität aus ihrem moralischen Korsett befreit. Nahezu alle Formen der Sexualität sind heute akzeptiert und gesellschaftsfähig. Dementsprechend ist die klassische Hysterie nahezu ausgestorben. Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa hingegen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dies liegt u. a. daran, dass heutzutage die Nahrungsaufnahme massiv problematisiert wird (Klotter 1990). Die Nahrungsaufnahme ist heute sozusagen verboten. Aufgrund des in den letzten hundert Jahren stetig sinkenden Normgewichts erscheint nun im Prinzip jede Form und jedes Quantum an Nahrungsaufnahme als eine Gefährdung des Einhaltens oder Erreichens des Normgewichts.

Die klassische psychosomatische Fragestellung, inwieweit Seelisches auf den Körper einwirkt, wird auch heute noch gestellt und erforscht. Macht et al. (2002) untersuchten in einem Experiment beispielsweise, ob unterschiedliche Emotionen den Konsum von Schokolade beeinflussen. Sie fanden heraus, dass Freude den Schokoladenkonsum ansteigen lässt, Ärger hingegen zu einem verminderten Verzehr führt. Festzuhalten ist, dass Emotionen das Essverhalten beeinflussen (Mensorio et al. 2016; Koski/Naukkarinen 2017).
2.2 Von der klassischen Psychosomatik zum bio-psycho-sozialen Modell
Krankheit entziffern
Freuds Psychosomatik: Freud entwickelte die erste psychosomatische Theorie, der zahlreiche weitere folgen sollten. Wie auch immer seine psychosomatische Theorie heute beurteilt wird, sie gab den Anstoß zu der offenbar faszinierenden Frage, ob körperliche Erkrankungen seelische Ursachen haben können. Mit Freud ist die Idee aufgekommen, den Körper zu dechiffrieren: Sage mir, welche körperliche Erkrankung Du hast, dann sage ich Dir, welche psychische Störung Du besitzt. So faszinierend diese Frage auch ist, so problematisch kann sie sein. Genauso wie eine rein naturwissenschaftliche Medizin Gefahr läuft, psychosoziale Faktoren hinsichtlich der Krankheitsentstehung und des Krankheitsverlaufs zu vernachlässigen, so kann ein psychosomatischer Ansatz davon bedroht sein, den Körper quasi zu vergessen. Die Eigengesetzlichkeit körperlicher Prozesse oder genetischer Einflüsse wird so außer Acht gelassen.

Wenn man z. B. Adipositas stets als psychisch verursacht ansieht, dann ignoriert man, dass in bestimmten Kulturen oder Ländern Adipositas das Schönheitsideal darstellt. Man ignoriert, dass Menschen, da sie das Essen genießen, übergewichtig werden. Man ignoriert, dass empirische Studien nicht hinreichend belegen können, dass adipöse Menschen generell psychisch stärker gestört sind als nicht adipöse (Sabbioni 2003). Und selbst wenn Adipositas psychisch verursacht sein sollte, dann gibt es nicht die eine psychische Ursache, die zu Adipositas führt, sondern die unterschiedlichsten in den unterschiedlichsten Kombinationen und Ausprägungen.
Weiterentwicklungen der Psychosomatik nach Freud: Groddeck erweiterte das Feld der Psychosomatik. Er ging davon aus, dass die Psyche nicht nur Auswirkungen auf den sensomotorischen Bereich haben könnte, sondern auf den gesamten Körper.
spezifischer Konflikt – spezifische Krankheit
Mitte des letzten Jahrhunderts stand die Psychosomatik im Zenit. Die damalige Psychosomatik verfolgte den Traum, eine bestimmte körperliche Erkrankung mit einer bestimmten Persönlichkeit oder mit einem bestimmten psychischen Konflikt in Zusammenhang zu bringen, anstatt die eben beschriebene Vielschichtigkeit der Ursachen anzuerkennen. Dieses In-Beziehung-Setzen von Persönlichkeit und Krankheit wurde damals durchaus auch mit empirischen Studien verfolgt. Es stützte sich also nicht nur auf psychotherapeutische Gespräche. Zwar gab es durchaus auch ermutigende Ergebnisse (Adler 2003), dennoch ist man heute, wie bereits erwähnt, davon abgekommen, einer bestimmten Erkrankung eine bestimmte Persönlichkeit zuzuweisen. Trotzdem sind die Wissensbestände aus der damaligen Zeit für das Heute keineswegs sinnlos. Sie können Interpretationsfolien für die klinische Arbeit bilden. Oder sie können Grundlage empirischer Forschung werden. Franz Alexanders Überlegungen zu Bluthochdruck, wonach bestehende aber nicht gezeigte Aggression zu einem erhöhten Blutdruck führt, hat die psychophysiologische Forschung zu Bluthochdruck stark inspiriert.

Diese Interpretationsfolien der Psychosomatik können aber auch verwirren. Um dies zu veranschaulichen, soll exemplarisch auf die psychosomatischen Ansätze zur Adipositas im deutschsprachigen Raum für den Zeitraum der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts eingegangen werden (Klotter 1990). Adipositas wird in Zusammenhang gebracht mit emotionaler Leere, Habgier, allgemeinem Versagen, Zurückhaltung, Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, Misstrauen, Infantilität, Beschlussunfähigkeit, Anlehnungsbedürftigkeit, Beeinflussbarkeit, Haltlosigkeit, einem gestörten Verhältnis zum Körper, Gehemmtheit, Schüchternheit, Frigidität, Impotenz. Die Mütter der Adipösen seien selbst psychisch gestört und verwöhnten das Kind zu sehr. Die Ehefrau könne in die Adipositas fliehen, um sich den Anforderungen der Ehe zu entziehen. Kurzerhand: Nahezu alles wird mit Adipositas in Verbindung gebracht. Derartige Psychosomatik ist dann für die klinische Arbeit nicht mehr hilfreich.
körperlicher Einfluss auf die Psyche
Somatopsychische Forschungsrichtung: Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Psychosomatik bestand darin, nicht mehr nur von den Auswirkungen der Psyche auf den Körper auszugehen, sondern auch die andere, entgegengesetzte Wirkungsrichtung zu berücksichtigen: die somatopsychische. Die von Mirsky ausgehende Forschungsrichtung (Adler 2003) legt darauf Wert, dass somatische Faktoren bei der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen beteiligt sind. Ein Ulcus-Leiden setzt demnach voraus, dass die Magensaftausschüttungen genetisch erhöht sind: „Prinzipiell ist zu bedenken, daß der hypersekretorische Typ von Geburt an mehr Hungerempfindungen haben wird; er wird als Säugling mehr schreien, gebieterischer, häufiger nach Nahrung verlangen.“ (Mitscherlich 1975, 34)