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Nie zuvor hatte ich darüber gesprochen … weshalb nun?
Zögerlich ließ Jan von mir ab, seine sorgenvollen Augen betrachteten mich intensiv. »Was ist passiert?«
Durfte ich weitersprechen?
Würde Jan mich nicht als eine jammernde alte nach Mitleid verlangende Tante ansehen?
»Meine Arbeit«, erwiderte ich stockend und wischte mir dabei Tränen und Regentropfen aus dem Gesicht. »Ich habe wieder Fehler gemacht … Und dann … dann wollte ich mich einmal rechtfertigen …. und dann wird mir mit der Kündigung gedroht.«
»Mein Gott … das tut mir furchtbar leid.« Ein drittes Mal schlangen seine Arme sich um mich. Und ein drittes Mal presste er sich an mich, wodurch mir diese wunderbaren berauschenden Empfindungen durch die Adern stoben. »Deshalb sahst du solchermaßen fertig aus.«
Ein schrecklich lauter Knall eines in der Nähe einschlagenden Blitzes ließ uns beide heftigst zusammenzucken.
Mein Herz klopfte dermaßen stark, ich fürchtete, einen Infarkt zu erleiden.
Ein Gutes hatte diese Situation dennoch an sich: Die erdrückenden Gefühle waren von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
»Gott … habe ich mich erschreckt.« Vor Schock und Aufregung begann ich zu kichern. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in meine Wohnung gehen. Nicht, dass uns noch ein Blitz streift.«
…
Aber irgendwie hatte dieser uns ohnehin längst gestreift. Ein Blitz der Liebe … damals in der Küche, währenddessen wir uns die Hände geschüttelt hatten.
…
Ich wollte mich von Jan lösen, allerdings mutete dieser an, nicht recht von mir ablassen zu wollen.
»Gehen wir?«, fragte ich, um mein Ansinnen indirekt zum Ausdruck zu bringen.
Seit jeher tat ich mir schwer, jemandem Anweisungen zu geben, und erst recht, eigene Wünsche anzusprechen. Es erschien mir egoistisch, einfach falsch.
Weshalb ich so empfand, wusste ich aber bis heute nicht.
Womöglich, weil ich fürchtete, mit meinen Bedürfnissen Mitmenschen zu bedrängen, belasten oder zu brüskieren?
Er drückte das Gesicht in meinen Nacken. »Ich … ich –« Ein weiterer Donner erklang. Dieses Mal weitaus dumpfer, dennoch laut genug, um mir frisches Adrenalin in die Blutbahn zu pumpen.
Jans Körper indessen erbebte heftig und seine Umarmung verwandelte sich in ein krampfhaftes Klammern.
Konnte es etwa sein …?
»Jan?« Mit behutsamer Beharrlichkeit zog ich ihn zurück. »Hast du … Angst?«
Glühenden Wangen – Augen voller Furcht.
Verhalten nickte er mir zu. »Ja … ja, ich bekomme da richtige Panik.«
…
Eine Tatsache schlug in meinen Verstand ein – wie der Blitz eben.
Darum der eigenartige Ausdruck, als er damals über Gewitter gesprochen hatte!
Und deshalb fühlte ich mich nun selbst dergestalt aufgekratzt! Schließlich ging Jans Panik ungefiltert auf mich über!
Himmelherrgott!
…
Eisige Kälte erfasste mich. Reue überschwemmte mich. Panik erhöhte meinen Puls auf eine schier schmerzhafte Weise.
O mein Gott! O gütiger Gott!
Erst jetzt begriff ich zur Gänze, in welcher Situation Jan sich befand – und wie ich mich verhielt!
Wir standen inmitten eines Gewittersturms, und Jan vermutlich unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch … Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als meine und Jans Verhaltensmuster zu analysieren und über meine Schwierigkeiten in der Arbeit zu jammern!
Was war ich für ein gefühlloser, dummer Mensch!
Hektisch blickte ich mich um, suchte meinen Schirm.
Der Wind hatte ihn ein paar Meter weggeweht.
»Komm mit!« Ich nahm Jans Hand in meine. »Gehen wir nach Hause.«
Schnellstmöglich!
Ich wollte mir nicht ausmalen, welch Ängste er in der letzten halben Stunde hatte ausstehen müssen … und dies alleinig meinetwegen!
Ich fasste nach dem schwarzen Kunststoffgriff und hielt den durchsichtigen Schirm über unsere Köpfe. »Eigentlich ist es längst egal, ob wir den Schirm benutzen oder nicht … Wir sind sowieso bis auf die Knochen nass.«
Ein leises Kichern drang aus Jans Mund. Ungeachtet der Lautstärke brachte es mir beträchtliche Erleichterung.
»Stimmt … aber irgendwie fühle ich mich damit dennoch sicherer.«
Seine erkaltende Hand in meiner haltend eilten wir durch die regendurchfluteten Gassen.
Leute erblickte ich nun keine mehr. Weder verliebte Pärchen noch Pensionisten oder Vertreter. Selbst der Verkehr hatte mindestens um die Hälfte abgenommen.
Von diesen Dingen nahm ich allerdings bloß am Rande Notiz. Jans leuchtender Blick, seine allfälligen spontanen, von Donnergeräuschen hervorgerufenen Umarmungen und die daraus resultierenden prickelnden Gefühle in meinem Leib sowie meine regennasse Brille raubten mir die Sicht auf all diese unwesentlichen Dinge … Dinge, welchen ich zu viel Beachtung geschenkt hatte. Dinge, welche mich traurig gestimmt hatten …
Ein neuer Knall veranlasste Jan, sich stürmisch an mich zu pressen – und mich zu küssen.
Ich musste gestehen, gar so recht verstand ich seine Reaktion nicht mehr, die hochkletternde Geborgenheit wie verstandabdrehenden Gefühlsstürme waren dafür einfach viel zu schön, um lange genug darüber nachgrübeln zu können oder zu wollen.
Langsam, widerwillig, ja sich regelrecht dazu zwingend ließ er von mir ab.
Hätte der zärtliche Kuss mir nicht bereits den Atem geraubt, spätestens angesichts dieser sinnlichen Reaktion hätte ich nach Luft schnappen müssen.
»Hat dir das ein wenig die Furcht genommen?«, fragte ich, alsbald meine Atmung sich teilweise beruhigt hatte.
Offensichtlich nahm diese Küsserei mir sämtliche Hemmungen, an welchen ich üblicherweise litt …
Ein liebevoll scheues wie verschmitztes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Ja, absolut. Da können nicht einmal die Geschichten meiner Großmutter mithalten.«
Ich konnte mich partout nicht davon abhalten, loszukichern.
Jan stimmte mit ein.
Erst ein weiterer Donner brachte uns dazu, innezuhalten. Und letztlich klammerte Jan sich wieder Schutz suchend an mich und verlangte meine Lippen, welche ich ihm gerne und mit rasendem Herzen darreichte.
Und dieses Mal hatte mich tatsächlich ein Blitz getroffen … nicht bloß ins Herz – nein, mitten in die Seele. Vollkommene Sicherheit legte sich um mich. Jans meinen Nacken kraulende Hände lösten wohlig-warme Schauer aus. Seine mich neckisch wie zögerlich erforschende Zunge brachte mich zum Beben und meinen Unterleib zum Glühen.
Es war unfasslich.
All diese betörende Liebe, diese zärtliche Intimität tauschten wir umringt von Sturm und Chaos in nahezu seliger Ruhe aus …
Konnte solch ein magischer Moment eigentlich noch schöner werden?
Ja.
Jans glühende Haut auf meiner, sein kaum vernehmbares Seufzen wie sein sachtes aufwallendes Zittern vermochten es.
Einige wundervolle Minuten später ließen wir voneinander ab.
Ich schaute tief in seine strahlenden Augen. »Machst du das jetzt, bis wir zu Hause angekommen sind?«
»Selbstverständlich«, entgegnete er wie aus der Pistole geschossen, einzig um stockend und errötend fortzufahren: »… Dann … Dann … Dann habe ich wenigstens eine Ausrede … um dich immer wieder zu küssen.«
Eine sich wie Lava anfühlende Hitze preschte mir übers Gesicht.
Ich hatte wahrlich mit vielem gerechnet, jedoch niemals mit einer derart schlagfertigen wie betörenden Antwort.
Vor allem nicht aus Jans Mund.
Er war mindestens ebenso schüchtern wie ich … Woher kam diese Wesensänderung?
Ging es ihm etwa wie mir? Nahmen seine Zweifel ebenfalls ab?
Peinlich berührt senkte ich den Blick. »Das ist wohl die schönste Ausrede, die ich jemals gehört habe.«
Ein Donner hallte an den Wänden der Wohnhäuser wider, veranlasste Jan, sich fester an mich zu pressen. »Solchermaßen schön die Vorstellung auch scheint, dich immer und immer wieder zu küssen … Beträchtlich lieber wäre mir dennoch, wir würden uns wieder auf den Weg machen.«
»Ja, sicher doch.« Wir ließen voneinander ab. »Mir ist sowieso eiskalt. Dir auch?«
Mit einem scheuen »Mhm« mir antwortend nahm er meine Hand lieblich in seine.
»Dann beeilen wir uns«, erwiderte ich. »Du sollst dich nicht noch mehr fürchten müssen.«

Keine zehn Minuten später erreichten wir meine trockene, vom vormittäglichen Sonnenschein erwärmte und nach Vanille duftende Wohnung.
»Willst du dich heiß runterduschen?«
In Jans Wangen kletterte dieses unaussprechlich niedliche Pink. »Ja … sehr gern.«
Vor Kälte bibbernd hauchte er mir einen schnellen Kuss auf die Lippen.
Obgleich seiner Kürze fühlte ich mich wie berauscht.
»Aber willst du nicht zuerst gehen? Du bist ebenfalls durch und durch nass.«
»Nein … geh nur. So kalt ist mir nicht.« Ich blickte auf das auf meinem Körper klebende Kleid herab. »Es tropft nicht mehr … Bis du fertig geduscht hast, kann ich mich leicht gedulden.«
Ein neuer schwindelerregender Kuss folgte.
Wenn dies so weiterginge, würde es mir nicht mehr lange gelingen, mich auf den Beinen zu halten.
Nun … dafür war mir jetzt umso wärmer geworden …
Keuchend zeigte ich zur rechts gelegenen Tür. »Das Bad befindet sich gleich da.«
»Vielen Dank.«
Er schenkte mir einen dritten Kuss, darauf ein zärtliches Lächeln, ehe er sichtlich widerwillig davonhuschte.
Leicht schwindelig sah ich ihm hinterher.
Ich fühlte mich wie in einem zuckersüßen Tagtraum. Alleine eine Tatsache bestätigte mir, nicht zu schlafen: Niemals hätte ich etwas derart Wunderschönes zu träumen vermocht. Weder in der Vergangenheit noch in Zukunft.
Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich abermals zu zweifeln begann.
Passierte dies wahrhaftig?
Konnte ich mich tatsächlich darauf verlassen, mir dieses Geschehnis nicht bloß einzubilden?
Ich brauchte kein psychologisches Studium, um zu wissen, wie leicht die vielen schrecklichen Erlebnisse des heutigen Tages es vollbracht hätten, mir eine Psychose auszulösen.
Bilder entstanden in meinem vernebelten Verstand.
Womöglich lag ich längst auf der geschlossenen Anstalt – mit Psychopharmaka vollgepumpt, die mir diese wundervollen Träume schenkten …
Je intensiver ich darüber nachdachte, desto logischer erschien die Vorstellung.
In den vergangenen Monaten hatte ich mich nahezu jeden Tag gewundert, wie ich die nötige Kraft aufbrachte, um aus dem Bett zu klettern und arbeiten zu gehen. Wie oft hatte ich mir gewünscht, einfach tot umzufallen – oder eines Abends einzuschlafen und nicht mehr zu erwachen … endlich dem Schmerz zu entfliehen?
Zu groß war die Bürde der Einsamkeit geworden. Zu kalt fühlte sich die Welt an. Zu laut wurden ihre Vorwürfe.
Und nun sollte da aus heiterem Himmel Jan auftauchen und mir einen hollywoodreifen Kuss geben? Im strömenden Regen … und zu exakt der Zeit, in welcher ich es am allernötigsten brauchte?
Noch nie zuvor war mir Derartiges widerfahren – nicht einmal annähernd. Wenn ich mich auf den Knien befand, wurde ich üblicherweise weiter zu Boden gedrückt. Hilfe hatte ich mir nie erhoffen können, geschweige denn dürfen.
Das Gefühl seiner Lippen … seine zärtlichen Hände … Das konnte gar nicht real sein, oder?
Während meine Gedanken immer weitere Kreise zogen, trocknete ich meine Brille. Darauffolgend machte ich uns Rühreier mit Speckwürfeln und Dinkelbrot.
Vielleicht würde ein anständiges Essen helfen, meinen Verstand in die richtigen Bahnen zu lenken …
Ich war eben dabei, die gefüllten Teller auf den Tisch zu stellen, da rief Jan zögerlich meinen Namen.
Weil Wohnzimmer, Küche und Vorzimmer zu einem einzigen Raum zusammengefasst worden waren, brauchte ich mich bloß umzudrehen, um Jans Kopf zu erblicken, welcher scheu hinter der Badtür hervorlugte.
»Liza … ich brauche kurz deine Hilfe.«
Er klang ziemlich verzweifelt.
Was war wohl geschehen?
Ich eilte zu ihm. »Ist etwas passiert?«
Die feuchten Haare hingen ihm schwer ins Gesicht, ein unsicheres Lächeln brachte seine wunderschönen hellgrünen Augen zum Leuchten, und seine glühenden Wangen taten ihr Übriges, um Jan einen atemberaubenden honigsüßen wie verlorenen Eindruck zu vermitteln.
»Ich … ich habe nichts zum Anziehen.« Während er sprach, senkte er den Kopf – und mir wurde es sekündlich mulmiger zumute.
Himmel!
Ich hatte vollkommen vergessen, ihm etwas Trockenes zum Überziehen zu geben!
»Herrgott!« Mein unüberlegter Ausruf ließ Jan merklich zusammenzucken. »Es tut mir furchtbar leid! Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dir etwas herzurichten.«
Ich überlegte fieberhaft.
Was konnte ich ihm geben? Weder besaß ich Herrenunterwäsche noch eine Hose oder ein Hemd, welches ihm ob seiner Größe gepasst hätte. Nicht einmal der alte Trainingsanzug meines Vaters war da lang genug …
Während ich mir das Gehirn zermarterte, wanderte mein Blick über das Türblatt, weiter zum Türstock und zurück.
Jählings brachte mich ein kribbelnder mir durch die Adern jagender Adrenalinsturm dazu, innezuhalten.
…
Nein – mir war keine rettende Idee für Jans Kleiderproblem in den Sinn gekommen.
Nein – ebenso wenig war mir eingefallen, in der Arbeit einen Beleg falsch abgeheftet zu haben.
Einzig und allein eine pikante, mir gewahr gewordene Tatsache hatte Schuld daran. Die Tatsache, dass lediglich eine Tür es war, welche mich von einem jungen, wunderschönen und splitterfasernackten Mann trennte … Ein nackter Mann, welcher heiß geduscht hatte. Ein nackter Mann, welcher mich eben erst geküsst hatte …
»Ich … ich weiß nicht, was ich dir bringen soll.« Ich schluckte, zögerte. »Du bist viel größer als ich … und ich besitze keine Herrenwäsche.«
…
Bilder drangen aus irgendwelchen Untiefen meines verwirrten Geistes empor.
O mein Gott … er konnte ja schlecht einen meiner Slips anziehen … oder gänzlich nackt in der Wohnung herumlaufen …
Je länger ich nachdachte, umso unangenehmer wurde es mir.
Seine Züge dagegen entspannten sich. »Das macht nichts … Hast du vielleicht einen langen Bademantel? Das reicht vollkommen.«
Ein Bademantel!
Natürlich!
Weshalb war mir dies nicht selbst eingefallen?
»Ja sicherlich.« Mit anwachsender Erleichterung machte ich auf dem Absatz kehrt. »Ich bringe ihn dir sofort.«
»Nur keine Hast«, rief er mir hinterher.
Ich trat ins Schlafzimmer, fasste nach dem langen, weißen unaussprechlich kuscheligen Morgenmantel und hastete zurück.
»Hier bitte … ich hoffe, er passt.«
Dankend und mit ungleich leuchtenderen Augen zog er ihn durch den Türspalt. »Der ist perfekt … und überaus weich.«
Ich lächelte. »Deshalb habe ich ihn gekauft. Je weicher, desto besser.«
Er erwiderte mein Lächeln, verschwand dann mit den Worten »Warte kurz. Ich ziehe ihn nur schnell über« gänzlich hinter der Tür, ehe er sie komplett öffnete und zu mir trat, mich überraschend in den Arm nahm und seine Lippen sänftiglich auf meine legte. »Vielen Dank.«
Schluckend sowie diese unbezwingbaren Gefühlsstürme unterdrücken versuchend, nickte ich ihm zu.
Verhielten Liebespaare sich auf diese Weise? Tauschten sie bereits Zärtlichkeiten aus, wenn sie sich wenige Minuten nicht gesehen hatten?
Jan schaute Richtung Küchentisch. »Du hast gekocht?«
»Ja …« Ich räusperte mich. »Eierspeise. Hast du Hunger?«
Die Lider geschlossen, atmete er tief ein. »Ja … der Geruch alleine lässt mir bereits das Wasser im Munde zusammenlaufen.«
Ich wollte vorangehen, seine nach wie vor um mich geschlungen Arme hielten mich allerdings erfolgreich davon ab.
»Gehen wir?«
»Ja.«
…
»Dann … dann musst du mich loslassen.«
Ein sanftes Lächeln huschte ihm über die Lippen. »Aber will ich dich nicht loslassen.« Sekunde um Sekunde musterte er mich intensiver. »Es fühlt sich unbeschreiblich an, dich festzuhalten.« Dies gesprochen, trafen seine Lippen neuerlich auf meine. »So lange habe ich gehofft, gewartet, gebetet, dich in meinen Armen halten zu dürfen … so unbeschreiblich lange.« Seine Umarmung verstärkte sich, seine Zunge drang in meinen Mund. Das vierte Mal heute …
Ich rang um Fassung, Selbstkontrolle und Luft.
Ein jeder seiner Küsse war zärtlicher als der Vorherige, eine jede Berührung inniger, lieblicher, bedächtiger.
Geborgenheit, Schutz, Verständnis füllten mich aus – Emotionen, welche üblicherweise allein durch meine Eltern erweckt wurden.
»Ich will dich nie mehr loslassen«, flüsterte er. »Nie mehr … nie mehr.«
Aus halb geschlossenen Augenlidern ihn anblickend vergrub ich die Finger im Bademantel. »Ich ebenso wenig –« Ich wollte weitersprechen, ein unerwartet stürmischer Kuss machte diesem Vorhaben jedoch ein jähes Ende und zwang mich in weiterer Folge wortwörtlich in die Knie.
Zügellose Leidenschaft – Jans Hände überall, seine Zunge fordernd wie verspielt – welche Alternativen wären mir da geblieben?
Somit gaben meine Beine nach.
Alleine Jans flotten Eingreifen war es zu verdanken, dass ich mich nicht verletzte, führte er mich doch sachte zu Boden.
»Hast du dir wehgetan?« Liebevoll nahm er mein Gesicht in seine Hände. »Ist dir etwas geschehen?«
»Nein, alles in Ordnung … Und bei dir?«
Erleichterung spiegelte sich in seinem ätherischen Antlitz wider. »Mir geht es auch gut.« Abrupt hielt er inne, errötete. »Ist deine Reaktion meinem Kuss geschuldet? … Hat er dir solchermaßen gefallen? Oder … oder lag es an etwas gänzlich anderem, das dich in die Knie zwang?«
Noch eine solche freche Bemerkung …
Beschämt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf seine glatte Brust, welche unsicher anmutend aus dem locker sitzenden Bademantel hervor blitzte. »Ich denke … du weißt die Antwort.«
»Dann werde ich dir solche Küsse zukünftig ausschließlich im Sitzen oder Liegen geben.«
Meine Wangen erglühten. Mein Herz setzte für die nächsten Schläge aus.
Meinte er damit … Wollte er … Wann wollte er … Wie sollte das …
O gütiger Gott!
Vor Scham doch ebenso sanft aufkommender Erregung drückte ich meine heiße Stirn an seinen Oberkörper.
Das wurde sekündlich unglaublicher …
Er wollte mir noch näher kommen?!
War seine Zuneigung wahrhaftig dergestalt groß, wie ich sie mir stets von einem Mann gewünscht hatte?
»Es tut mir leid«, hörte ich ihn wispern. »Habe ich dich damit vor den Kopf gestoßen?«
Ich wusste, ich musste etwas erwidern … Fatalerweise hatte meine Schamhaftigkeit mittlerweile Wolkenkratzer hohe Ausmaße angenommen, wodurch es mir auf Biegen und Brechen nicht gelang, etwas hervorzubringen.
Um Jan wenigstens irgendwie Antwort zu geben, schüttelte ich mein Haupt – durchwegs betend, ihn mit meiner törichten Reaktion nicht zu beleidigen.
»Dann findest du mein Gesagtes nicht anstößig?«
Ein Beben ergriff Besitz von mir.
Himmel!
Weshalb musste ich so absurd reagieren?! Da passierte mir eben das größte Glück der Welt – und ich verging vor Verlegenheit …
»Nein.« Von uns beiden war ich über meine hervorgepresste Antwort wahrscheinlich am meisten erstaunt. »Es ist einfach wunderschön.«
»Wirklich?« Behutsam zog er mich ein Stück zurück, und ich brachte es trotz meines Gefühlschaos zusammen, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Es gefällt dir tatsächlich.« Er strahlte vor Glück. »Mein Gott! Du bist wirklich wie sie.«
Wie?
Was meinte er damit? Wie sollte ich denn sein?
»Ich … ich verstehe nicht ganz.«
»Wie Christina … mein Protagonist in meinem Buch.«
Mir wurde es heiß und heißer … und noch etwas heißer. »Wie …?! Ich … du …«
Ein unsicheres Lächeln erschien. »Du erinnerst mich unwahrscheinlich an sie … Damals an der Rezeption … als ich dich das erste Mal sah … da war es mir vorgekommen, du wärest direkt aus meinem Roman gehüpft.« Jan schüttelte den Kopf, den Blick auf die Seite gerichtet – er machte den Anschein, es selbst nicht recht glauben zu können, was er da von sich gab. »Ich dachte, ich erleide einen Herzschlag.« Äußerst langsam fanden seine Augen zu mir zurück. »Weißt du … dein Aussehen, deine Mimik, deine Gestik … so stellte ich mir stets Christina vor.«
»Aber …« Ich suchte Begriffe. Ich suchte meinen Verstand. Ich suchte eine Erklärung. Nichts davon war mir möglich zu finden. »Aber das kann gar nicht sein …«
Unvermittelte anschwellende Verunsicherung legte sich auf seine Züge. »Bitte denke jetzt nicht, ich sei ein durchgeknallter Psychopath … Bitte.« Sein flehender Ausdruck löste eine über meinen gesamten Körper rasende Gänsehaut aus.
»Ich bin nicht verrückt … wirklich nicht … Ich versuchte diesen Eindruck von dir ohnehin zu unterdrücken. Die gesamte Zeit!« Er überlegte. »Erst wollte ich dich näher kennenlernen. Ich wollte wissen, wie du bist. Aber dann … dann haben wir gemeinsam gekocht … Und da wusste ich, du bist es.« Sein Blick festigte sich. »… du … du bist meine Traumfrau … Du bist diejenige, welche ich mein Leben lang suchte.«
Seit unserem ersten Kuss hatte ich tausend unbekannte Gefühlsregungen erfahren dürfen – doch keine einzige war annähernd mit meinem momentanen Zustand vergleichbar.
Es war kein Prickeln, keine Geborgenheit, auch kein Adrenalin – es war eine Art Dankbarkeit vermischt mit Glückseligkeit, Erregung, Freude und Wärme, die sich wie ein Lauffeuer in mir ausbreitete.
…
Nach einigen Momenten des Sammelns überkam mich die nüchterne Gewissheit.
Die letzte Stunde – sie war nicht real. Sie konnte nicht real sein!
Spätestens nach dieser letzten Aussage Jans musste mir klar sein, all dies wahrhaftig zu träumen. Niemals hätte ein fremder Mann mir ein Liebesgeständnis gemacht. Besonders nicht mir! Und erst recht nicht kniend vor der Badezimmertür …
Ja, bestimmt lag ich nach meinem ersten Selbstmordversuch im Krankenhaus und fantasierte mir diese wunderbaren Dinge zusammen.
»Liza?«
Ich wandte mich Jans engelsgleichem Gesicht zu. »Ja?«
»Du glaubst mir nicht, oder?«
»Ich glaube, ich träume das alles … Ich denke, du bist nicht real … Du kannst gar nicht real sein. Jemand, der so wundervoll ist, der solch schöne Dinge sagt … den kann es nicht geben.«
»Aber ich bin real.« Er gab mir einen mich schwindelig machenden Kuss. »Glaubst du, diese Situation kann sich solchermaßen gut anfühlen, wenn man sie träumt?«
Ich blinzelte.
»Schließlich weißt du gar nicht, wie es sich anfühlt, hab ich recht?«
…
Eiseskälte legte sich um mich.
Woher …?
»Da kannst du praktisch nicht davon träumen … da dir die nötige Erfahrung dazu fehlt, welche dein Gehirn benötigt, um dir solch einen intensiven Traum zu bescheren.«
…
Woher wusste er über meine Unerfahrenheit Bescheid?
Ehe ich weiterzudenken in der Lage gewesen wäre, tanzten seine Lippen längst wieder über meine und verwandelten sämtliche Kälte in brennende Hitze. »Du fragst dich bestimmt, woher ich das weiß …« Jan setzte seine Liebkosung fort, intensivierte sie, brachte mich dazu, leise aufzuseufzen. Diese Situation war gleichermaßen peinlich wie erregend, berauschend wie beängstigend.
»Ich träume«, brachte ich erstickend hervor. »… Dass du es weißt, ist Beweis genug.«
»Ich weiß es«, erwiderte er raunend und meine Nase mit seiner anstupsend. »Weil es bei einer solch kostbaren zärtlichen Seele wie dir gar nicht anders sein kann … Du strahlst es aus. Man sieht dir deine Reinheit an. Ein jeder halbwegs vernünftige Mann muss dies sehen.«
Er hatte es bemerkt? … Man konnte es sehen?! Wie sahen mich dann –
Seine Lippen und darauffolgend seine auf meine treffende Zunge beraubten mich all meiner sich auftuenden Fragen, um mir stattdessen heftige Gefühlswellen durch meinen zitternden von Jans heißen Händen sorgfältig erforschenden Leib zu schicken und mir darüber hinaus hocherotische wie beschämbare Gedanken zu entfesseln: Wie würde es sich anfühlen, wenn er mir noch näher kam? Wie würde es sein, neben ihm zu liegen … uns zu vereinigen …