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»Keinen Schritt weiter!« Isabellas Stimme war nahe am Kippen. »Du willst mir doch nicht den Heiligen Abend versauen.«
»Sehr witzig. Mein Kleid ist bereits total versaut. Du weißt, ich hasse es, wenn du mich belügst. Was ist in dem Rucksack? Woher hast du ihn?«
»Ich hab’s dir doch gesagt, Geschenke für dich und Josef. Sobald er da ist, werden wir essen und nachher machen wir die Bescherung.«
Überraschenderweise begnügte sich Brigit mit dieser Erklärung, ging ins Badezimmer und versuchte, die Flecken aus ihrem Kleid zu entfernen.
»Hast du noch das schwarze Etuikleid, das ich dir letztes Jahr geschenkt habe? Ich muss mich umziehen«, rief sie. »So kann ich deinem Herrn Anwalt nicht gegenübertreten.«
Isabella ging rasch ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank. Die silberfarbenen Turnschuhe fielen heraus. Sie stopfte die monströsen Latschen wieder hinein. Fieberhaft suchte sie das Kleid. Im Dunkeln war es nicht so leicht zu finden, denn fast alle Klamotten in ihrem Schrank waren schwarz.
»Warum hast du kein Licht im Schlafzimmer?« Brigit stand plötzlich knapp hinter ihr.
»Die Birne ist kaputt.«
»Mein Gott, du bist wirklich eine Chaotin! Eine neue Glühbirne wirst du dir wohl noch leisten können.«
»Momentan habe ich andere Sorgen«, murmelte Isabella.
»Was sind denn das für tolle Turnschuhe? Die hast du sicher wieder irgendwo geklaut, oder?«
Die Straßenbeleuchtung und der Lichtschein aus dem Wohnzimmer reichten aus, um die silbern leuchtenden Schuhe unten im Schrank hervorblitzen zu sehen.
»Die sind für Josef, habe ich letztens in einem Outlet-Center mitgehen lassen. – Hier ist dein Kleid. Hoffentlich passt es dir noch.«
Obwohl Isabella am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand, konnte sie sich diese boshafte Bemerkung nicht verkneifen.
Brigit ignorierte die Anspielung auf ihr Übergewicht, zog sich mit dem schwarzen Kleid ins Badezimmer zurück.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Isabella das Sofa notdürftig gereinigt und eine alte Decke drübergelegt.
Brigit bevorzugte nun verständlicherweise den Vintage-Sessel aus den Fünfzigerjahren, den Isabella erst vor kurzem bei einem Altwarenhändler geklaut hatte, der leichtsinnigerweise einige seiner Möbel auf den Gehsteig gestellt hatte.
In dem schwarzen Cocktailkleid bekam Brigit kaum Luft. Ihr Anblick erinnerte Isabella an eine verbrannte Blutwurst. Sie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken.
»Was findest du so lustig?«, fuhr Brigit sie an.
»Nichts, nichts, ich finde, du siehst in deinem Kleid sehr sexy aus, und habe mir gerade vorgestellt, wie Philip dich lüstern anstarren wird.«
»Du weißt, er ist nicht mein Typ«, beteuerte Brigit. Sie wirkte jedoch sogleich etwas entspannter.
Als Isabella den Lachs und die beiden Döschen mit Ersatzkaviar und das Baguette ins Wohnzimmer brachte, läutete es wieder.
»Philip!«
Isabella empfing ihren alten Freund mit einer stürmischen Umarmung. Noch nie war sie so froh gewesen, ihn zu sehen. Er würde Brigit auf andere Gedanken bringen und sie daran hindern, weiter herumzuschnüffeln.
Philip brachte außer dem Heizöl einen Plastikweihnachtsbaum von einem chinesischen Billig-Blumenladen und einen Strauß roter Rosen für sie mit.
Der Anwalt sah trotz seines Alters heute verdammt gut aus, hatte sich für den Heiligen Abend richtig was angetan, war rasiert, beim Friseur gewesen und hatte einen halbwegs passablen dunkelblauen Anzug an. Zu seinem altrosa Hemd trug er eine witzige Donald-Duck-Krawatte. Außerdem war er ausnahmsweise einmal nüchtern. Keine wässrigen Augen, keine unklare Artikulation …
Brigit machte sich sofort an ihn ran, tätschelte seine von Altersflecken übersäten Hände und redete auf ihn ein.
Isabella war überrascht, dass sie plötzlich so etwas wie Eifersucht verspürte.
Sie sehnte sich nach einem zweiten Joint und ging ins Schlafzimmer, während die beiden miteinander schäkerten.
Erschöpft ließ sie sich auf das Ehebett ihrer Eltern fallen, das jetzt ihr Bett war und unter dem sich ein toter Mann befand. Sie nahm ein Sackerl aus Caspars Rucksack, drehte sich noch einen Joint. Nach dem ersten Zug bereits fühlte sie sich ruhiger. Ihre Nervosität, ihre Schuldgefühle und ihre trüben Gedanken verflüchtigten sich mit jedem weiteren Zug. Wie in einem dichten Bühnennebel sah sie die Szene, in der sie Caspar erschlagen hatte, vor ihren Augen. Schemenhaft, ja beinahe unwirklich erschien ihr plötzlich alles. Es war nur ein böser Traum, dachte sie. Die Realität holte sie wieder ein, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Philip blickte sie verzweifelt an, während Brigit seine Oberschenkel streichelte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Isabella legte »Born to Be Wild« von den Steppenwolf auf und sang mit. Ihre Stimme war zwar nicht mehr die beste, aber für diesen Song reichte sie.
Philip schaute sie bewundernd an, machte sich von Brigit los, erhob sich und forderte Isabella auf, mit ihm zu tanzen.
Während sich die beiden in immer wilder werdenden Verrenkungen der Musik hingaben, saß Brigit in ihrem Blutwurst-Kleid mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Vintage-Sessel, stopfte Lachs- und Kaviarbrötchen in sich hinein und schaute ihnen missmutig zu. Plötzlich sprang sie auf und ging ins Schlafzimmer.
Isabella hatte beim Tanzen die Augen geschlossen und bemerkte das Verschwinden ihrer Freundin zu spät.
»Was treibst du da?«, schrie sie, als Brigit ihnen den geöffneten Rucksack vor die Füße warf und sich die wertvollen Säckchen am abgetretenen Parkettboden ausbreiteten.
»Du rauschgiftsüchtiges Luder! Mir reicht’s! Ich werde jetzt die Polizei rufen. Du bist eine Gefahr für die ganze Menschheit. Verscherbelst Drogen an Schulkinder, nehme ich an …« Brigits Gesicht war hochrot angelaufen, ihre glasigen Augen funkelten wie die Sterne am weihnachtlichen Himmel.
Isabella und Philip starrten sie sprachlos an.
Isabella erholte sich als Erste von dem Schrecken. »Komm, beruhige dich. Das Zeug ist nur für mich bestimmt. Eigenbedarf, verstehst du?«
»Nein, ich verstehe nicht!«, schrie Brigit und griff nach ihrem Handy.
Die zweite Sektflasche, die Brigit mitgebracht hatte, stand ungeöffnet auf dem Couchtisch.
Lächelnd löste sich Isabella aus Philips Umarmung, griff nach der Flasche und schlug sie ihrer Freundin über den Schädel.
Entsetzt schaute Philip abwechselnd Isabella und Brigit an, der das prickelnde Gesöff übers Gesicht lief, als sie wie in Zeitlupe zu Boden sank.
Sektflaschen sind weniger effektvoll als Espressomaschinen, dachte Isabella beim Anblick ihrer stöhnenden Freundin, die jetzt zappelnd auf ihrem abgetretenen Parkettboden lag.
»Magst du einen Joint«, fragte sie Philip.
Langsam wich das Entsetzen aus seinen Augen. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Gerne«, sagte er. »Aber sollten wir nicht die Rettung rufen? Sie muss ins Krankenhaus.«
»Am Heiligen Abend? Da sind auch in den Spitälern alle besoffen. Sie wollte ohnehin nicht alt werden, hat andauernd davon geredet, sich umzubringen. Im Grunde habe ich ihr einen Gefallen getan. Lassen wir sie in Schönheit sterben. Obwohl, schön fand ich Brigit noch nie. Oder bist du anderer Meinung?«
Philip beantwortete diese alles entscheidende Frage in ihrem Sinne: »Sie war nie mein Typ, ist viel zu fett.«
»Anscheinend will sie aber noch nicht sterben. Sollen wir ihr eine Überdosis verpassen? Ich habe genügend Stoff …«
»Keine schlechte Idee! Sie bekommt den goldenen Schuss verpasst und dann werfen wir sie in den Wienfluss. Eine einsame alte Frau mehr, die Weihnachten nicht überlebt hat.«
Isabella liebte seinen Sarkasmus.
»Ich habe ihren Wohnungsschlüssel. Wir brauchen nichts zu riskieren, schleppen sie einfach zurück in ihre Wohnung, legen sie auf die Couch und schalten den Fernseher ein. Es wird Tage dauern, bis man sie findet. Ich befürchte, dass sie nicht viel Bargeld zuhause herumliegen hat, aber einige ihrer Antiquitäten oder ihren Schmuck könnten wir sicher verscherbeln.«
»Du bist unglaublich!« Philip nahm sie in die Arme und küsste sie.
Isabella machte sich von ihm los. »Hilf mir lieber, sie in den Sessel zu setzen, damit wir ihren Arm leichter abbinden können …«
»Okay, okay«, unterbrach Philip sie und fasste Brigit unter den Achseln.
»Verdammt, ist die schwer!«
Brigits rechte Hand traf seine Wange. Erschrocken ließ er sie wieder zu Boden gleiten.
»Mach schon, Philip! Ich will nicht, dass sie so lange leiden muss. Schließlich ist sie meine beste Freundin«, feuerte Isabella ihn an.
Er schaute ziemlich unsicher drein und rieb sich seine gerötete Wange.
Isabella blieb nichts anderes übrig, als selbst mitanzufassen. Zu zweit schafften sie es schließlich, die halbtote Brigit in den Vintage-Stuhl zu verfrachten.
»Übrigens werden wir beide demnächst richtig Kohle machen. Ich habe heute wertvolle Gaben von einem der Heiligen Drei Könige bekommen.« Sie deutete auf die Säckchen am Boden.
Philip war es nicht vergönnt, sich lange an dem Anblick all dieser Schätze zu erfreuen. Isabella reichte ihm sogleich ein Päckchen Heroin und warf einen Blick auf Brigit, die leise vor sich hin röchelte. Das enge schwarze Kleid war hochgerutscht, entblößte ihre dicken Schenkel. Ihre Arme hingen schlapp an den Sessellehnen herab.
»Bitte erledige du das, ich kann nicht mehr!«, seufzte Isabella. »Die Spritze und alles andere, was du benötigst, findest du in der untersten Schublade meines Küchenkastls.«
Während Philip ihre Freundin ins Jenseits beförderte, drehte sie sich einen dritten Joint.
Danach zeigte sie ihm den toten Schwarzen unter ihrem Bett.
»Leider müssen wir noch eine zweite Leiche entsorgen, aber das wird dir hoffentlich nichts ausmachen. Am besten wir bringen ihn auch in ihre Wohnung. Damit würden wir den Bullen die Arbeit erleichtern. Eine tödliche Auseinandersetzung zwischen einem Dealer und einer seiner Kundinnen … Die alte Kaffeemaschine und die Scherben von der zweiten Sektflasche müssen wir auch mitnehmen. Wir dürfen jetzt ja keinen Fehler machen«, nuschelte sie. Die Haschzigarette hing lässig in ihrem linken Mundwinkel.
»Don’t bogart that joint my friend«, sagte Philip und griff nach dem dicken Glimmstängel.
Felix
Das Fest der Liebe
»Rums!! – Da geht die Pfeife los
Mit Getöse, schrecklich groß.
Kaffeetopf und Wasserglas,
Tobakdose, Tintenfaß,
Ofen, Tisch und Sorgensitz –
Alles fliegt im Pulverblitz. –«
Wilhelm Busch
Mama ist eine frustrierte alternative Hausfrau, Papa ein arroganter oberflächlicher Werbefuzzi. Sie haben erst spät geheiratet. Mama war schon ziemlich alt, als sie mit mir schwanger wurde, und Felix war dann sowieso ein Unfall in der Menopause.
Meine Oma ist eine dumme, fette, alte Schachtel, mein Opa ein unverbesserlicher Hitlerjunge. Aber das größte Scheusal der Familie ist mein kleiner Bruder Felix. Nicht einmal die schlimmsten meiner Feinde sind auch nur halb so ekelhaft wie er.
Sie nennen mich Joe. Ich bin vor kurzem vierzehn geworden und vom Gesetz her gezwungen, noch ein paar Jährchen in diesem Irrenhaus auszuharren.
Vor einem Jahr sind wir in diese alte Bruchbude im Wienerwald gezogen. »Herrschaftsvilla im Grünen, absolute Ruhelage.« Das Dach war undicht, die Gasheizung defekt. Alle Leitungen und Installationen sind schrottreif. In der Küche behelfen wir uns mit einem »umweltfreundlichen« Kohleofen. Wohn- und Schlafzimmer werden mit weniger umweltfreundlichen elektrischen Radiatoren beheizt. Da es kein ordentliches Badezimmer gegeben hat, haben sie ein Badehäuschen im Garten errichten lassen. Später soll noch ein Pool dazukommen.
Papa findet dieses Chaos sehr romantisch. Er ist fast nie zu Hause. Normalerweise verlässt er uns um sieben Uhr morgens und kehrt erst knapp vor Mitternacht zurück. Gerade vor Weihnachten macht er jede Menge Überstunden, und abends muss er sich dann mit seinen Mitarbeiterinnen in den Bars der Innenstadt entspannen. Zumindest hat Mama das mal behauptet.
Ich vermisse unsere Stadtwohnung. Wir leben hier völlig isoliert. Manchmal komme ich mir wie in einem Gefängnis vor. Die Fenster im Erdgeschoß sind vergittert und das nächste Haus ist kilometerweit entfernt.
Seit wir im Grünen wohnen, hat Mama ihre Liebe zur Natur entdeckt. Sie ist eine sehr anpassungsfähige Frau. Vor allem passt sie sich den Launen meines Herrn Papa an. Vielleicht hat er sie auch deswegen geheiratet.
»Wir sollten endlich naturverbundener leben und unsere Ernährung umstellen …«, hatte Papa gemeint.
Von einem Tag auf den anderen begeisterte sich Mama für gesunde Küche und biologisch-dynamischen Gartenbau.
»Joe, du hast heute Morgen dein Glas frischgepressten Karottensaft schon wieder nicht getrunken!«
Dem Philodendron bekommt das Säftchen viel besser. Ich befürchte nur, dass demnächst süße kleine gelbe Rüben aus der Hydrokultur sprießen werden.
Aber verglichen damit, was sich seit vier Wochen bei uns abspielt, ist ihr Bio-Tick völlig harmlos. Seit Anfang Dezember ist der Teufel los. Nach den Aktivitäten meiner Mama kann man die Uhr richten. Exakt am Ersten begann ihre manische Phase.
Papa hat ihr vor einigen Jahren mit dem Computer einen Weihnachtsvorbereitungs-Fahrplan erstellt. Sie hält sich jedoch nie daran. Jedes Jahr macht sie einen neuen Plan und stößt ihn nach spätestens drei Tagen wieder um. Mit dem Weihnachtsputz ist sie noch immer nicht fertig, obwohl sie täglich mit dem Staubsauger treppauf, treppab rennt. Und die Geschenke wollte sie bereits in der ersten Adventwoche besorgen. Angeblich sind da die Geschäfte nicht so voll, die Verkäuferinnen freundlicher und die Sachen billiger als kurz vor den Feiertagen. Ich verrate kein großes Geheimnis, wenn ich jetzt, am Nachmittag des Heiligen Abend, ganz nüchtern feststelle, dass sie für Papa noch immer kein Geschenk gekauft hat. Ich habe gestern, als sie in ihrer Meditationsstunde war, die Schlafzimmerkästen inspiziert. Sie versteckt die Geschenke jedes Jahr in den Schränken im Schlafzimmer. Eingepackt hat sie auch noch nichts. Vielleicht gibt es heuer Geschenke ohne Verpackung? Die Mülltrennung funktioniert hier draußen ohnehin nicht.
Für mich hat sie einen rosa Skianzug erstanden. Ich hasse Rosa, und Skifahren hasse ich auch. Sport ist Mord! Werde wohl kurz vor dem Schulskikurs an einer schweren Grippe erkranken müssen.
Wozu mache ich mir jetzt schon Sorgen? Der Skikurs ist erst in der letzten Jännerwoche, und bis dahin werde ich hoffentlich alle Sorgen los sein.
Auf ihre Meditationsstunde will Mama selbst im vorweihnachtlichen Totalstress nicht verzichten. Die Feldenkrais-Seminare und die Jazzgymnastik oder den Öko-Kochkurs lässt sie schon mal sausen, aber ohne ihre Meditationsstunde würde sie garantiert zusammenbrechen. Papa macht hin und wieder blöde Bemerkungen über ihren hübschen, jungen Meditationstrainer. Er sollte besser den Mund halte, sonst erzähle ich der Mama, dass ich ihn am dritten Adventsonntag mit seiner Assistentin im Kino gesehen habe – händchenhaltend. Sie saßen nur drei Reihen vor mir. Wenn ich sagen würde, sie benahmen sich wie pubertierende Vierzehnjährige, so wäre das eine schwere Beleidigung meiner Altersgenossen.
Mein Herr Papa macht zu Hause keinen Handgriff. Sein Job in der Werbebranche nimmt ihn sehr mit. Nach seiner Alkoholfahne beim Frühstück zu schließen, torkelt er von einer Weihnachtsfeier zur anderen.
Mama erwartet, dass wenigstens wir ihr helfen.
Im ganzen Haus riecht es verdächtig nach Weihnachten. Die große Tanne im Wohnzimmer reicht fast bis an die Zimmerdecke. Ein schöner, gerade gewachsener Baum mit kräftigen Zweigen. Ich gieße heuer die Christbaumkerzen selbst. Natürlich sind die Kerzen aus echtem Bienenwachs.
Mama blockiert mit Vollkornkeksen und Sesamkipferln das Backrohr. Kein Mensch, außer vielleicht Allesfresser Felix, mag ihre staubtrockene Bäckerei. Oma wird sowieso wieder kiloweise Vanillekipferl und ordinäre Weihnachtskekse anschleppen – gebacken von ihrer Putzfrau. Oma bäckt längst nicht mehr selbst. Papa und Felix tragen alljährlich harte Kämpfe um Omas Putzfrauenkekse aus. Ich werde mich standhaft weigern, dieses köstliche Backwerk auch nur anzurühren. Essen ist nicht nur Omas Lieblingsbeschäftigung, sie versucht auch alle anderen zum Essen zu zwingen.
»Du musst ordentlich essen, Joe. Männer mögen keine Bohnenstangen.« Und ich mag keine Männer, Frauen übrigens auch nicht.
In letzter Zeit bin ich ziemlich in die Höhe geschossen. Auf Mama kann ich bereits hinunterschauen, und zu Papas Scheitel fehlen mir nur mehr wenige Zentimeter. Ich habe aber kaum zugenommen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich mit meinem Äußeren halbwegs zufrieden. Opa kann ruhig seine Biafra-Kinder-Witze reißen.
Mein scheinheiliger kleiner Bruder hilft heuer bei den Weihnachtsvorbereitungen fleißig mit. Er frisst die warmen Kekse vom Blech, obwohl er ohnehin zu fett ist, und hält Mama auf Trab, indem er ständig ein und aus rennt. Der Regen hat unseren Garten in ein Schlammbad verwandelt. Sie kommt mit dem Aufwaschen im Haus nicht mehr nach. Außerdem sorgt er mit meinem alten Ghettoblaster für die passende besinnliche Vorweihnachtsstimmung. Zum Glück spielt er wenigstens meine CDs. Nichts gegen Justin Timberlake, aber Amy Winehouse und vor allem Die Ärzte höre ich lieber. Und wenn ihr Schnurzelchen Felix sie spielt, regt sich Mama nicht über diesen scheußlichen Krach auf. Sie steht nach wie vor auf die »99 Luftballons« von Nena. Igitt, igitt!
Ich sperre mich nach der Schule immer in Papas Hobbykeller ein, um vor meinem unausstehlichen Bruderherz sicher zu sein. Der Keller ist nicht beheizbar. Nicht, dass dies einen besonders großen Unterschied machen würde. Auch die Zimmertemperaturen liegen im Schnitt nicht über siebzehn Grad. Mama behauptet, in kühlen Räumen würde man einen kühlen Kopf behalten.
Ich wärme mich im Keller mit Red Bulls und Papas Zigaretten. Seit sich Mama für gesundes Leben entschieden hat, darf er nur mehr im Keller rauchen.
Ich bin für den Aufputz des Christbaums zuständig. Und zum ersten Mal macht mir dieser Job richtig Spaß. Ärgerte sich Mama letztes Jahr noch, weil ich bis zum Morgen des Heiligen Abends keinen Finger gerührt habe, so verliert sie heuer kein Wort darüber – natürlich auch kein Wort der Anerkennung –, wenn ich bis Mitternacht frierend im Hobbykeller hocke und meiner Kreativität freien Lauf lasse.
Anfangs kontrollierte sie, misstrauisch, wie sie nun einmal ist, ob ich mich tatsächlich mit dem Baumschmuck beschäftigte. Dann sprach ich ein ernstes Wort mit Papa. Er gab mir den Schlüssel für sein heiliges Reich und ersuchte die Mama auf seine charmante Art, mich bei der Arbeit nicht mehr zu stören.
»Lass Joe in Frieden. Sei froh, dass das Kind endlich mal etwas Sinnvolles macht.«
Obwohl mir auch Papas Geschwätz gehörig auf den Wecker geht, kann ich mit ihm doch besser als mit Mama. Eigentlich kann ich mit ihr überhaupt nicht. Zwischen uns liegen Welten. Obwohl sie »erst« Anfang fünfzig ist, scheint sie genauso alt zu sein wie ihre Eltern. Wahrscheinlich ist sie schon als alte Frau auf die Welt gekommen. Dabei sieht sie ganz normal aus, ich meine, wie eine Fünfzigjährige eben aussieht. In letzter Zeit kleidet sie sich jedoch ein bisschen komisch. Anscheinend holt sie, mit etwas Verspätung, die Hippiezeit nach. Früher, als Papa noch mit Zöpfchen, Schnurrbart und ausgeleiertem T-Shirt herumlief, sah sie eher aus wie seine Mutter. Seit er seine Liebe zu Designerklamotten, Kurzhaarfrisur und Dreitagebart entdeckt hat, trägt sie weite, lange Röcke und geblümte Blusen, färbt ihr ursprünglich dunkelbraunes Haar mit Henna rot und lässt sich alle drei Monate von einem Promi-Coiffeur im ersten Bezirk einen Afrolook verpassen. Angeblich hat sich der gute Karli gestern geweigert, ihr altmodisches Outfit aufzufrischen. Er ist eben sehr bedacht auf seinen guten Ruf. Mama kam mit dezenten graublonden Strähnen heim und war schwer deprimiert. Mich hat sie übrigens auch einmal zu diesem Karli geschickt. Einmal und nie wieder! Die Antipathie war gegenseitig. Seit ich selbst für mein Aussehen verantwortlich bin, trage ich mein Haar extrem kurz.
Ehrlich gesagt bin ich aber heute ebenso frustriert und nervös wie Mama. Ich werde es wohl bis neunzehn Uhr nicht mehr schaffen. Zwei ganze Stunden habe ich noch Zeit. Der Countdown läuft unerbittlich.
Seit Tagen versuche ich die Weihnachtskrippe zu präparieren. Gerade habe ich das rote Lämpchen, das eigentlich zum Lagerfeuer der Hirten gehört, unter der Krippe des Jesuskindes montiert. Es sah aus, als würden sie den kleinen Wunderknaben rösten. Zum Schieflachen, wenn die ganze Sache nicht so ernst wäre.
Für alles gibt es Bücher und Gebrauchsanweisungen. Nur ein Buch mit dem Titel »Wie entledige ich mich meiner Familie?« habe ich nicht gefunden.
Ich will später Chemie studieren. Madame Curie ist mein großes Vorbild. Aber wenn ich mich weiterhin so ungeschickt anstelle, werde ich wohl auch als frustrierte Hausfrau und Mutter enden.
Mama drohte nicht nur einmal, mich nach der Fünften aus dem Gymnasium zu nehmen und in ein Büro zu stecken. Meine schulischen Leistungen lassen zu wünschen übrig. Ich bin ins letzte Drittel abgerutscht, werde von den Lehrern genauso schlecht behandelt wie die Repetenten. Anscheinend habe ich den Schulwechsel nicht verkraftet. Eine Asphaltpflanze wie ich muss sich notgedrungen mit diesen zurückgebliebenen Provinzlern hier draußen im Wienerwald zu Tode langweilen. In meiner Klasse sitzen nur naive, dumme Gänschen, und mit den Buben kann ich erst recht nichts anfangen. Mir liegt eben dieser derbe, ländliche Typ nicht.
Ekel Felix knallt seine kleinen Fäuste gegen die Kellertür. Zum zwölften Mal am heutigen Nachmittag. Ich habe mitgezählt. Er schreit und heult vor Wut, aber ich lasse ihn nicht rein. Bestimmt sieht sein Gesicht wie ein knallroter, bis zum Platzen aufgeblasener Luftballon aus. Sein Kopf ist viel zu groß für seinen kleinen Körper. Manchmal nenne ich ihn »Zwerg Nase«, meistens mache ich mir jedoch nicht einmal die Mühe, ihn zu ärgern.
»Du sollst endlich den Christbaum fertigmachen, und ich darf dir helfen, hat die Mama gesagt.«
»Hilf lieber der Mama«, brülle ich zurück und hoffe, dass er mir ausnahmsweise einmal folgt.
Sie ist beim Kochen immer schrecklich nervös. Ihr geliebtes Mäuseschwänzchen wird ihr den letzten Nerv ziehen, wenn es ihr in der Küche Gesellschaft leistet.
Seit zwei Tagen hängt in unserer Küche eine erwürgte Pekingente. Mama hat sie massiert und mit der Fahrradpumpe aufgeblasen, damit die Haut schön knusprig wird. Dazu gibt es die unvermeidlichen Dinkellaibchen, Karotten- und Selleriesalat, Biokartoffeln aus unserem Garten und schmutzig-braunen Vollkornreis.
Zum Glück habe ich mich heute Vormittag, während sie auf der Mariahilfer Straße die letzten Einkäufe erledigte, mit zwei Big Macs gestärkt. Und sie natürlich nachher in einer Gasse ums Eck gleich wieder ausgekotzt.
Meine Frau Mama gibt mir höchstpersönlich die Ehre. »Wenn du nicht sofort raufkommst, setzt es was!« Den Befehlston hat sie von ihrem Vater. Er war, wie gesagt, bei der Hitlerjugend und schwärmt bis heute vom Führer.
Ich gebe mich geschlagen, verstecke das Dynamitstangerl in Papas Werkzeugkasten und verschiebe das Drama aufs nächste Jahr.
Deprimiert verlasse ich meinen geliebten Keller und schmücke den blöden Christbaum mit roten Kugeln und selbstgebastelten Engelchen.
Die Weihnachtskrippe stelle ich auf das kleine Tischchen an der Wand, um den hässlichen Gasanschluss zu verdecken.
Die zündenden Ideen kommen einem immer in letzter Sekunde.
Um Felix loszuwerden, gebe ich ihm den Kellerschlüssel und bitte ihn, die Strohsterne zu holen. Ich weiß, wie scharf er darauf ist, im Keller herumzuschnüffeln.
Der alte Gashahn hinter dem kleinen Beistelltisch im Wohnzimmer ist von Mamas Putzfimmel verschont geblieben. Er ist total verstaubt, und er klemmt. Ich nehme mir vom festlich gedeckten Esstisch eine weiße Stoffserviette und schaffe es schließlich, ihn aufzukriegen.