Chris Owen - Die Wiedergeburt

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»Sie meinen, Ihr Sohn ist ein Albino?«, fragte Mrs. Doyle, wobei ihr just in diesem Moment die Härte der Betonung auf »Albino« peinlich war.
»Ja, in seiner Hautfarbe ähnelt er mehr einem Weißen als einem Schwarzen.«
»Aber wo liegt da das Problem?«, fragte Mrs. Doyle nun sanft, ebenso im Versuch, den vorherigen Fauxpas wieder wettzumachen.
»Das alleine ist es nicht, auch wenn man ihm den Albinismus ansieht. Chris ist jetzt sechs Jahre alt und er hat sich diametral anders entwickelt als seine Schwester.«
»Meira, ich kenne sie. Ein wirklich liebes und aufgewecktes Kind.«
»Ja, das ist sie und sie freut sich auch sehr darüber, dass ihr Bruder jetzt ebenfalls in ihre Schule geht.«
»Na, dann ist doch alles perfekt«, lächelte Mrs. Doyle, hakte aber noch einmal nach: »Was verstehen Sie unter diametral anders?«
»Er liest«, flüsterte Sandra.
»Das ist doch toll. Etliche unserer Schüler kommen zu uns ins erste Schuljahr und haben bereits in der Vorschule etwas lesen und schreiben gelernt.«
»Sie verstehen nicht, Mrs. Doyle. Chris war nicht in der Vorschule und er liest auch nicht wie Kinder in seinem Alter. Die Bücher, die er … die er regelrecht verschlingt, sind Romane, Erwachsenenromane, Sachbücher. Er löst Rätselaufgaben wie Sudoku in wesentlich kürzerer Zeit, als ich es je schaffen könnte.«
Die Pause, die nun folgte, kam Sandra wie Stunden vor und erschwerte ihre Atmung. »Das ist in der Tat ungewöhnlich«, stimmte Mrs. Doyle zu. »Einige der Eltern sitzen vor mir in der Überzeugung, dass ihr Sohn oder ihre Tochter hochbegabt sei. Meist machen sie es an Themen wie Rechnen, Schreiben, Lesen fest. Aber ich muss zugeben, noch niemand hat mir je berichtet, dass sein Kind in diesem Alter Romane liest.«
»Es gibt immer ein erstes Mal«, entgegnete Sandra schüchtern lächelnd.
»Nun gut, Mrs. Owen. Machen Sie sich hierüber keine Gedanken. Ich bin überzeugt, dass, sollte sich eine derartige Begabung Ihres Sohnes bestätigen, wir hierfür die richtigen Mittel zur Verfügung haben und einen Weg finden, ihn, selbstverständlich in Rücksprache mit Ihnen, entsprechend zu fördern.«
In Rücksprache mit mir, dachte Sandra erleichtert. »Sie haben mich tatsächlich beruhigt, Mrs. Doyle. Mein Wunsch ist es, Chris so normal wie nur möglich zu erziehen. Das schließt die Schulbildung mit ein.«
»Dann sind wir uns ja einig. Gibt es sonst noch etwas, bei dem ich Ihnen behilflich sein kann?«
Die Unterhaltung mit der Direktorin Mrs. Doyle lag vier Wochen zurück, als Sandra neben ihrer Mutter in der großen Aula der Schule saß. Elias hatte seinen Rollstuhl, direkt neben dem Sitzplatz seiner Schwester, im Gang platziert. Die Aula, welche mit zahlreichen Stühlen gefüllt war, wurde von einer großen Bühne im vorderen Teil des Saals dominiert. Für Weihnachtsfeiern, Orchesteraufführungen, Musicals der Schüler und viele weitere Veranstaltungen war dieser theaterähnliche Raum bestens gerüstet. Heute stand die Einschulung der Neuzugänge auf der Tagesordnung. Während Eltern und Familienangehörige auf den hinteren Sitzreihen Platz fanden, saßen die jungen Schülerinnen und Schüler vorne, direkt vor der Bühne.
Sandra kannte bereits das »Aufnahmeritual«, welches kurz und knapp vonstattenging. Einer kurzen Ansprache durch die Direktorin, die sowohl die Erstklässler als auch deren Angehörige begrüßte, folgte die Zuordnung der Schüler zu den Klassenlehrern. Nach einer knappen Begrüßung der jeweiligen Lehrkraft wurden die zugeteilten Schüler namentlich aufgerufen. Sie sammelten sich an der Bühne, um anschließend ihren Lehrern zu den Klassenzimmern zu folgen.
Sandra schmunzelte erleichtert, als Chris und dreizehn weitere Schüler ihrer Lehrerin wie Entlein der Entenmutter hinterherliefen. Sein Äußeres stach aus der Gruppe hervor, doch Sandra konnte keinerlei negative Reaktion sowohl bei den Kindern als auch deren Eltern beobachten.
Chris stakste aufmerksam mit den Klassenkameraden der Lehrerin, Miss Rudolph, hinterher. Eine junge Lehrkraft, dachte er. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, also konnte sie noch nicht allzu lange als Lehrerin tätig sein.
Die Flure des Schulhauses waren angenehm gestaltet. Hie und da waren Glaskästen angebracht, die Werkarbeiten oder Bilder von Schülern höherer Jahrgangsstufen zur Schau stellten. Jede Ecke des Hauses war lichtdurchflutet, entweder durch große Fenster oder, wenn keine Möglichkeit bestand, mittels einer gefällig ausgewogenen Beleuchtung.
Nachdem sie durch ein imposantes Treppenhaus in den ersten Stock gelangt waren, folgten sie einem in Zitronengelb gestrichenen Flur, bis sie im rechten Flügel des Gebäudetrakts das Klassenzimmer erreichten. Schüchtern traten die Schüler hinter Miss Rudolph ins Zimmer. Direkt vor ihnen stand das Lehrerpult, dahinter eine gläserne Tafel, auf die sowohl geschrieben als auch über das in den Lehrertisch eingelassene Arbeitsfeld projiziert werden konnte.
Wie am Haupteingang der Schule und sämtlichen Nebeneingängen waren beidseitig im Türstock der Klassenzimmertür Scanner eingelassen. Diese zeigten unmittelbar beim Betreten metallische Objekte an. So wurde sichergestellt, dass keine Waffen oder ähnlich gefährliche Gegenstände durch die Schüler und Studenten mitgebracht wurden. Chris fielen seit Betreten des Schulgebäudes ebenfalls die im gesamten Areal angebrachten Sicherheitskameras auf. Auch wenn sie sehr klein ausfielen, mit bloßem Auge kaum sichtbar, so spürte er ihre Anwesenheit – besser: die prüfenden Blicke des Personals, die über riesige, im Sicherheitsbüro montierte Screens jeden Winkel des Schulgeländes minutiös beobachteten.
Im Jahre 2019, also vor drei Jahren, hatte der Senat der Vereinigten Staaten, unter Mehrheit der Republikaner, ein Gesetz verabschiedet, welches diese Sicherheitsvorkehrungen an allen Schulen des Landes vorschrieb, ebenso wie das unauffällige Tragen von Handfeuerwaffen der Lehrkräfte. Miss Rudolph trug ebenfalls solch eine Schusswaffe, klein, verdeckt, doch Chris war die minimale Ausbuchtung unter der Kostümjacke, die ihre zierliche, sportliche Figur betonte, nicht entgangen.
»So, jetzt sucht sich jeder einen Platz, auf dem er heute sitzen möchte. Wir werden dann in den nächsten Tagen und Wochen die Sitzordnung ändern, falls es notwendig wird. Husch, husch, setzt euch!« Miss Rudolph lächelte den Schülern aufmunternd zu, während sie eine widerspenstige Strähne ihres braunen, langen Haares aus der Stirn strich.
Die Zweiertische waren in drei Reihen zu je fünf Bänken aufgestellt. Flink fanden die Erstklässler einen Platz. Als Chris sich neben einen rothaarigen Jungen setzte, der neben Tausenden von Sommersprossen dicke, wulstige Lippen aufwies, rutschte dieser möglichst unauffällig auf den Stuhl des Nebentisches. Grinsend beäugte der untersetzte Junge Chris. Dann drehte er sich zu seinem neuen Banknachbarn, einem dünnen, dunkelhaarigen Jungen mit Nickelbrille, und flüsterte ihm etwas zu. Dieser schien allerdings wenig interessiert an dem, was der Rothaarige ihm mitzuteilen hatte. Mit gefalteten Händen saß die Nickelbrille nur da, abwartend, was als Nächstes kommen würde. Nachdem alle Kinder ihren Sitzplatz gefunden hatten, trat Ruhe ein.
Vierzehn Schüler, dachte Chris. Eine gerade Zahl. Irgendjemand musste also ebenfalls alleine sitzen. Vorsichtig blickte er um sich und entdeckte ein Mädchen, das direkt hinter ihm ebenso allein die Schulbank drückte. Schon in der Aula war es ihm aufgefallen. Das Mädchen trug weite Jeans, ein weißes T-Shirt, eine grüne Wollweste und Turnschuhe. Das brünette Haar, straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, betonte eine hohe Stirn. Das augenscheinlichste Merkmal jedoch war die korpulente, unübersehbar dicke Figur. Er spürte förmlich die Unsicherheit des Mädchens, als sich ihre Blicke fanden. Mit einem kurzen, aufmunternden Augenzwinkern forderte Chris es kopfnickend auf, einen Platz nach vorn, direkt neben ihn, zu wechseln. Schüchtern folgte das Mädchen seinem Angebot.
»Wunderbar.« Miss Rudolph klatschte einmal in die Hände, offensichtlich ihrer Freude Ausdruck verleihend, dass jedes der Kinder eigenständig einen Stuhl gefunden hatte. »Ich schlage vor, wir nutzen den Tag, um uns besser kennenzulernen. Für die ersten drei Jahre bin ich eure Lehrerin. Mein Name ist Daniela Rudolph und ihr seid meine erste Klasse, die ich auf diesem Weg begleiten darf. Meine Hobbys sind Lesen, Squash und den Urlaub verbringe ich am liebsten am Meer mit Tauchen. Jetzt kann jeder ein wenig von sich erzählen. Wir fangen am besten gleich mit dir an.« Damit lächelte sie aufmunternd einer Schülerin zu, die in der vordersten Reihe saß.
Das Gesicht des Mädchens verfärbte sich von zartrosa in ein tiefes Rot. »Mein … mein Name ist Jodi Smith. Ich habe zwei ältere Brüder, die ebenfalls an dieser Schule sind. Meine Hobbys sind Spielen und Faulenzen.« Die Klasse lachte über letztgenanntes Hobby, was dazu führte, dass Jodi wie ein Feuermelder leuchtete.
»Sehr schön, Jodi. Faulenzen ist auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.« Miss Rudolph strahlte sie an, was Jodi sichtlich erleichterte.
Nacheinander führte Schüler für Schüler aus, wie er hieß und was er am liebsten in seiner Freizeit unternahm. Dann war Rotschopf an der Reihe.
»Mein Name ist Scott Fitzgerald Hunt. Ich spiele Football und lerne Karate.« Dabei schlug er eine schwammig-fette Faust in die Handfläche der anderen Hand. »Und dann bin ich der beste Rennfahrer auf meiner Playstation.«
»Sehr schön«, versicherte Miss Rudolph und nickte, um Chris anzudeuten, dass er als Nächster an die Reihe kam.
»Chris Owen. Ich verbringe viel Zeit mit meiner Familie, meiner Schwester Meira, Mom, Elias und Grandma. Ich lese viel und gerne.«
Miss Rudolph blickte in die roten Augen des neuen Schülers und spürte die funkelnde Kraft, die diese ausstrahlten. »Du liest gerne? Was liest du denn am liebsten?« Sie war von der Direktorin aufmerksam gemacht worden, dass Chris, wenn man seiner Mutter Glauben schenkte, außergewöhnlich war.
Sich seiner Begabung bewusst, überlegte Chris einen Augenblick, bevor er sprach. Im Versuch, nichts Unnatürliches von sich zu geben, antwortete er korrekt, wenngleich ausweichend: »Alles, was sich mir so bietet.«
»Und was wäre das?« Miss Rudolph ließ nicht locker und Chris fühlte geradezu ihre Neugier.
»Bücher halt«, gab Chris lapidar zur Antwort, während er ein wenig verunsichert zu Scott Fitzgerald blickte, der ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte.
»Schön.« Miss Rudolph lächelte besänftigend, als sie zur letzten, für sie offenbar entscheidenden Frage ausholte. »Welches Buch hast du denn zuletzt gelesen?«
Jetzt gibt es kein Entrinnen, überlegte Chris. »Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings«, antwortete er wahrheitsgemäß.
Das Erstaunen hierüber spiegelte sich im Gesicht der Lehrerin wider. Sie hatte zwar von diesem Roman gehört, ihn aber nicht gelesen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dann kommen wir zu dir – du musst Alica sein. Hab ich recht?«
Die Banknachbarin von Chris lächelte, während sie zustimmend nickte. »Ich heiße Alica Adams und bin bald sieben. Meine Hobbys sind …«
»Hamburger«, flüsterte Scott Fitzgerald gerade so laut, dass es jeder in der Klasse hören konnte. Alle lachten des gemeinen Spaßes wegen, außer Chris, Miss Rudolph sowie Alica selbst.
»Scott Fitzgerald. Wie ich höre, hast du der Klasse etwas mitzuteilen. Allerdings ist es mir offenbar entgangen, dass ich dich um einen Beitrag gebeten habe.« Die knappe Ansage der Lehrerin saß. Mit eingezogenem Kopf war Scott nicht in der Lage, dem Blick von Miss Rudolph standzuhalten. Seine Gesichtsfarbe glich sich den roten Sommersprossen an. »Also, Alica, fang noch mal an!«
Doch Alica war außerstande, zu antworten. Zwei Tränen rollten ihr langsam über die feisten Wangen.
»Alica Adams. Sie heißt Alica Adams. Sie liebt es, morgens in den Garten zu gehen, dann, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen im Tau der Blätter spiegeln. Ihr bester Freund heißt Sammy, ein munterer Cocker Spaniel, der ebenfalls mit in den Garten kommt. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter helfen muss, malt sie gerne. Bunte Bilder von Regenbogen und hohen Bergen.«
Alica blickte verwundert und mit offenem Mund ihren Banknachbarn an.
»Danke, Chris. Wie ich sehe, kennt ihr beiden euch schon länger. Jetzt zu dir.« Miss Rudolph deutete auf den nächsten Schüler.
Nachdem sich alle der Klasse vorgestellt hatten, verteilte Miss Rudolph weiße Blätter mit Buntstiften und bat ihre Schützlinge, den jeweiligen Sitznachbarn zu malen. Gelächter erfüllte das Klassenzimmer, als die Kinder an der Entstehung von vierzehn Portraits arbeiteten.
Chris fand, dass Alica ihn gut getroffen hatte. Sie löste das Problem der Darstellung seiner hellen Haut, indem sie nur die Konturen mit schwarzem Bleistift malte. So hatte der Betrachter es selbst in der Hand, die Hautfarbe zu bestimmen. Neben einer komisch aussehenden Nase, die mehr einer Litfaßsäule glich, stachen die Augen aus dem Bild hervor. Sie waren im Gegensatz zu der mit schwarzem Stift gemalten restlichen Zeichnung durch rot leuchtende Kreise dargestellt.
Als Miss Rudolph durch die Bankreihen lief, blieb sie am Platz neben Chris stehen. Das, was sie auf dem Bogen des Schülers gezeichnet sah, verschlug ihr den Atem. Das war kein Gesicht, wie es ein Sechsjähriger malt! Vielmehr glich es einem flüchtigen Entwurf der großen Meister des 18. oder 19. Jahrhunderts. An dem gekonnten Strich erkannte man auf Anhieb Alica, auch wenn sie auf dem Portrait wenigstens zwanzig Pfund weniger zu wiegen schien.
»Erstaunlich, Chris. Du hast verschwiegen, dass Malen ebenfalls zu deinen Hobbys zählt.« Sie drehte sich zur Klasse, als ein klangvoller Gong die Pause einläutete. »Kinder, ich gehe vor und zeige euch den Park, den ihr in den Pausen aufsuchen könnt. Nehmt eure Brote, oder was ihr sonst zu essen dabeihabt, mit.«
Lautes Gepolter und Stimmengewirr hatte den Flur außerhalb des Klassenzimmers eingenommen. Dutzende Schüler aller Altersstufen drängten Richtung Erdgeschoss, hinaus aufs freie Gelände. Nachdem sie draußen angekommen waren, packte Chris seinen Müsliriegel aus und bot Alica an, zu teilen.
»Danke, aber ich habe selbst etwas mit.« Sie zog ein Knäckebrot aus der Tasche, welches mit einer Scheibe trocken aussehender Wurst belegt war. Eindringlich sah Alica Chris an. »Woher weißt du, dass ich morgens in den Garten gehe und wie mein Hund heißt?«
»Ich weiß es eben«, grinste Chris und schob den Rest des Riegels in den Mund.
»Du weißt es eben?«, fragte Alica.
Chris nickte.
»Egal, woher du es weißt, danke.« Alica lächelte.
Kapitel 33: Der Besuch
Washington, D. C., Oktober 2022
»Bitte, kommen Sie herein.«
»Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, Mrs. Owen.«
»Wenn ich über etwas verfüge, dann ist es Zeit, Miss Rudolph«, grinste Sandra. »Na ja, die Kinder rauben sie einem schon.«
»Sind sie denn hier?«, fragte Miss Rudolph.
»Nein; Marc, mein Schwager, ist mit ihnen zum Footballspiel der Redskins gefahren. Somit haben wir alle Zeit der Welt. Wollen wir Tee auf der Terrasse trinken? Es ist ja noch angenehm warm im Freien.«
Miss Rudolph folgte Sandra in den Garten und nachdem diese den Tee eingeschenkt hatte, machten es sich beide in den Gartenstühlen bequem.
»Unsere Direktorin, Mrs. Doyle, hatte mich bei der Einschulung schon auf Chris aufmerksam gemacht. Sie schilderte mir das Gespräch, welches sie mit Ihnen geführt hatte.«
Sandra schwieg, denn bis hierher waren ihr diese Fakten bekannt.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich heute hier bin.«
»Ich hoffe, Sie werden es mir gleich verraten«, antwortete Sandra.
»Mrs. Owen, zugegeben, ich bin noch eine junge Lehrkraft; also, was ich damit sagen will, ist: Mein Erfahrungsschatz Schüler betreffend hält sich gewiss in Grenzen, doch man braucht kein Hellseher zu sein, um die fantastische Entwicklung von Chris zu erkennen.«
»Sie sagen es«, erwiderte Sandra, noch immer im Dunkeln tappend, worauf Miss Rudolph hinauswollte.
»Chris ist definitiv seinen Altersgenossen um Jahre voraus.«
»Um wie viele Jahre?«, hakte Sandra nach.
»Genau das ist der Punkt, warum ich um das Gespräch gebeten habe. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Und eben das birgt eine enorme Gefahr.«
»Von welcher Gefahr sprechen Sie? Doch nicht von Chris ausgehend?«
»Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch! Meine Befürchtung ist, dass Chris in die falschen Hände gerät. Noch nie habe ich einen sechsjährigen Jungen mit derart herausragenden Fähigkeiten erlebt. Tatsächlich existieren Einrichtungen, welche speziell für Hochbegabte konzipiert sind. Doch ist es wirklich das, was Sie für Ihren Sohn wollen?«
»Ich bin mir nicht sicher, Miss Rudolph. Was hätte es für Konsequenzen?«
»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen, schockierende. Gleich einem Versuchskaninchen rauben wir ihm seine Jugend. Er mag zwar ausgesprochen intelligent sein, doch für die Entwicklung eines Kindes ist das soziale Umfeld der Familie und Freunde durch nichts anderes ersetzbar.«
»Sie glauben, man würde ihn mir wegnehmen?«
»Ich befürchte ja. Mein Gefühl sagt mir, Chris ist einzigartig. Es würde mich nicht wundern, wenn er mit sieben zu studieren beginnen würde.«
»Nun übertreiben Sie aber«, lächelte Sandra die Lehrerin an.
Doch Miss Rudolph blieb ernst. »Ich übertreibe nicht, Mrs. Owen.«
»Jetzt machen Sie mir Angst«, erwiderte Sandra.
»Dann sind wir schon zu zweit, doch ich habe einen Vorschlag.« Interessiert blickte Sandra zu Miss Rudolph. Diese beugte sich über den Tisch und flüsterte, als ob sie einer konspirativen Sitzung beiwohnte. »Was, wenn ich Chris in meine ganz besondere Obhut nehmen würde? Natürlich gemeinsam mit Ihnen. So wäre sichergestellt, dass wir allzeit die Kontrolle behalten und Chris nicht wie eine Laborratte behandelt wird.« Mit großen Augen blickte Miss Rudolph erwartungsvoll zu Sandra.
»Ich denke darüber nach und bespreche das mit der Familie. Im Besonderen mit Chris. Wie sähe denn Ihre – wie sagten Sie – Obhut aus?«
»Chris geht weiterhin in meine Klasse. Wir sollten mit ihm besprechen, dass er möglichst unauffällig bleibt. Um seine Talente kümmere ich mich in meiner Freizeit. Das würde bedeuten, dass wir uns häufiger sehen, da ich das nicht auf dem Schulgelände durchführen möchte. Am besten hier bei Ihnen. Wir haben Platz und Sie hätten ständig die Übersicht. Wie hört sich das für Sie an, Mrs. Owen?«
Sandra überlegte kurz. Dann sagte sie: »Sandra. Nennen Sie mich Sandra.«
Kapitel 34: Heimlichkeiten
Obwohl gerade einmal sechs Jahre alt, begriff Chris vom ersten Augenblick an, worauf seine Mutter und die Lehrerin Miss Rudolph abzielten. Daran, dass er in seinem Alter sowohl fließend schreiben als auch lesen konnte, fand er nichts Außergewöhnliches. Ebenso empfand er sein künstlerisches Geschick als Normalität, auch wenn er erkannte, dass gleichaltrige Kinder wesentlich unsicherer und unpräziser vorgingen. Für ihn schien die Welt auf den Kopf gestellt. Betrachtete man ihn als bemerkenswertes Genie, so empfand er vielmehr die Menschen um sich herum als … eben untalentierter.
»Ich soll mich im Unterricht nicht vordrängeln, sondern zurückhalten?«
»Ja, genau so gehen wir vor«, sagte Miss Rudolph. »Sicher langweilst du dich bei dem, was ich deinen Mitschülern als Unterrichtsstoff vermitteln werde. Doch du musst dieses Gefühl verbergen und so tun, als ob du wie die anderen Schritt für Schritt dazulernst.«
»Dann werde ich mich verstellen. Wird bestimmt spaßig«, lächelte Chris seine Mutter an.
»Nachmittags treffen wir uns viermal die Woche hier; dann werden wir dein vorhandenes Wissen und Können weiter vertiefen. Du erhältst sozusagen Privatunterricht von mir.«
»Und keiner darf davon erfahren?«
»Keiner«, schaltete sich jetzt Sandra ein. »Außer der Familie und Daniela weiß niemand Bescheid.«
Dass seine Mutter die Lehrerin mit Vornamen ansprach, war ihm bisher entgangen. Chris gefiel der Vorschlag. Mit den anderen Kindern aus der Schule zu spielen, langweilte ihn. Ausgenommen Meira. Seine Schwester betrachtete ihn mit Stolz und er fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die sie ihm entgegenbrachte, geschmeichelt. Stundenlang erzählte er ihr Geschichten, die er zuvor gelesen hatte. Wenn es indes darum ging, über diese Geschichten und deren Inhalte nachzudenken, sich darüber zu unterhalten, verebbte das Interesse der Schwester. Noch war sie nicht so weit, seinen Überlegungen zu folgen. Sicher würde es mit Miss Rudolph spannend werden. Zweifellos würde sie ihm dabei helfen können, Themen, an denen er scheiterte – was ihn teilweise grimmig stimmte –, so zu erklären, dass auch er sie verstand. Würde Miss Rudolph auch das andere, das »Ding«, deuten können? War sie in der Lage, ihm das in seinem Kopf zu erklären? Sollte er sich ihr überhaupt anvertrauen? Im Internet hatte er heimlich über Hannibal Lecter gelesen. War er bei dem, was sich ab und an in seinem Kopf abspielte, ebenso verrückt wie Hannibal? Würde man ihn auch wegsperren, sollte er sein Geheimnis preisgeben?
Kapitel 35. Die Pause
Chris fand sich in der Rolle des »durchschnittlichen« Erstklässlers sehr gut zurecht und bewies schauspielerisches Talent – ganz zum Wohlgefallen seiner Lehrerin, die ebenfalls zur perfekten Inszenierung beitrug. Einzig Alica Adams, seine Banknachbarin, schien das Theaterspiel zu durchschauen. Zumindest vermutete Chris dies, da sie ihn hin und wieder seltsam wissend betrachtete. Alica war auch die Einzige in der Schule, mit der Chris intensiver in Kontakt kam. Ebenso freundete sich Meira mit Alica an, da sie die Pausen häufig zu dritt im Park des Schulgeländes verbrachten.
Wie in vielen Schulklassen, gab es auch in Chris’ Klasse einen Pausenclown. Daneben einen, der sich von allen anderen Respekt erkämpfte und vor dem jeder in Habachtstellung ging. Der Rest der Klasse gruppierte sich entweder zu den Außenseitern oder zu den eher unauffälligen Mitläufern. Wie sich herausstellte, nahm Tom ideal die Rolle des Kaspers ein. Keine Minute verging, in der er nicht versuchte, durch – zugegebenermaßen dämliche Kommentare – im Mittelpunkt zu stehen.
Außenseiter waren, wie nicht anders zu erwarten, Chris und seine Banknachbarin Alica. Schnell hatten beide Spitznamen weg, ärgerlich, doch unausweichlich. »Spook« oder »Spooky« spielte auf die blasse Gestalt wie auch auf Chris’ rote Augen an. Dieser konnte damit leben. Härter traf es Alica, wenn ihr »Miss Piggy« hinterhergerufen wurde. Sie zuckte jedes Mal zusammen und litt sichtlich unter dem Spott der Klassenkameraden.
Die große Ausnahme war »Hulk«, der den Namen für sich selbst gewählt hatte und darauf bestand, eben so angesprochen zu werden. »Hulk« war niemand anderes als Scott Fitzgerald, der den Respekt aller Mitschüler in nur wenigen Tagen erlangt hatte. Ein jeder, der in seinen Fokus geriet, wurde mehr oder weniger drangsaliert. Das Eigentum der Klassenkameraden zählte für »Hulk« nicht. Stifte, Pausenbrote – wenn er etwas wollte, griff er danach. Wehrte sich der- oder diejenige, gab’s Prügel.
Tom, der Clown, und Scott Fitzgerald hingen meistens gemeinsam ab. Während »Hulk« sich als König aufspielte, erfüllte Tom die Rolle des Hofnarren.
Im wiesengrünen Park des Schulgeländes teilten sich die Schüler der unterschiedlichen Altersstufen in den Pausen ihre Reviere ein. So hielten sich die unteren Jahrgangsstufen in der Nähe des Schulgebäudes auf, während die älteren weiter entfernt ihre Ruhe suchten, um unter sich zu sein.
»Du bist dran«, lachte Meira und sah zu Alica, die neben ihr unter einer ausladenden Ulme saß.
Alica wirkte etwas verlegen. Noch immer begriff sie die Regeln des neuen Kartenspiels, welches Chris mitgebracht hatte, nicht so recht. Daher lugte dieser ihr über die Schulter und tippte auf jene Spielkarte, die dem bunten Bild nach am sinnvollsten zu legen war.
»Du sollst ihr nicht immer helfen«, protestierte Meira, aber am Grinsen der beiden erkannte sie, dass ihr Einwand wenig Gehör fand.





