- -
- 100%
- +
Mehr und mehr Pfützen bildeten sich in den verwinkelten Gassen und auf den doppelspurigen Straßen. Autos fuhren rücksichtslos und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihm vorbei, bespritzen ihn mit vom heißen Asphalt erwärmten Regenwasser.
Nachdem er mittlerweile zum fünften Mal eine kostenlose Dusche erhalten hatte, beschloss er kurzerhand, einen anderen Weg einzuschlagen. Rennend überquerte er die Hauptstraße, bog rechts ab, um sodann einer schmalen Gasse zu folgen, welche ihn zu einem großen Platz führte.
Er kannte diesen Weg aus seiner Kindheit – damals hatte seine Mutter ihn jeden Tag zur Schule gebracht und war anschließend weiter in die Arbeit gegangen.
Obgleich es eine halbe Ewigkeit zurücklag, erinnert er sich nach wie vor an Mamas aufmunternde freche Art, ihre beruhigenden Worte und das strahlende Lächeln, welches sie nie verlor. Selbst dann nicht, als er ihr verkündet hatte, Schriftsteller zu werden. Ein Job, der ihr so wenig zugesagt hatte wie Janina …
Mamas mitreißendes Naturell hatte in den darauffolgenden Jahren zwar an Kraft verloren. Ihre Sichtweise, die Welt als einen magischen Ort zu sehen, hatte sich jedoch nicht geändert, ebenso wenig wie die Tatsache, an ihren Sohn zu glauben.
Selbst jetzt – mit einem gefloppten Buch und hohen Schulden stand sie zu ihm.
…
Wann hatte er Mama das letzte Mal besucht?
Es musste mindestens drei Jahre zurückliegen …
Ein neuer Schmerz entfachte in ihm.
Das musste er ändern! Alles musste sich ändern!
Unwillkürlich quollen Tränen ihm aus den Augen, vermischten sich mit den Regentropfen auf seinem Gesicht.
So viel bedurfte einer Änderung!
Sein verschleierter Blick glitt über den Platz.
Ein paar wenige äußerst tapfere kleine Sperlinge badeten fröhlich zwitschernd in den zu Seen angewachsenen Pfützen. Dutzende sich mit bunten Schirmen gegen die Regenflut schützende Leute eilten von einem Geschäft zum nächsten. Darunter Pärchen, welche sich glücklich aneinander kuschelten, sich küssten, sich süße Worte der Liebe zuraunten … und seinen Seelenschmerz immens erhöhten.
Liza.
Er musste zu ihr.
Er wollte sie umarmen. Er würde sie umarmen – gleichgültig, ob sie ihn mochte oder nicht!
Eben gedachte er, seinen Weg fortsetzen, da veranlasste ein durchsichtiger Regenschirm ihn, innezuhalten.
…
Weiße Sandaletten.
Ein buntes im Wind wehendes Kleid.
Leicht gelockte rückenlange, goldene Haare.
…
Liza.
…
Er rieb sich die Augen.
War sie es tatsächlich? Oder spielte seine Sehnsucht ihm einen üblen Streich?
Jäh richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn …
Er erstarrte.
Meerblaue Augen … bonbonrosa Lippen … gerötete Wangen.
…
Sie war es.
Sie war es tatsächlich!
O großer Gott!
Ein Donner vermochte es, ihn aus seiner Apathie zu reißen und seine Beine in Bewegung zu setzen.
Erst langsam, dann immer schneller schritt er auf sie zu – auf dieses verloren wirkende inmitten von Gewalt und Chaos stehende Geschöpf, welches sich krampfhaft an seinem Schirm festhielt.
Und plötzlich stand er vor ihr – kein halber Meter trennte sie voneinander.
Erblickte er etwa Tränen in ihren wunderschönen Augen? Oder entstand dieser Eindruck alleinig durch die Seinigen, welche nicht mehr zu fließen aufhören wollten? Aber wahrscheinlich lag es eher an dem peitschenden, sich mit aller Macht gegen ihn stemmenden Regen.
Ein mittellautes Donnergrollen schob die unnützen Überlegungen zur Seite.
So sachte, als bestünde Liza aus kostbarem Porzellan, legte er die Hände auf ihre Kinnbögen.
Weder zuckte sie zurück noch brachte sie selbst ein Wort über ihre süßen Lippen. Sie starrte ihn bloß weiter an – derart intensiv, er vermutete, sie würde bis in seine schmerzende Seele zu blicken vermögen. Derart intensiv, es radierte ihm Wortschatz wie Verstand aus.
Sekunden wurden zu Stunden.
Schmerz wurde zu Erlösung.
Verzweiflung wurde zu Hoffnung.
Das hektische Treiben um ihn herum rückte zusehends weiter in den Hintergrund – bis er es schließlich überhaupt nicht mehr wahrnahm.
Seine Finger glitten über ihre warme zarte Haut nach hinten ins weiche Haar.
Ein Blitz zuckte über den finstren Himmel. Donner dröhnte, Adrenalin wurde ihm in die Venen gepumpt –
Ehe sein Gehirn in der Lage war, etwas Ähnliches wie das eines Gedankens hervorzubringen, hatte sein Körper längst die Kontrolle übernommen und ihn dazu veranlasst, die Lippen auf Lizas zu legen.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Wangen fühlten sich an wie glühende Kohlestücke, weitere schmerzhafte Adrenalinausstöße sowie nackte sich um ihn schlingende Panik brachten ihn zum Beben.
Liza wehrte sich nicht. Einzig ihre Finger vergruben sich in sein durchnässtes Hemd.
O Gott …
Ihre das hauchzarte Kleid durchdringende wunderbare Körperwärme brannte auf seiner kalten Haut. Solch ein betörendes Gefühl – mit nichts vergleichbar … und unwahrscheinlich hilfreich dabei, ihn wenigstens zum Teil zur Besinnung zu bringen.
…
Geschah es tatsächlich?
Konnte es wahrhaftig sein?
…
Ja … ja … er küsste sie.
Er küsste Liza!
Er küsste seine Traumfrau!
Grundgütiger!
Endlich … endlich war es so weit! Nach all den sich ewig lang anfühlenden Monaten des Leids und der Zweifel durfte er sie spüren.
Liza. Wunderschöne Liza …
Unaussprechlich behutsam – und mit ungleich heftigerem Herzklopfen – teilte er ihre Lippen mit seiner Zunge.
Ihr gesamter Leib verkrampfte sich – jedoch lediglich für den Moment eines Wimpernschlags. Alsbald dieser vorübergezogen war, gewährte sie ihm Einlass.
Und die Welt stand still.
Er spürte sie erzittern, wieder und wieder. Infolge dessen schlang er die Arme um ihren Oberkörper und presste sie gänzlich an sich.
Äußerst zaghaft berührte er ihre Zunge mit seiner, wodurch ihr zierlicher Leib sich abermals versteifte. Einen Rückzieher machte sie dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Sie drückte sich fester an ihn.
Hatte Tina etwa richtig gelegen? Empfand Liza so viel mehr für ihn?
Er verscheuchte den unwichtigen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf seinen ersten scheuen Kuss in fünf Jahren.
Lizas süßer Geschmack berauschte ihn. Ihre hilflose Umarmung entfachte den brennenden Wunsch, sie zu schützen, sie nie mehr loszulassen – sie zu besitzen.
Solch weiche, zarte Lippen … warm, köstlich …
Prickelnde Gefühlsstürme brausten ihm durch den Leib, brachten seine Leisten zum Pulsieren und seine Seele zum Strahlen.
Sie gehörte zu ihm! Er fühlte es. Sie war ein Teil von ihm. Sie gehörten zusammen.
Heißkalte Schauer veranlassten ihn, seine Umarmung zu verstärken.
Seine bedächtig gleitende Zunge gelang es weder, Liza aus ihrer Inaktivität zu reißen noch ihr Zittern zu verringern. Dieses einerseits niedliche, andererseits erregende Verhalten untermauerte seine Vermutung ihrer Unberührtheit.
Was sonst hätte sie dergestalt eingeschüchtert, denn ihr erster Zungenkuss?
Solchermaßen plötzlich wie ein neuer Donner über den Äther grollte, wurde er sich eines weiteren unglaublichen Details bewusst: Kein anderer Mann vor ihm hatte Liza berührt! Keine anderen Lippen hatten ihre liebkost. Kein anderer Mann hatte Liza jemals angefasst!
Einzig und allein ihm erwies sie die Ehre … einzig und allein bei ihm ließ sie es geschehen. Einzig und allein bei ihm. Bei ihm!
Sein Herz schlug Salti.
Sie ließ es wahrhaftig zu … presste sich abermals fester an ihn!
Hatten das Gewitter, die entfesselten Glücksgefühle und Lizas Lippen bereits den Großteil seines Verstandes hinfortgefegt, tat ihr blumiges Parfum noch das Übrige, um ihn vollends zu betäuben und seine Glut nach ihr ins Unermessliche zu steigern.
Um seinen Kuss intensivieren zu können, vergrub er seine linke Hand in ihrem Nacken.
Er erforschte sie weiter – zögerlich, behutsam, langsam. Ab und an ließ er für einen kurzen Augenblick von ihr ab, aus dem einzigen Grund sie darauf beträchtlich intensiver zu küssen, zu verwöhnen, zu entdecken.
Seufzte sie?
Er war sich nicht sicher – zu laut prasselte der Regen, zu wild schlug sein Herz …
Grundgütiger!
Kein Kuss zuvor hatte sich je solchermaßen schön angefühlt. Keine Berührung zuvor hatte sich solchermaßen verbindend angefühlt. Niemand zuvor hatte ihm solcherlei Emotionen zu entlocken vermocht.
Mit einer jeden verstreichenden Sekunde fühlte er sich freier, erleichterter, glücklicher.
Glücklich.
Wann hatte er dieses Gefühl das letzte Mal empfunden?
Er wusste es nicht mehr. Und es interessierte ihn nicht mehr. Das Einzige, das er begehrte, war der Stillstand der Zeit, damit dieser glückselige Moment niemals mehr ein Ende fand.
Ein nicht zu beschreiben vermögender haarsträubender Donnerschlag entriss ihm kurzerhand diese kostbare Emotion und brachte ihn dazu, brutal zusammenzucken wie nach Mut zu beten.
Weshalb konnte dieses schreckliche Gewitter kein jähes Ende finden? Weshalb musste dies ausgerechnet heute passieren?
Verzweiflung umschlang ihn.
Wenn er Liza nun losließe, würde sie sogleich verschwinden? Würde sie sich von ihm abwenden?
Er wollte sie nicht loslassen … er wollte sie keine Sekunde mehr missen! Zu sehr dürstete ihn, ihre Seele zu kosten, ihre Liebe zu spüren, in ihr Herz zu sehen.
Allmächtiger Gott!
Er begehrte sie mit Haut und Haar …
Der an Heftigkeit zunehmende Wind und die zusehends lauter werdenden Entladungen des Himmels nötigten ihn letztendlich, zögerlich von Lizas zuckersüßen Lippen abzulassen.
»Jan.«
Ihre gepresst-flüsternde Stimme brachte seine Welt erneut ins Wanken.
Sein Name aus ihrem Mund – so zärtlich, scheu, verunsichert – als spräche sie ihn zum ersten Mal aus.
Ein unvorstellbarer Drang, sie wieder an sich zu drücken und weiter zu küssen, raubte ihm schier den Atem.
Schluckend blickte er in ihre mit Tränen gefüllten blauen Augen. So hell sie leuchteten, vollbrachten sie nicht, eine ihm eiskalte Schauer auslösende Verzweiflung zu verbergen.
Was war geschehen?
Lag es an seinem Kuss? Lag es an dem Gewitter? Lag es an seinem Buch?
Hatte er eben den größten Fehler seines Lebens begangen? Hätte er Liza nicht küssen dürfen?
Niederzwingende Verzweiflung vermischt mit Trauer und Panik übermannte ihn – trieb brennende Tränen aus seinem aufgebrachten Inneren hervor.
Hatte er sich mit dieser Tat etwa alles verdorben?
Bei Gott!
Wenn dies tatsächlich der Fall war, was sollte er dann tun?

Kapitel 22 – Keine Kraft mehr
»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!«
Anna hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Die Haare trug sie heute perfektionistisch hochgesteckt. Mit ihren rehbraunen Augen, den einzelnen gewellten ihr ebenmäßiges Gesicht umrahmenden Strähnen, den roten Lippen und den farblich dazu passenden lackierten Fingernägeln wirkte sie wie eine Hollywood-Diva des letzten Jahrhunderts. Und genauso, wie diese mit ihrem Personal umzugehen pflegte, ließ sie mich heute wieder einmal spüren, wie unbedeutend und unfähig ich für das Team war.
»Der Betrag kommt in die rechte Spalte! Bist du echt so bescheuert?« Abgesehen von Annas wutentbrannten Stimme herrschte Totenstille im Büro. Entweder fühlten auch die anderen Kollegen sich eingeschüchtert, oder wollten diese bloß keine Beschimpfung versäumen, um meine Dummheit in der Mittagspause dann nochmals lang und breit durchkauen zu können.
Ich wusste es nicht.
Ich wusste gar nichts mehr.
Ich versuchte lediglich, meine Tränen zurückzuhalten.
»Ich verstehe nicht, wie du diesen Job überhaupt hast erhalten können!«, zeterte sie. »Es gibt so viele fähige Arbeitslose … aber gerade du bekommst eine Chance!«
Verkrampft hielt ich den Blick auf das Kassabuch gerichtet. »Ich habe den Betrag irrtümlich in die falsche Spalte eingetragen.«
Ich wusste, ich hatte einen Fehler begangen. Aber ebenso gut wusste ich, wohin der Betrag gehörte …
»Ja, sicher doch!« Ihre keifend ausgesprochene Entgegnung triefte vor Sarkasmus. »Du weißt ja so gut Bescheid.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher sich erbarmungsloser Zorn auf ihre Gesichtszüge ausbreitete. »Versuche erst gar nicht, dich hier mit bescheuerten Aussagen herauszuwinden! Der Fehler ist da. Ich habe ihn selbst gesehen!«
…
Ich wollte ihn doch ausbessern!
»Ich habe mich geirrt«, versuchte ich verzweifelt zu erklären. »Weil ich eine Zeile weiter oben einen Eingangbetrag –«
»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«
Ich zuckte zusammen.
»Es reicht mir! Endgültig! Ich habe lange genug zugesehen. Ich habe mir deine erbärmlichen Ausreden lange genug angehört und dich wieder und wieder korrigiert. Die ganze Zeit habe ich dir geholfen!«
Wie wahnsinnig begann mein Herz zu rasen, infolge dessen ich unwillkürlich nach Luft schnappte.
»Und du?!«, fuhr sie fauchend fort – es jagte mir heiß und kalt den Rücken hinunter. »Du hast nichts anderes zu tun, als deine Dummheit mit billigen Ausreden zu verschleiern!« Eine weitere Pause folgte – eine Pause, in der ich einzig das Rauschen meiner Ohren vernahm. »Ich habe mich die ganze Zeit hinter dich gestellt! Wenn ich unkollegial gewesen wäre, dann hätte ich dem Chef deine katastrophale Arbeit schon vor einem halben Jahr unter die Nase gerieben!«
Verzweiflung, Furcht und Wut schnürten mir die Kehle zu.
Ja, ich hatte Fehler gemacht … ein paar dumme Fehler – aber konnten diese nicht meine gesamte Arbeit schlechtmachen!
Zögerlich suchte ich ihre Augen.
Sie funkelten wie die eines Dämons.
»Was siehst du mich so an?!« Wie immer machte sie keinen Hehl daraus, ihre enorme Abneigung gegen mich durch abschätzige Blicke zum Ausdruck zu bringen. »Willst du mir neue Ausreden vorkauen?! Glaubst du echt, irgendjemand hier –« Sie vollführte eine ausladende Geste mit den Armen. »Kauft dir das noch ab?!«
…
Ausreden … Stets sprach sie von Ausreden … Wann hatte ich jemals eine Ausrede benutzt? Und warum schrie sie mich andauernd an? Ich hatte nie mit ihr geschrien! Nie! Kein einziges Mal!
Meine Wut wuchs an – sie kribbelte in meinem Bauch, beschleunigte meine Atmung, verspannte meine Muskeln.
Und dann passierte es.
»Ich wollte diesen Posten nie haben!«, kam es schneller über meine Lippen, als ich nachzudenken in der Lage war. »Ursprünglich war ich für die Buchhaltung nicht vorgesehen gewesen!«
…
Jetzt war es raus.
Das erste Mal hatte ich meine Meinung offen ausgesprochen.
Doch gleichermaßen schnell, wie Erleichterung sich in mir erhob, wurde diese von Panik verdrängt – ausgelöst durch Annas Make-up beladenes Gesicht, welches sich zu einer wutentbrannten hässlichen Fratze verzog.
»Ach ja?!« Ihre Stimme überschlug sich regelrecht – und mir krampfte es den Magen zusammen.
Langsam beugte sie sich zu mir – wie ein Raubtier, das kurz davor stand, seine Beute zu erlegen. »Du machst einen fürchterlichen Job und dann besitzt du noch die Frechheit, so undankbar zu sein?! In einer anderen Firma hätte man dich längst rausgeschmissen!«
Gänsehaut jagte mir über den Körper, meine Ohren schmerzten und mein Herz fühlte sich an, jede Sekunde zerreißen zu wollen.
»Saskia hat –«
Mit einer aggressiven Handgeste brachte sie mich zum Schweigen. »Willst du jetzt noch Saskia unterstellen, dass sie dir deinen Job weggenommen hat?« Sie drehte sich zu unseren Kollegen um. »Hört ihr das?«
Niemand von den Angestellten gab einen Laut von sich, wodurch Anna sich offenbar darin bestärkt fühlte, mit ihrer Schimpftirade fortzufahren.
»Lisa meint, Saskia wäre schuld, dass sie nicht zurechtkommt! Kann man sich das vorstellen?!« Damit wandte sie sich wieder mir zu. »Das ist so typisch! Weißt du das überhaupt?« Ein verächtliches Schnauben folgte. »Nein … natürlich nicht! Du bist ja viel zu blöd!« Das letzte Wort betonte sie eine beträchtliche Spur lauter. »Aber weil ich so nett bin, erkläre ich es dir trotzdem: Nur Versager suchen die Schuld bei anderen! Und du bist der größte Versager überhaupt!«
In meinen Wangen begann es ähnlich zu kribbeln wie in meinem Magen.
»Ich wollte den Fehler ausbessern!«
»Du wolltest gar nichts!«
»Aber –«
»Widersprich mir nicht!« Ihre rasiermesserscharfe Stimmlage zerschnitt mein Aufbegehren in tausend kleine Stücke.
Doch unerheblich wie groß meine Furcht anmutete – ich wollte nicht mehr klein beigeben. Ich wollte mich nicht mehr unterdrücken lassen! Ich wollte meinen Standpunkt erklären!
Eben war ich dabei weitere Argumente aufzubringen, da flackerte etwas Monströses über Annas Gesichtszüge – eine Gefühlsregung, welche ich in der Form noch nie zuvor bei irgendeinem Menschen erlebt hatte. Und obgleich diese Emotion beinahe nicht erkennbar war, spürte ich sie mit einer brachialen mir kurzzeitig den Atem raubenden Intensität. Sie entfesselte mir grauenhafte Adrenalinschübe, welche wie spitze Nadeln durch meine Adern brausten. Dies wiederum brachte meine Muskeln dazu, sich schmerzlich zusammenzuziehen.
Es klang verrückt, aber in dem Moment vermittelte Anna den Eindruck, unmittelbar davor zu stehen, die Beherrschung zu verlieren und sich auf mich stürzen zu wollen.
»Verdammt noch einmal!« Sie hatte diesen Fluch noch nicht gänzlich ausgesprochen, riss sie mir das Kassabuch bereits unter den Händen weg.
Es geschah derart schnell, für eine unbestimmte Zeit vermochte ich einzig stocksteif dazusitzen und meine Kollegin stumm anzustarren.
Ihre verengten Augen musterten mich voller Abscheu, Ekel und Hass. »Ich melde das jetzt dem Chef!«
Der zischende Klang … er drang in meine Seele, zerquetschte sie, zerschnitt sie, zerriss sie …
»Dann kannst du deine bescheuerten Meldungen ihm vorjammern!« Das dicke Kassabuch in ihrer rechten Hand begann sich zu verbiegen – dergestalt fest hielt sie es. »Ich tue mir das nicht mehr an!« Diese Äußerung knurrend ausgespuckt drehte sie sich um und stöckelte aus dem Büro.
Alsbald die Tür mit einem Knall in ihre Angeln fiel, zuckte ich zusammen.
Adrenalin vermengte sich mit Panik und Scham, schlugen mir in den Magen, knetete meine Innereien einmal kräftig durch.
Übelkeit und eine Eiseskälte brachen über mich herein.
Zitternd fasste ich nach der Maus und wandte mich dem Bildschirm zu.
…
Nun war es so weit …
Ich würde meine Arbeit verlieren, etwas später dann die Wohnung – und letztlich müsste ich zu meinen Eltern ziehen …
Und das aus dem einzigen Grund, weil ich mich einmal zur Wehr gesetzt hatte!
Für den Moment eines Wimpernschlags schaute ich zu meinen Kollegen.
Ihre mich musternden Augen sprachen genug: Anna hatte recht. Ich war das schwächste Glied in dieser Kette … und eine Kette war bekanntermaßen nur so stark wie das schwächste Glied.
…
Ich war eine Bürde.
Ich war unfähig.
Wozu war ich überhaupt auf der Welt?
Das Zittern in den Händen zu unterdrücken versuchend zwang ich mich, die Mails durchzuchecken. Gleichgültig meiner Bemühung gelang es mir nicht, eine einzige Nachricht sinngemäß zu erfassen geschweige denn sie abzuarbeiten.
Diese meine Eingeweide zusammenziehende Furcht lähmte mich.
Ich durfte meine Arbeit nicht verlieren!
Was würden meine Eltern von mir denken? Was würde das Arbeitsmarktservice von mir halten? Immerhin hatte ich diese Stelle allein durch deren Hilfe bekommen!
…
Ein eiskalter Stich durchfuhr mich – ausgelöst durch eine neue Gewissheit.
Wenn der Chef mich fristlos entließe, würde mein Arbeitslosengeld für den ersten Monat gesperrt sein!
…
O mein Gott!
Damit wäre alles aus. Einfach alles.
Um meiner hochzüngelnden Verzweiflung wenigstens teilweise Einhalt zu gebieten, trank ich einen Schluck Wasser.
Ich musste mich zusammenreißen. Brach ich in Tränen aus, hätte ich mich bestenfalls erneut der Lächerlichkeit preisgegeben.
Geholfen jedoch hätte es mir nicht.
Lautlos atmete ich tief durch.
Es dauerte einige Minuten, bis mein Körper sich etwas beruhigte und ich meine Arbeit langsam wieder aufnehmen konnte.
Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen – und meine ohnedies schreckliche Lage wurde durch eine weitaus schrecklichere ersetzt.
Ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht tragend trat Anna ins Büro. Mit einem jeden ihrer selbstsicheren auf mich zugehenden Schritte beschleunigten sich mein Puls wie meine Atmung. Dazu gesellte sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund und ein stechender mir den Verstand blockierender Kopfschmerz.
»Du sollst zum Chef.« Sie klang gefasst, ja regelrecht glücklich. »Er hat mit dir ein ernstes Wörtchen zu reden.«
Nicht vorhanden Speichel schluckend erhob ich mich.
Meine Knie bebten, mein Kopf fühlte sich seltsam kalt an.
»Viel Spaß.«
Ich konnte ihre Stimmlage nicht mehr recht beurteilen – zu sehr musste ich mich darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu halten, um nicht zu Boden zu stürzen.
Die anprangernden Blicke der Kollegen im Rücken spürend verließ ich das Zimmer.
Was dachten sie von mir?
Aber weitaus wichtiger: Was würde nun folgen?
Verlor ich meinen Job? Verlor ich meine Zukunft? War ich denn für wirklich gar nichts zu gebrauchen?
Während ich unbeholfen durch den langen Gang stakste, glitt mein Blick über die zahllosen undefinierbaren an beiden Seiten hängenden Kunstdrucke. Ein Urteil über sie fällen gelang mir allerdings nicht, befand mein Verstand sich nach wie vor in einer Art Schockzustand. Selbst mein Sehsinn mutete leicht durcheinander an, den dunklen flackernden Flecken nach zu urteilen, welche da vor meinem Blickfeld umher tanzten.
Mein Leib stetig heftiger erbebend öffnete ich die Glastür, welche Vorraum und Chefbüro miteinander verband.
Erst zweimal hatte ich Herrn Urbans Büro betreten: das erste Mal aufgrund des Vorstellungsgespräches und das zweite Mal aufgrund des Einstellungsgespräches.
Der Raum hatte mir nie sonderlich gut gefallen. Die grauen Marmorfliesen, der kolossale asymmetrische Bürotisch aus Glas und die überwiegend in Schwarz und Chrom gehaltenen Einrichtungsgegenstände erweckten den Eindruck von Gefühllosigkeit und berechnender Kälte. Da halfen selbst die hohen Fenster nichts, durch welche die Örtlichkeit von früh bis spät von sanftem Licht durchflutet wurde.
Mit derselben nackenhaaraufstellenden Ausstrahlung wie das Mobiliar saß Herr Urban auf seinem gewaltigen Lederchefsessel, dessen beißender Geruch mir in der Nase brannte.
Ein nachtschwarzes Hemd, darüber ein anthrazitfarbenes Jackett und eine silberne Krawatte verliehen Herrn Urban eine autoritäre wie professionell-elegante Ausstrahlung. Selbstsicher hielt er einen silber-schwarzen Kugelschreiber in der linken Hand, während er aufmerksam einen Brief las.
»Sie wollten mich sprechen«, sagte ich nach einigem Zögern und trat ein. Ich versuchte, gefestigt zu klingen. Zu meinem Leidwesen funktionierte dies nicht einmal annähernd, wie von mir gewollt.
Er hob den Blick an.
Das dunkelbraune zu einem lockeren Seitenscheitel gekämmte Haar glänzte im Licht der kleinen Deckenspots.
»Frau Findinger hat sich bei mir beschwert.«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Demgemäß sagte ich einmal gar nichts.
Mit triefender Selbstgefälligkeit lehnte er sich zurück. Das Knarzen des Ledersessels bezeugte dabei gleichermaßen von Reichtum wie seine chromfarbene große Uhr, welche selbstgefällig unter seinem Hemdärmel hervor blitzte.
»Hätten Sie die Güte, mir zu erklären, was zwischen Ihnen und Frau Findinger vorgefallen ist?« In seiner Äußerung schwang derselbe gereizte Ton, mit welchem ich stets von meinen Mitmenschen bestraft wurde, wenn ich nicht schnell genug reagierte.