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»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich verunsichert zurück. »Den ich allerdings selbst ausgebessert habe.«
Er wölbte eine Braue. »Und sonst?«
Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.
Ein theatralisches Seufzen drang aus seiner Kehle. »Entweder hat Frau Findinger heillos übertrieben.« Es folgte eine Kunstpause, in welcher er mich ungleich abschätziger musterte. »Oder aber Sie, Frau Hirter, bagatellisieren.«
Seine Stimmlage deutete unverkennbar Letzteres an.
»Ich verstehe nicht –«
»Sie waren es doch, die meinte, Frau Kaufmann hätte Ihnen Ihren Posten weggenommen. Oder liege ich da falsch?«
Mir wurde es eine Spur kälter.
»Das stimmt«, gab ich zu. Das Zittern in meiner Stimme versuchte ich erst gar nicht mehr zu unterdrücken. Nun ging es einzig darum, nicht in Tränen auszubrechen.
»Frau Kaufmann hat sich in der Datenverarbeitung und Rechnungslegung äußerst bewährt. Sie ist ein unschätzbarer Teil dieses Teams.« Seine Augen nahmen einen funkelnden Ausdruck an. »Sie, meine Gute, haben sich jedoch kein einziges Mal bewiesen.« Wort zu Wort wurde seine Aussprache härter, beißender, kälter. »Und solange Sie sich nicht beweisen, verbiete ich mir derlei abschätzige Töne von einer drittklassigen Mitarbeiterin!«
…
Mein Herz zerriss. Meine Seele starb. Mein letzter Funken Lebenswille wurde vernichtet.
…
»Einen zweiten Fehltritt ihrerseits«, fuhr Herr Urban kühl fort. »Dulde ich nicht. Entweder passen Sie sich meinem Team an und bringen endlich Leistung oder ich muss Sie entlassen.« Es folgte eine weitere Pause, in welcher mich ein leichter Schwindel erfasste. »Das liegt ganz bei Ihnen.«
Gänsehaut jagte mir über den Rücken bis in den Hintern.
»Ja.«
Hatte ich das gesagt?
Hatte ich tatsächlich die Kraft aufgebracht, etwas zu erwidern?
…
Mein Verstand leer gefegt drehte ich mich um und ging los.
Ehe ich die Tür des Büros hinter mir zumachte, hörte ich Herrn Urban nachrufen: »Übermäßiges Selbstvertrauen macht noch lange keinen guten Mitarbeiter aus.«
Es war, als zöge jemand mir den Boden unter den Füßen weg.
…
Wo hatte ich Selbstvertrauen?
Einen mittlerweile schmerzhaft angewachsenen Kloß im Hals hinunterschlucken versuchend, eilte ich ins WC. Keine Sekunde, nachdem ich mich in die hinterste Toilette eingesperrt hatte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Ich konnte nicht mehr.
Ich konnte einfach nicht mehr.
Wozu war ich auf der Welt? Wozu tat ich mir dies alles an? Ich war ohnehin für nichts und niemanden zu gebrauchen! Ich war eine einzige Bürde!
Von Weinkrämpfen durchgeschüttelt lehnte ich mich an die kalte Fliesenwand. Diese beißenden Seelenschmerzen umschlangen mich, ließen mich hoffnungslos nach Luft japsen. Eine unsichtbare Hand schien gegen meinen Brustkorb zu drücken – raubte mir Kraft und Willen.
Ich wollte nicht mehr.
Ich wollte einfach nicht mehr.
Konnte ich nicht tot umfallen?
Es wäre viel leichter … so viel leichter. So einfach. Einfach umfallen. Wäre das möglich? Konnte das bitte möglich sein?
Bitte … bringt jemand mich doch einfach um …
…
Irgendwann versiegten meine Tränen.
In meiner Seele eine schwere Leere innewohnend trat ich zum Waschbecken, drehte das Wasser auf und wusch mir das Gesicht. Während ich mich mit Papierhandtüchern abtrocknete, breitete eine eigenartige kalte Leichtigkeit sich in mir aus. Sie startete in meinem Herzen und fand in meinem Kopf ein jähes Ende.
Ich blickte in den Spiegel.
Das erste Mal war ich dankbar für meine Schminkfaulheit. Dadurch brauchte ich mich wenigstens nicht um verschmierte Wimperntusche zu sorgen.
Andererseits hätte in dieser Situation ein wenig Make-up nicht geschadet …
Ich sah unwahrscheinlich blass aus. Selbst meinen Lippen waren sämtliche Farben abhandengekommen.
Ich verscheuchte den Gedanken.
Was tat es schon zur Sache, wie ich aussah? Schließlich interessierte sich sowieso niemand für mich.
Nachdem ich dreimal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte ich mich auf den Weg zurück ins Büro. Dabei erhaschte ich einen Blick auf die große Wanduhr im Foyer.
14:15 Uhr.
In fünfzehn Minuten endete meine Schicht.
Gut.
Ich trat in den Dienstraum, versuchte, die mich anstarrenden Kollegen sowie Annas und Saskias Grinsen zu ignorieren, und setzte mich an meinen Tisch.
Wann war Saskia zurückgekommen?
Üblichweise arbeitete sie freitags auf der anderen Gebäudeseite.
»Und? Wird Saskia jetzt rausgeworfen«, zog Annas sarkastisch klingende Frage mich aus meinen Überlegungen. »Damit das dumme Prinzesschen die Wunschstelle erhält?«
Anstatt zu reagieren, sah ich aus dem Fenster.
Der Himmel zeigte dunkelgraue Wolken … Sturm und Blitze.
Das hatte mir gefehlt!
Da mein Wagen bezüglich eines Loches im Endtopf in der Werkstätte stand, darüber hinaus kein Leihwagen zur Verfügung gewesen war, war ich heute zu Fuß unterwegs.
Natürlich konnte ich mir ein Taxi rufen – unglücklicherweise riss die Reparatur ein gewaltiges Loch in meine Rücklagen, wodurch mir gar nichts anderes übrig blieb, denn auf sämtliche unnötigen Bequemlichkeiten zu verzichten und eisern zu sparen.
»Du machst das genau richtig, Kitty«, vernahm ich Saskias Kratzstimme.
Irgendwie gelange es mir, mich davon abzuhalten, mich zu ihr zu drehen.
»Den Mund halten, meine ich.«
»Ein Wunder, dass sie wenigstens das hinkriegt«, flötete Anna. »Aber Dumme brauchen bekanntlich immer etwas länger, bis sie verstehen.«
»Da hilft manchmal wohl nur die Holzhackermethode!«
Darauf folgte ein lautes, mir Tränen in die Augen treibendes Lachen.
Eigenartigerweise fühlte ich dennoch nahezu keinen Schmerz mehr.
Hatte ich es endlich geschafft und meine Empfindsamkeit überwunden? Wurde ich härter? Hatten Herrn Urbans Äußerungen mir Heilung gebracht?
Als es schließlich 14:30 Uhr geworden war, fasste ich nach meiner Tasche und verließ das Büro, ohne irgendjemandem anzusehen oder mich zu verabschieden. Vor der Eingangstür zum Foyer griff ich nach meinem geliebten Regenschirm, welchen ich heute Morgen – Gott sei Dank – vorsichtshalber mitgenommen hatte.
Ich trat hinaus, spannte ihn auf und machte mich sodann auf den Weg.
Der Sturm pfiff erbarmungslos. Regentropfen prasselten dermaßen heftig auf den durchsichtigen Schirm, es mutete an, sie wollten versuchen, das dünne Plastik zu zerreißen.
Soviel mir in dem sintflutartigen Regenschauer noch zu erkennen gelang, brachten Passanten sich unter Vorsprüngen, Dächern oder in Geschäften in Sicherheit.
Ich blickte gen Himmel.
Der Regen würde sicherlich länger andauern. Mindestens das Wochenende lang. Dies bestätigten die Form der Wolken und die Richtung, aus welcher der Wind wehte.
Nun … mir war es recht.
Ob es regnete oder die Sonne schien, ich konnte nicht viel unternehmen.
Was sollte ich alleine auch großartig machen? Was sollte ich überhaupt noch machen? Schließlich war ich ein Versager!
…
Ein Versager brauchte keine Freizeit. Ein Versager hatte keine schönen Momente verdient.
Ein Versager blieb alleine.
…
Dieses meine Lungen zusammendrückende Gefühl tauchte jählings wieder auf, lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung – in die Vergangenheit. In eine Zeit, welche gefüllt war mit Hoffnung und den Glauben an eine schöne Zukunft.
Ich hatte längst alles getan, was ein Single in seiner Freizeit unternehmen konnte: Schiffsausflüge, Wanderungen, auswärts Essen gehen, Kino … Stets mit demselben Ergebnis: Ich lernte niemanden kennen.
Kein Wunder!
Jetzt wusste ich, weshalb: Ich war ein Idiot. Ich war ein unfähiger Teil der Gesellschaft – eine Bürde. Man benötigte mich nicht.
Ich war ein Freak. Jemand, der nichts zuwege brachte. Ein Außenseiter.
Ungeküsst.
Unverstanden.
Ungeliebt.
Bestimmt erkannten fremde Männer dies bereits, wenn sie mir ins Gesicht blickten. Darum hielten sie stetigen Abstand. Darum sprachen sie nicht mit mir! Da konnte ich noch so hübsche Kleider tragen, mir noch so teure Unterwäsche kaufen … nichts davon würde jemals genügen.
Jetzt wusste ich es.
Endlich.
Es fühlte sich geradezu erleichternd an.
Du musst dich nur hübsch herrichten, dann wirst du schon jemanden kennenlernen.
Ein bisschen mehr Schminke und ein kurzes Kleid – nur das zieht bei Männern!
Du musst freundlich sein! Lächle und tue das, was andere sagen, sonst mögen sie dich nicht.
Du musst schon ausstrahlen, dass du eine Beziehung eingehen willst! Wenn du so verklemmt wirkst, wird das nie was!
Mit Kopfschütteln versuchte ich die Erinnerungen zu verscheuchen.
Es war zu Ende.
Ich brauchte nicht mehr darüber nachzugrübeln, was ich falsch gemacht hatte.
…
Ich war ein Idiot.
Darum hatte es mir nichts gebracht, meinen Kleiderschrank auszumisten. Darum hatte es nichts gebracht, freundlich zu sein. Deshalb hatte – unerheblich wie sehr ich es wollte – niemals irgendetwas im Entferntesten funktioniert.
Ich atmete die von Feuchtigkeit und den Asphaltgeruch erfüllte warme Luft ein.
Dieses Wochenende würde ich auf dieselbe Weise verbringen, wie ich ein jedes verbrachte: Ich würde Fern sehen … und das Buch weiterlesen.
…
Jans Liebesroman.
Mein Herz zog sich zusammen.
Jan …
…
Für einen ganz besonderen Menschen.
…
Unzählige Male hatte ich darüber nachgedacht, ihn anzurufen. Unzählige Male wollte ich ihm schreiben – am liebsten sofort zu ihm fahren …
Letztlich getraute ich mich nicht. Zu groß waren meine Bedenken, einem stirnrunzelnden Jan begegnen zu müssen, der nicht verstand, weshalb ich ihm einen Besuch abstattete … erfahren zu müssen, dass er rein gar nichts mit dem Buch zu schaffen hatte …
Denn seien wir uns ehrlich: Lediglich, weil Jan denselben Vornamen trug wie der Autor des Buchs, bedeutete dies lange nicht, dass er es auch tatsächlich war!
Zu oft hatte ich mich getäuscht. Zu oft hatte ich angenommen, von jemandem gemocht zu werden … mir zu oft eingebildet, akzeptiert zu werden …
Viel zu oft.
Ab heute war endgültig Schluss damit!
Keine Träume mehr, keine Einbildungen mehr, keine Wünsche mehr!
Ich hatte es verstanden. Ja, ich hatte verstanden. Man musste mich nicht weiterquälen.
Es war gut.
…
Für einen ganz besonderen Menschen …
…
Und selbst wenn Jan den Roman geschrieben hatte, stellte seine Nachricht noch lange keinen Liebes- oder Freundschaftsbeweis dar …
Der Hauptgrund jedoch, welcher mich bislang von einer Kontaktaufnahme abgehalten hatte, war die Tatsache das Buch noch nicht fertig gelesen zu haben.
Wie hätte es ausgesehen, wenn ich zu ihm getreten wäre und gesagt hätte: »Ich bin hier. Das Buch habe ich aber noch nicht durch.«
Nein.
Erst das Buch … dann konnte ich weiterschauen, ob oder wie ich mich mit ihm in Verbindung setzte.
Die schillernden Pflastersteine unter meinen Füßen brachten meine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.
Normalerweise mochte ich das Geräusch der klackenden Schuhabsätze, wenn ich über die Jahrhunderte alten Marmorblöcke meines Lieblingsplatzes marschierte: eine rechteckig angelegte von dutzenden Geschäften umsäumte Lokalität inmitten der Klagenfurter Innenstadt.
Heute fühlte ich nichts.
Vielleicht beim nächsten Mal …
Ich nahm den Ort etwas genauer in Augenschein.
Obgleich es nach wie vor wie wahnsinnig schüttete, waren mittlerweile bedeutend mehr Menschen unterwegs, welche mit Schirmen oder Regenjacken gegen den Wind ankämpften und ihre Einkäufe erledigten.
Arm in Arm und glücklich strahlende durch die allmählich zu Seen angewachsenen Pfützen watende Pensionisten, sich küssende und aneinanderschmiegende junge Pärchen …
Eine auftretende Einsamkeit trieb mir Tränen in die Augen.
Weshalb … Weshalb konnte in meiner Wohnung kein mich liebender Partner auf mich warten? Und weshalb zog meine Seele sich plötzlich erneut zusammen? Eben erst hatte ich mich viel leichter gefühlt …
Ein jacher, schmerzhafter meine Beine zum Stehenbleiben nötigender Adrenalinausstoß verdrängte sämtliches Grübeln.
…
Völlig verloren stand er da.
Keine zehn Meter von mir entfernt.
Ein junger Mann – gnadenlos peitschte der Regen gegen seine zierliche Gestalt, Wind riss an seinen durchnässten Kleidern, goldene Haare hingen ihm schwer in das verzweifelt aussehende Gesicht.
Schluckend verstärkte ich den Griff, mit welchem ich den Schirm festhielt.
Konnte das …
War das etwa Jan?
…
Er setzte sich in Bewegung – geradewegs ging er auf mich zu.
Mit einem jeden näherkommenden Schritt schlug mein Herz ein wenig schneller …
Und plötzlich stand er vor mir.
Hellgrüne Augen … schmale Lippen … eine feminine Nase … zierliche Gesichtszüge
Himmel!
Er war es.
Jan.
Wunderschöner Jan.
Er stand wahrlich hier vor mir – als hätte meine Sehnsucht ihn hervorgebracht.
…
Aber weshalb? Weshalb war er hier? Was –
Mein Blick huschte über seinen Körper.
Mein Gott!
Sein weißes Hemd …
Es war nicht mehr weiß … die kalte Nässe hatte es durchsichtig gemacht, gewährte mir eine scheue Sicht auf seinen schlanken festen Oberkörper.
Dieser sinnliche Anblick schickte mir nicht bloß eine glühende Hitze in die Wangen, sondern er entfesselte ebenso einen weiteren heftigen Schlag Adrenalin, welcher in meiner Magengegend ein abruptes Ende fand.
Ohne jegliche Vorwarnung umfasste Jan mein Gesicht.
Seine kalten Hände prickelten auf meiner Haut. Mein Leib verkrampfte sich. Mein Herz begann beträchtlich wilder zu hämmern. Flirrende Gefühle drehten mir den Verstand vollständig ab.
Lediglich unter Aufbringung meiner gesamten Willensstärke brachte ich es zustande, eine Frage zu formen: Was wollte er tun?
Seine mit Tränen gefüllten leuchtenden mich intensiv musternden Augen unterbanden jedoch selbst dieses letzte Aufbegehren meines Geistes, womit ich ihn schlussendlich alleinig anstarren und in weiterer Folge abwarten konnte.
Erstaunt, benebelt, verwirrt beobachtete ich, wie sein Gesicht sich näherte, spürte, wie seine zärtlichen Hände mir ins offene Haar glitten …
Und schließlich passierte es.
Unvermittelt. Unverhofft. Unerwartet.
Die Zeit stand still, als sein Mund sich unvorstellbar behutsam auf meinen legte.
Das wunderbare Gefühl seiner warmen Lippen gar nicht recht erfasst, rauschten mir bereits Abertausende unmöglich in Worte zu kleidende, meine Knie unkontrollierbar zum Beben bringende Emotionen durch die Adern.
Krampfhaft versuchte ich, mich auf den Beinen zu halten, all die Eindrücke zu verarbeiten.
Die Wärme seines Mundes … sein Atem auf meiner Haut … seine sich vergrabenden Finger in meinen Haaren … diese Empfindungen waren allesamt so fremd und neu, andererseits so vertraut und richtig – als wäre es nie anders gewesen, als hätten wir uns bereits zig Male zuvor geküsst.
…
Geküsst.
Geküsst.
Jan küsste mich …
Ich erlebte eben meinen ersten Kuss! Jan gab mir meinen ersten Kuss!
Wie von selbst schlossen sich meine Lider. Der Regenschirm entglitt meiner Hand, blieb irgendwo im Regen liegen.
Erzitternd legte ich die Hände auf Jans heiße Brust, spürte sein wild pochendes Herz, welches mir ein brennendes Prickeln freisetzte und mein Gehirn eine weitere Frage zu formen erlaubte: Was musste ich machen?
Ich wusste nicht, wie man küsste. Ich wusste überhaupt nichts …
Doch je länger er mich mit seinen weichen Lippen liebkoste, desto leichter wurde es mir. Gleichermaßen wie meine Unsicherheit verschwand, wurden all diese negativen sich hartnäckig festgesetzten Gemütsbewegungen aus meiner Seele gewaschen – Furcht, Trauer, Ängste, Einsamkeit …
Vom Regen weggespült.
Von Jan hinfortgeküsst.
Stattdessen breitete sich Liebe aus – reine, pure, bedingungslose Liebe. Sie überschwemmte mich, kroch in eine jede Faser meines Körpers, erfüllte mich, beschützte mich, öffnete mich.
Ich spürte Jans Zunge.
Mein Herz wollte zerspringen. Gleichzeitig übermannte mich eine Emotion, welche es mir weder zu benennen noch zu verstehen gelang.
Sie war warm … zärtlich … umschlingend … verschmelzend. Sie machte mich ganz, füllte all die leeren Stellen in meiner Seele, tränkte mein Herz mit süßer Leichtigkeit.
Gierig presste ich mich an seinen Körper.
Ich wollte mehr … noch viel mehr. Ich wollte ihn kosten, ich wollte ihn spüren … Ich wollte ihn … Ich wollte ihn … Ich wollte nur noch ihn.
Bedachtsam, so unaussprechlich bedachtsam tastete Jan sich vor. Seine Zunge ließ mich schweben. Sein Geschmack ließ mich erschauern.
Immer wieder.
Ich war wie in Trance.
Sein süßlich herbes Aftershave, seine weichen Lippen, seine kitzelnden Haare in meinem Gesicht, sein zusehends heißer werdender Körper … dieser Kuss war unvergleichlich … Jan war unvergleichlich …
Seine Berührungen intensivierten sich, entfesselten mir heißkalte Wellen der Begierde, machten mich schwindelig. Es war eine berauschende mich nahezu willenlos machende Empfindung, von welcher ich niemals vermutet hatte, sie jemals empfinden zu dürfen.
Fühlte ein jeder Mensch auf eine solche Weise, wenn er geküsst wurde?
Fühlte Jan auf diese Weise?
…
Eine nächste Gewissheit brach über mich herein wie der strahlende Morgen nach einer viel zu langen Nacht. Eine Gewissheit, welche mich vollends meiner Selbstkontrolle beraubte.
Jan wollte mich. Er hatte Interesse! Schließlich würde er mich sonst niemals küssen!
Jan wollte mich.
Er wollte mich.
…
Himmel! Er wollte mich!
Seine sich überraschend entfernenden Lippen erweckten eine seelenzerreißende mich den Tränen nahebringende Sehnsucht.
Nein … er durfte nicht aufhören! Er durfte mich nicht loslassen!
Gott, ich wollte weiter festgehalten werden – in diesem Sturm aus Gefühlen, kalten Regentropfen und schier endloser Hoffnungslosigkeit.
Atemlos flüsterte ich seinen Namen.
»Liza.«
Seine von Seelenschmerzen durchtränkte Stimmlage öffnete mir die müden Lider.
Ich erschrak.
Tränen quollen ihm aus den Augen.
Reine Verzweiflung umfing mein Herz.
Ein zweites Mal schlang er die Arme um mich – solch eine kostbare Geste, die ich unbedingt erwiderte.
»Liza.« Immer und immer wieder schluchzte er meinen Namen – sehnsüchtig, hoffnungsvoll, hilflos …
Seine wilden Emotionen drangen in mich ein, riefen meine eigene zu Boden bringende Trauer wach, vermischten sich mit dieser, zerbarsten diese durch Herrn Urbans Äußerung errichtete Mauer der Gleichgültigkeit. Wie Faustschläge malträtierten sie mein Innerstes, wüteten durch meinen Geist.
Heiße aus Verzweiflung und Schmerz geborene Tränen suchten sich ihren Weg über meine glühenden Wangen.
Es musste aufhören! Dieser Schmerz musste endlich aufhören!
Ich ertrug ihn nicht mehr …
Und plötzlich nahm die Last wieder ab – mit einer jeden vergossenen Zähre. Ein jeder Atemzug wurde leichter, ein jeder Herzschlag befreiter, die tragende Last geringer.
Bebend hielten wir uns aneinander fest – als wollte der Regen uns voneinander wegreißen, als würden wir jeden Moment voneinander getrennt …
Tiefes Donnergrollen hallte über den Platz.
Jan drückte sich fester an mich.
»Ich habe dich unvorstellbar vermisst.« Er klang gebrochen, verloren, verängstigt. »Bitte sag nicht, du willst nichts mit mir zu tun haben.«
Mir wurde es übel.
Weshalb sollte ich dies sagen? Weshalb sollte ich nichts mit ihm zu tun haben wollen?
Hatte er etwa vermutet …
»Das … das würde ich nie tun«, gab ich leise zurück. »Ich habe … ich habe selbst die gesamte Zeit über angenommen, du würdest nichts mit mir zu tun haben wollen.«
Langsam ließ er von mir ab, auf seinen Zügen lag purer Schock. »Aber das Buch …«
Ich erstarrte.
Ja, ich hatte es mir inniglich gewünscht. In manch einem schwachen Moment hatte ich mir ausgemalt, wie Jan mir die Widmung in sein Buch schrieb …
All meiner verdrängten Hoffnung zum Trotz fühlte die Erkenntnis sich wie ein Hieb mit einem Rohrstock an.
…
Jan war es gewesen … er hatte sie tatsächlich geschrieben … diese zärtliche Liebesgeschichte …
Mein Gott …
Nun gab es keine Zweifel mehr!
»Ich habe es angefangen, zu lesen«, antwortete ich mit erzwungener Ruhe und unterdrückter Atemlosigkeit.
Meine Äußerung ließ ihn erleichtert durchatmen – und mir bescherte seine Reaktion einen nächsten Adrenalinstoß.
Hatte er etwa Sorge, ich würde seine Geschichte kritisieren? Zweifelte er an seiner Arbeit?
Nein … daran konnte es nicht liegen. Schließlich war Jan ein Poet … die lieblichen Beschreibungen, die Ausschmückung der Sätze … wie gerne hätte ich meine Emotionen und Gedanken in solch delikate Worte gekleidet, wie ihm dies gelang!
»Hast du früher als Schriftsteller gearbeitet?«
Ein zögerliches Nicken seinerseits folgte. »Wie weit bist du?«
»Fast am Ende … Noch zwanzig Seiten.«
Seine Wangen nahmen dieses niedliche Pink an. »Willst du das Buch noch zu Ende lesen? Oder hat es dir nicht gefallen?«
Gütiger Gott!
Dann war ich mit meiner Vermutung doch richtig gelegen?
»Natürlich will ich es weiterlesen.«
Erst recht nach diesem Kuss …
Ohne einen Gedanken an mögliche negative Folgen zu verschwenden, kuschelte ich mich an seinen Leib.
Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich vollkommen leicht und verstanden. Das erste Mal hegte ich keine Zweifel, etwas spontan zu tun.
Das erste Mal.
»Ich wollte heute weitermachen.«
»Wie schön.« Seine gehauchte Erwiderung wie seine zärtlichen ausgesandten Emotionen wischten sämtliche Gedanken beiseite, um eine Welle reiner Liebe über mich hereinbrechen zu lassen.
Ich drückte meine glühende Wange an seine Brust.
Sein Herz schlug genauso wild wie das meine.
Der Geruch von Asphalt, Regen und nasser Erde drang mir in die Nase. Geräusche des prasselnden Regens und gelegentliches Vogelschimpfen vermischten sich mit unverständlichen Gesprächsfetzen der an uns vorüberziehenden Menschen.
Nichts von alldem interessierte mich. Nichts von alldem kümmerte mich.
Denn ich bin endlich angekommen. Meine Reise ist zu Ende.
Dieser fürwahr verrückte Gedanke wurde von Jans gesenkter Stimme verscheucht. »Ist es wohl in Ordnung, dass ich dich küsste?«
»Etwas Schöneres hättest du nicht machen können.«
Abermals hatte ich nicht nachgedacht. Abermals hatte ich mich nicht gefürchtet, offen über meine Gefühle zu sprechen.
Als Antwort schlang er die Arme fester um mich – und Geborgenheit schenkte meiner Seele den so dringend benötigten kostbaren Frieden.
Jan war hier.
Er hatte mich geküsst … dieser wunderschöne Mann hatte mich geküsst. Er hegte Interesse. Er wollte mir nahe sein … ein Mann – der Mann. Dieses einzigartige kostbare Wesen …
Ehe mir dieses Glück vollständig auszukosten erlaubt gewesen war, wurde ich von den Ereignissen der letzten Stunden überrollt – Anna, Herr Urban, Saskia …
Sie zogen mein Innerstes zusammen, raubten mir die eben sachte aufkeimende Hoffnung, endlich glücklich werden zu können.
Wie sollte ich auch jemals glücklich werden …
War ich für Jan überhaupt gut genug? Oder würde er bald erkennen, wie unnütz ich tatsächlich war?
»Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute durchgemacht habe.« Unmöglich etwas dagegen unternehmen zu können, purzelten mir die Worte aus dem Mund. »Ich dachte, ich überlebe den heutigen Tag nicht mehr.«